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So weit zwei Räder tragen

01.09.2012
Erschöpfte Radler auf einem Abschnitt einer NeverStop-Tour im Jahre 2011, die auf den 3250 Meter hohen Mt. Hehuan führte. (Foto: Lynn F. LEE)
Im Fahrradgewerbe ist Taiwan seit langem eine Großmacht. Die internationale Fahrradmesse Taipeh, die seit 1988 alljährlich im Frühling stattfindet, ist eine der drei größten Fahrrad-Handelsmessen auf diesem Planeten. Giant Manufacturing Co. Ltd. ist nicht nur der größte Fahrradhersteller Taiwans, sondern einer der größten weltweit. Trotz des Erfolges des Gewerbes auf der internationalen Bühne scheint die Beliebtheit von Radfahren an sich in Taiwan verglichen mit anderen Ländern seit vielen Jahren unverhältnismäßig schwach zu sein.

Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich da indes ein Wandel ab, weil sich eine wachsende Zahl von Taiwanern dafür interessiert, ihre Lebensqualität durch Sport zu verbessern. Da sich in Taiwan immer mehr Menschen auf Stahlrösser schwingen, prüfen die Zentralregierung und die Lokalverwaltungen Wege, diesen gesunden und umweltfreundlichen Trend weiter zu fördern. Der Rat für Sportangelegenheiten (Sports Affairs Council, SAC), eine Behörde in Ministeriumsrang, arbeitete mit der Bau- und Planungsbehörde (Construction and Planning Agency, CPA) im Innenministerium zusammen, um vorhandene Fahrradwege an ufernahen Parks zu verbessern und zusätzlich neue anzulegen. In Taipeh setzte die Schnellbahngesellschaft Taipei Rapid Transit Corp. 2004 ein System um, bei dem man an Wochenenden und Feiertagen Fahrräder in den Schnellbahnwaggons mitführen darf. Im Jahr darauf wurde das Radrennen Tour de Taiwan vom Weltradsportverband (Union Cycliste Internationale, UCI) — der globalen Organisation, welche für diese Sportart zuständig ist — offiziell anerkannt, und das Rennen wurde 2006 mit der internationalen Fahrradmesse Taipeh zusammengelegt.

Zu jenem Zeitpunkt bat der Sportverband der Stadt Taipeh James J. Peng, im Radfahrverein des Städtischen Sportverbandes Taipeh den Posten des Direktors zu übernehmen. Peng ist ein begeisterter Radler, der von 1968 bis 1970 Mitglied der Radler-Nationalmannschaft der Republik China war, außerdem diente er acht Jahre lang als Generalsekretär des Radfahrvereins Chinese Taipei neben King Liu (劉金標), dem Gründer von Giant, überdies organisierte er 1996 das erste taiwanische Mountain Bike-Rennen — den zweiten Mountain Bike-Asiencup — im südtaiwanischen Tainan. Zusammen mit anderen passionierten Radlern entwickelte Peng die Idee von Selbst-Härtetests in Form von Bergauf-Touren, bei denen die Teilnehmer steile Bergstraßen bewältigen müssen, und von Langstrecken-Härtetests.

Prüfung der Kraft und Ausdauer

„Taiwan hatte bereits mehr als genug Straßenrennen für Radler, die ihre Kräfte messen möchten“, weiß Peng. „Die Teilnehmerstruktur bei solchen Rennen war allerdings fast immer gleich: Eine kleine Gruppe einheimischer Taiwaner, überwiegend Männer, innerhalb eines sehr starren Altersspektrums. Es gab keine Schauplätze für die durchschnittlichen Radler, die einfach nur eine gute, anstrengende Fahrt unternehmen wollten. Deswegen wollten wir etwas Anderes machen und ein Ereignis schaffen, wo sich jeder mit Interesse am Radfahren selbst auf die Probe stellen und die eigene Kraft und Ausdauer testen konnte, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Nationalität.“

Die erste Bergstraßentour gegen Ende 2006 ging über eine 75 Kilometer lange Strecke in Taipehs Nationalpark Yangmingshan. Die Fahrt lockte gut 400 Teilnehmer an und wurde als Erfolg bewertet.

Anfang 2007 gründete und leitete Peng zwei Organisationen unter dem Radfahrverein Chinese Taipei, um die Verpflichtungen zu bewältigen, die mit dem Ausrichten dieser neuen Art von Radfahrveranstaltung einhergingen — den Taiwan-Fahrradverein und den Taipeh-Radfahrverein. Er konnte einen anderen Radfahrfreund namens Chen Ming-zhi dafür gewinnen, das Amt des Generalsekretärs zu übernehmen. Die Veranstaltungen selbst erhielten die Bezeichnung NeverStop. Die meisten Veranstaltungen der Gruppe werden zusammen mit dem SAC, der CPA, dem Tourismusamt oder dem Olympischen Komitee Chinese Taipei sowie Lokalverwaltungsbehörden der Gegenden, wo die Rennen stattfinden, organisiert. Die erste Langstrecken-Veranstaltung unterm NeverStop-Banner ging über 200 Kilometer und fand 2007 im osttaiwanischen Hualien statt.

„Es gab drei Haupt-Erwägungen“, berichtet Peng. „Erstens musste die Strecke bequem zu fahren sein, vorzugsweise ohne zu viel Verkehr. Zweitens brauchte man als Abfahrtsort eine Zone, die groß genug war, um die mögliche Zahl von teilnehmenden Radlern unterzubringen. Zu guter Letzt sollte die Strecke im Idealfall eine schöne Landschaft aufweisen, damit die 200 Kilometer lange Fahrt für die Beteiligten interessant und lohnend wäre.“ Bei der Veranstaltung waren rund 800 Radler dabei, ungefähr doppelt so viele wie bei der Yangmingshan-Herausforderung.

Radrennfahrer kurz nach dem Start zur Tour de Taiwan in Taipeh im März dieses Jahres. Radfahren ist in den jüngsten Jahren in Taiwan immer beliebter geworden. (Foto: Central News Agency)

Im gleichen Jahr arrangierte NeverStop die zweite offizielle Veranstaltung der Gruppe, die Explore Tataka-Herausforderung. Diese 70 Kilometer lange Fahrt im zentraltaiwanischen Landkreis Nantou enthielt einen Bergauf-Abschnitt durch den Yushan-Nationalpark auf eine Höhe bis zu 2628 Metern über dem Meeresspiegel. Die Zahl der Anmeldungen für diese zweite NeverStop-Veranstaltung schnellte auf über 2000 in die Höhe.

„NeverStop lockt zum Teil deswegen so viele Teilnehmer an, weil da so eine tolle Atmosphäre herrscht, um Freundschaften zu schließen und Kameradschaft aufzubauen“, erläutert Peng. „Es ist das genaue Gegenteil eines Wettrennens. Bei einem Rennen sind die anderen Radler ,Feinde‘, und man kann nur dann gewinnen, wenn man alle anderen besiegt. Bei einer NeverStop-Veranstaltung dagegen ist der ,Feind‘ man selbst, und alle anderen Mitfahrer sind Personen, die genau der gleichen Herausforderung gegenüber stehen. Anstatt gegen die anderen zu kämpfen, kämpft man also nur gegen sich selbst. Deswegen ermuntern Fremde einander oder halten mitunter sogar an und helfen anderen, etwa Leuten mit einem Platten. Solchen Geist oder Edelmut findet man nicht bei Radrennen.“

Alice Chang, die seit rund zwei Jahren in Taiwan lebt und sowohl die taiwanische als auch die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt, sieht das ebenso. „Mein Lieblingsteil der Veranstaltung waren die entschlossenen Blicke auf den Gesichtern der Menschen, wenn sie vorbeifuhren“, erzählt sie. „Man spürt ihre Erschöpfung, doch alle kämpften sich weiter und feuerten einander an. Diese Willenskraft und Ausdauer waren wirklich eine Inspiration.“ Im vergangenen Jahr schaffte Chang 140 Kilometer einer 200 Kilometer langen Route an der zentraltaiwanischen Westküste von Dajia (Stadt Taichung) zur südtaiwanischen Gemeinde Taixi (Landkreis Yunlin). Als ihr klar wurde, dass sie das Ziel vor der vorgegebenen abendlichen Abschlusszeit nicht würde erreichen können, beendete sie ihre Fahrt. Chang war trotzdem stolz auf ihre Leistung, weil sie in ihrem Leben vorher noch nie eine so lange Strecke am Stück geradelt war, und verkündet: „Ich würde wieder an NeverStop teilnehmen, denn ich liebe die Herausforderung.“

Bis Ende 2007 hatten vier NeverStop-Veranstaltungen stattgefunden, und die Organisatoren begannen, über Wege nachzudenken, neue Herausforderungen anzubieten. Im März 2008 fand in Hualien das erste 300 Kilometer-Ereignis statt, das sich über zwei Tage hinzog und bei dem die Teilnehmer überwiegend nachts radelten, um der Hitze und dem Verkehr auszuweichen. Im Oktober 2009 gab es das erste 400 Kilometer-Ereignis auf einer Route, welche den größten Teil von Taiwans Nordwestküste umspannte und sich von Wanli in New Taipei City im Norden bis Dajia in Taichung am südlichen Ende erstreckte. Die Zahl der Fahrten wurde erhöht — 2008 fanden fünf NeverStop-Ereignisse statt, 2009 waren es acht, 2010 zehn und 2011 elf. Die Zahl der Teilnehmer war durchweg vierstellig und erreichte mitunter 7000, besonders groß war der Andrang bei populären Fahrtzielen wie Yangmingshan und Hualien. „Die Anmeldung von Mannschaften nimmt außerdem verglichen mit der Anmeldung von Einzelpersonen stark zu, und das ist gut“, urteilt Peng. „Wenn Radler sich als Mannschaft anmelden, ist es eher wahrscheinlich, dass die einzelnen Mitglieder der Mannschaft die Tour alle zu Ende fahren, und überhaupt ist es einfach schöner, wenn man auf die Unterstützung und Ermutigung der Teamkameraden, die einen vorantreiben, zählen kann, anstatt es allein zu versuchen.“

Im Januar 2009 beteiligten sich die NeverStop-Organisatoren am Sportkarneval zum Neujahrsfest in Taipeh. Die Veranstaltung wurde vom SAC und dem Sportverband der Republik China ausgerichtet, um der allgemeinen Öffentlichkeit verschiedene Sportarten vorzustellen. „Aus Platzgründen kamen wir zu dem Schluss, dass es am besten wäre, die Menschen mit Mountain Biking bekannt zu machen, also gestaltete unser Team einen kleinen künstlichen Hindernis-Parcours, den die Radler durchfahren konnten“, berichtet Peng.

Die Liste der Erwägungen zum Ausrichten einer NeverStop-Veranstaltung wurde um einen vierten Aspekt ergänzt: Umweltbewusstsein. „Menschen, die Rad fahren, neigen dazu, ,grüner‘ zu denken als die Durchschnittsperson, die kein Fahrrad benutzt“, spekuliert Chen Ming-zhi vom Taiwan-Fahrradverein und Taipeh-Radfahrverein. „Deswegen versuchen wir immer, Ereignisse auf der Grundlage von Umweltfreundlichkeit zu planen.“

Den ökologischen Aspekt bringt auch Peng zur Sprache: „Wir verschwenden nicht tonnenweise Papier, um Anmeldeformulare oder Werbezettel an Teilnehmer zu verschicken. Wir stützen uns für die Werbung und Anmeldung komplett aufs Internet.“ Die Organisatoren bevorzugen überdies die Anschaffung eigener großer Trinkwassercontainer, an denen die Teilnehmenden ihre Wasserflaschen auffüllen können, denn die meisten Sponsoren stellen lediglich Trinkwasser in individuellen Einwegflaschen zur Verfügung, die hinterher auf dem Müll landen.

Die Nutzung des Internet — in erster Linie die NeverStop-Website — und Mundpropaganda haben jedoch ihre Beschränkungen. Eric Mah, ein US-Amerikaner, der seit über zehn Jahren in Taiwan lebt, arbeitete die jüngsten vier Jahre im einheimischen Fahrradgewerbe, radelt regelmäßig und nahm an zwei 200 Kilometer-Ereignissen teil. Von der Organisation erfuhr er durch einen Freund. „Ohne ihn hätte ich nicht davon gewusst“, sagt er. „Ich denke, die Organisatoren könnten bei Marketing und Werbung für ihre Ereignisse mehr tun, entweder durch Aushänge in Fahrradgeschäften oder Werbung an öffentlichen Plätzen.“

Die Startzone für eine NeverStop-Tour im vergangenen Jahr im nordtaiwanischen Landkreis Miaoli. Für die Organisatoren ist es nicht immer ein leichtes Unterfangen, eine Startzone zu finden, die für mehrere Tausend Teilnehmer groß genug ist. (Foto: Lynn F. LEE)

Blick auf die Umwelt

Trotzdem wird der Schwerpunkt Umwelt wahrscheinlich ein wichtiger Teil der Ereignisse bleiben. „Das ist einer der Gründe, warum wir ernsthaft darüber nachdenken, unser erstes Südtaiwan-Ereignis in Pingtung auszurichten, einer Gegend, die im August 2009 schwer vom Taifun Morakot in Mitleidenschaft gezogen worden war“, verrät Peng. „Anzeichen der Hochwasserschäden sind immer noch erkennbar, und man kann Menschen sehen, die nach wie vor in Notunterkünften hausen. Auf diese Weise könnten NeverStop-Teilnehmer nicht nur schöne Naturlandschaft bewundern, sondern zudem neuen Respekt vor der Natur entwickeln und erkennen, wie wichtig der Schutz der Umwelt ist.“

Eine schwierige Aufgabe bei der Suche nach neuen Veranstaltungsorten ist laut Peng, sich die Unterstützung der Lokalverwaltungen zu sichern. „Die erste Frage, welche Lokalverwaltungen stellen, wenn wir einen Vorschlag versenden, ein NeverStop-Ereignis auszurichten, lautet: ,Welche Kosten werden für uns anfallen?‘“, kolportiert der Direktor. „Glücklicherweise sind die Anmeldegebühren und Produkt-Sponsorengelder mehr als ausreichend, alle Kosten zu decken, und von den Lokalverwaltungen brauchen wir an Hilfe in erster Linie polizeiliche Unterstützung für die Verkehrskontrolle und vielleicht nebenbei noch einen Krankenwagen in Bereitschaft für Notfälle, oder Arbeitskräfte, die nach Abschluss der Veranstaltung Abfall beseitigen. In vielen Fällen läuft es aber darauf hinaus, dass wir die zusätzlichen Krankenwagen selbst bezahlen oder extra Leute zur Abfallbeseitigung anheuern, weil die Lokalverwaltungen nicht genügend Unterstützung bieten können.“

Tatsächlich hat sich von allen Regionen in Taiwan, wo NeverStop-Fahrten stattfanden, nur die Verwaltung des Landkreises Nantou aktiv um eine Wiederkehr der Veranstaltung bemüht, enthüllt Peng. „Ich denke, Nantous Enthusiasmus ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Gegend überwiegend landwirtschaftlich ist, deswegen kann die Verwaltung zusätzliche Einkünfte durch Fremdenverkehr gebrauchen“, mutmaßt Chen Ming-zhi. „Sie haben gemerkt, dass viele Radfahrer nicht nur anreisen, um an dem Ereignis selbst teilzunehmen, sondern im Vorfeld mehrere Ausflüge dorthin unternehmen, so dass sie sich mit der Strecke vertraut machen oder Versuchsfahrten unternehmen können. Viele Radler bringen außerdem ihre Familie mit, um hinterher die Touristenattraktionen der Gegend auszukundschaften.“

Jian Ming-biou ist Sachbearbeiter in der Bildungsabteilung der Kreisverwaltung Nantou und zuständig für die Zusammenarbeit mit NeverStop, seit 2007 dort das erste Ereignis stattfand. „Die NeverStop-Organisatoren sind außerordentlich gut dabei, diese Veranstaltungen mit Tausenden von Teilnehmern zu arrangieren, die Kreisverwaltung Nantou mit ihren begrenzten Ressourcen würde das allein wahrscheinlich nicht schaffen“, bekennt Jian. „Solche Ereignisse sind für alle Beteiligten vorteilhaft — die Radler können sich an der majestätischen Schönheit Zentraltaiwans erfreuen, und die örtlichen Firmen und der Fremdenverkehr profitieren nicht unerheblich vom Zustrom der Athleten.“

In Zukunft hofft Peng, Querfeldein-Ereignisse einführen zu können, eine Mischform aus Straßenrennen und Berg-Radrennen. „In Taiwan gibt es keine Querfeldein-Rennen, deswegen wäre NeverStop da ein Pionier“, sinniert er. „Außerdem sind Querfeldein-Ereignisse leichter zu organisieren, denn die Routen sind kompakt und können in einem engeren Umfeld ausgerichtet werden; die Uferparks am Keelung-Fluss und Danshui-Fluss [in Taipeh] würden mehr als genug Platz dafür bieten, besonders die Gegenden an der Dazhi-Brücke oder in der Nähe des Songshan-Flughafens.“

Durch solche Ereignisse und die Ausdauer-Fahrten trägt NeverStop unermüdlich dazu bei, Radeln in Taiwan so bekannt zu machen wie die berühmte Fahrradindustrie des Landes.

(Deutsch von Tilman Aretz)
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Lynn F. Lee (李東龍) lebt in Taipeh und ist seit über 17 Jahren begeisterter Radfahrer. Bislang hat er an acht NeverStop-Ereignissen auf der ganzen Insel teilgenommen.

Copyright © 2012 Lynn F. Lee

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