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Der Fluss fließt weiter

01.11.2009
Im Juli dieses Jahres stellte Chi Pang-yuan auf einer Pressekonferenz ihre neu erschienene Autobiografie Der riesige fließende Fluss vor. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Commonwealth Publishing Co.)
Ich ging nach Dalian [in Festlandchina], um an der Küste meiner Heimatstadt das Meer nach Taiwan hinrollen zu sehen. Zwei Tage hintereinander begab ich mich allein zu einem Park in Ufernähe und ließ mich auf Steinstufen nieder, das Bohai-Meer beobachtend, wie es in Richtung Gelbes Meer strömte, von dort ins Ostchinesische Meer und schließlich in den weiten und tiefen Pazifischen Ozean. In Taiwan, über 2000 Kilometer entfernt, fließt das Meer um die Insel herum bis zur Südspitze Oluanpi und bildet unweit des Leuchtturms dort das Yakou-Meer, eine ausgedehnte Fläche klaren, blauen, ruhigen und schönen Meerwassers. Hier sagt man, Wind und Wellen seien stumpfsinnig und schweigsam.
Alles kehrt zu ewigem Frieden zurück.

—Der riesige fließende Fluss, Chi Pang-yuan, 2009

Im Jahre 1999 erhielt Cheng Ching-wen (鄭清文), einer der bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller Taiwans, für Dreibeiniges Pferd (三腳馬), eine Sammlung von 12 Kurzgeschichten, den Buchpreis Kiriyama Pacific Rim Book Prize. Die jährlich stattfindende Preisvergabe, mittlerweile umbenannt in Kiriyama Prize, war 1996 von Pacific Rim Voices im US-amerikanischen Kalifornien ins Leben gerufen worden, um jeweils einen Roman und ein Sachbuch zu würdigen, welche am besten die Vision der Organisation reflektierten, ein größeres Verständnis für die Länder am Rande des Pazifik und in Südasien und für ihre Völker, auch untereinander, zu schaffen. Cheng, ein Bankangestellter im Ruhestand, wurde unter über 100 Kandidaten ausgewählt, weil er „ein lebhaftes Porträt von Taiwans Vergangenheit und Gegenwart“ und auch „über die Auswirkungen der langen Erfahrung der japanischen Besatzung [1895-1945]“ geboten habe, wie es in der Laudatio des Preises hieß.

Chengs Schriften könnten keinen größeren internationalen Preis und eine Leserschaft in der englischsprachigen Welt gewonnen haben, wären nicht die maßgeblichen Bemühungen von Chi Pang-yuan (齊邦媛) gewesen, eine der Lektoren von Chengs Kurzgeschichtensammlung und emeritierte Professorin an der Abteilung für Fremdsprachen und ausländische Literatur der National Taiwan University (NTU) in Taipeh. Chis Autobiografie Der riesige fließende Fluss (巨流河) erschien in diesem Jahr und verdankt ihren Namen dem Liao-Fluss, der durch ihre festlandchinesische Heimatstadt fließt. In dem Buch beschreibt sie ein laufendes Projekt der Columbia University Press mit dem Titel „Moderne chinesische Literatur aus Taiwan“, eine Serie, zu der auch Chengs Buch Dreibeiniges Pferd gehört, und sie versichert, die Serie sei „die letzte unerwartete Überraschung meines Lebens und eine gute Gelegenheit, meinen Wunsch zu erfüllen“. Die Veröffentlichung der Serie ist in vielerlei Hinsicht eine Anerkennung der Energie und der akademischen Begeisterung, die Chi der Förderung taiwanischer Literatur in der internationalen Gemeinschaft gebracht hat.

1924 in der nordostchinesischen Provinz Liaoning geboren, kam Chi 1947 nach ihrem Examen an der Universität nach Taiwan, um an der NTU als Lehrassistentin in der Abteilung für fremdsprachige Literatur, wie die heutige Abteilung für Fremdsprachen und ausländische Literatur damals noch genannt wurde, zu arbeiten. 1950 zog sie mit ihrem Ehemann nach Taichung, da ihr Mann für die Eisenbahnverwaltung Taiwan arbeitete und in die zentraltaiwanische Stadt versetzt wurde. Nach mehreren Jahren Tätigkeit als Oberschul-Englischlehrerin nahm Chi 1958 eine Dozentenstelle am Landwirtschafts-Provinzcollege Taiwan an, das heute National Chung Hsing University heißt, und war an der Gründung der Abteilung für fremdsprachige Literatur der Lehranstalt im Jahre 1968 beteiligt. Ab 1970 unterrichtete sie wieder an der NTU und wurde 1977 dort ordentliche Professorin. 1988 trat sie in den Ruhestand und erhielt im Jahr darauf von der NTU den Status einer Ehrenprofessorin.

Erste größere Anstrengungen

1972 wurde Chi außerdem Direktorin der Abteilung für Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften am National Institute for Compilation and Translation. In ihrer ersten formalen Stelle außerhalb der Lehre war eine ihrer Hauptaufgaben, ein englischsprachiges Übersetzungsprojekt von literarischen Werken aus Taiwan zu beaufsichtigen, die von Chi und vier anderen Gelehrten (Ho Hsin 何欣, Wu Hsi-chen 吳奚真, Yu Kwang-chung 余光中 und John J. Deeney) ausgewählt und bearbeitet worden waren. Das Ergebnis war An Anthology of Contemporary Chinese Literature: Taiwan 1949-1974, die 1975 bei der Washington University Press in Seattle (USA) erschien. Diese Sammlung mit annähernd 700 000 Wörtern enthielt übersetzte Gedichte, Essays und Kurzromane, verfasst von taiwanischen Autoren zwischen 1949 und 1974, und sie stellte den ersten größeren systematischen Versuch dar, ausländischen Forschern und Lesern moderne Literatur aus Taiwan zu präsentieren. In ihrer Autobiografie schrieb Chi über die Anthologie, längere Romane „würden die vorgegebenen Themen voller und tiefer erkundet haben, doch der begrenzte Umfang des Buches und das verfügbare Personal schlossen die Aufnahme längerer Romane aus“.

Von links nach rechts: Chi Pang-yuan und ihre literarischen Partnerinnen Lin Hai-yin (ehemalige Redakteurin des Literaturteils der chinesischsprachigen Tageszeitung United Daily News), Lin Wen-yueh (früher Professorin an der Abteilung für chinesische Literatur der NTU) und Nancy Ing (ehemalige Chefredakteurin von The Chinese PEN). (Foto mit freundlicher Genehmigung von Commonwealth Publishing Co.)

Chis literarischer Wunsch ging aber dennoch in Erfüllung, und zwar in der Form einer Übersetzung der längsten Romane ins Englische im Rahmen der Serie „Moderne chinesische Literatur aus Taiwan“, die anfänglich von der Stiftung Chiang Ching-kuo Foundation for International Scholarly Exchange und dem Rat für Kulturangelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA) — eine Behörde in Ministeriumsrang — gesponsert wurde. „Sie ist vielleicht nicht die Erste, welche die Übersetzung taiwanischer Werke ins Englische fördert, doch sie ist die Beste und Kompetenteste“, lobt Schriftsteller Cheng Ching-wen. „Ohne ihre Anstrengungen hätte die Welt vielleicht noch ein oder zwei Jahrzehnte warten müssen, um etwas über taiwanische Literatur zu erfahren.“

1992 wurde Chi Chefredakteurin von The Chinese PEN, später umbenannt in The Taipei Chinese PEN (當代台灣文學英譯), eine Vierteljahreszeitschrift, die vom Taipei Chinese Center innerhalb des International PEN — einer 1921 gegründeten Schriftstellervereinigung mit Sitz in London — herausgegeben wird. (PEN steht für die drei englischen Worte „poets“, „essayists“ und „novelists“, zu Deutsch Dichter, Essayisten und Romanciers.) Die taiwanische Vierteljahreszeitschrift erscheint seit 1972 ohne Unterbrechung und übersetzt taiwanische Lyrik und Prosa ins Englische. Es ist bislang die einzige Zeitschrift, die regelmäßig Übersetzungen von literarischen Arbeiten taiwanischer Autoren druckt. Das Blatt war einer der ersten Förderer taiwanischer Literatur im Ausland, und unter Chis Führung wurde eine neue Tiefe und Breite literarischer Fragen erforscht, darunter Trends wie Umweltbewusstsein und Feminismus.

Zu den Hauptthemen, die Chis effizienter Mitarbeiterstab übersetzte, gehörten auch Schriften von „Festländer“-Autoren der ersten und zweiten Generation, die man manchmal unter der Rubrik „Nostalgie-Literatur“ (懷鄉文學) zusammenfasst, was Chis eigene festlandchinesische Herkunft widerspiegelt und sich einer allgemeinen Anerkennung des literarischen Schaffens vom Festland stammender Autoren annahm. Übersetzte Geschichten dieser Autoren wurden in dem 2004 erschienenen Band Die Letzten vom Whampoa (最後的黃埔) in der Serie „Moderne chinesische Literatur aus Taiwan“ gesammelt.

Im Laufe von fast vier Jahrzehnten hat The Taipei Chinese PEN über 1500 Geschichten, Essays, Gedichte und Profile taiwanischer Künstler ins Englische übertragen, und diese Werke wurden oft in den Publikationen des International PEN veröffentlicht. In ihrer Autobiografie schreibt Chi, die Vierteljahreszeitschrift sei „eine treue, feste Brücke für taiwanische Literatur“, welche „ein dauerhaftes kulturelles Selbstbewusstsein, das geografische Grenzen überschreitet“, widerspiegele. Schriftsteller Cheng Ching-wen meint, für Chi und ihre literarischen Partner habe Literatur einen eigenen Standard für Vortrefflichkeit, der nicht zwischen lokalen taiwanischen und festlandchinesischen Genres unterscheide, was nach Chis Ausführungen ein Standpunkt ist, der frei von Erwägungen „politischer Korrektheit“ ist.

Zwar tobt in literarischen Kreisen ein Streit über die Definition, was taiwanische Literatur ist, doch Chi sieht sie als natürliches Phänomen mit einem unveränderlichen Wesen, trotz der unterschiedlichen Namen, die man ihr gegeben hat. Chi definiert taiwanische Literatur als Gesamtsumme aller literarischen Arbeiten, die in Taiwan über die Taiwaner, ihre Angelegenheiten, Mythen und Legenden verfasst wurden. „Schriften von Autoren, deren Familien seit vielen Generationen in Taiwan gelebt haben, sind zweifellos taiwanische Literatur“, schrieb Chi. „Die von Heimweh durchdrungenen Werke von Menschen im Exil und Einwanderern, die es während der großen Spaltung in der chinesischen Geschichte nach Taiwan verschlug, sind ebenfalls taiwanische Literatur.“

Chi Pang-yuan zeigt die Bücher der Serie „Moderne chinesische Literatur aus Taiwan“, an deren Bearbeitung sie mitwirkte. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Commonwealth Publishing Co.)

Kraftvolle Verbindung

Das internationale Profil der Serie „Moderne chinesische Literatur aus Taiwan“ stärkte sich im Jahre 1999 beträchtlich, als Dreibeiniges Pferd von Cheng Ching-wen für den Kiriyama Pacific Rim Book Price ausgewählt wurde, wobei die Kritiker die beeindruckende Verbindung von Geschichte, Charakter und subtilem Symbolismus mit Taiwanthematik herausstrichen. Die Titelgeschichte der Kurzgeschichtensammlung spielt unmittelbar nach Ende der japanischen Kolonialzeit und handelt von einem Mann, der Figuren lahmer Pferde schnitzte, um damit seine frühere Arbeit für die koloniale Polizei zu sühnen, eine Tätigkeit, welche die Taiwaner „dreibeinig“ nannten. Tatsächlich hatte sich der Protagonist nicht aus politischen Gründen oder für finanziellen Gewinn gegen seine Landsleute im Dorf gewandt, sondern weil er in seiner Kindheit wegen eines weißen Geburtsmals auf der Nase gehänselt worden war.

Chi ist Mitglied der Redaktion der Übersetzungsserie „Moderne chinesische Literatur aus Taiwan“ und eine der Verantwortlichen für die Bearbeitung von Chengs Buch — andere Redaktionsmitglieder sind Prof. Göran Malmqvist von der Schwedischen Akademie und Wang Der-wei (王德威) von der Abteilung für Ostasiatische Sprachen und Zivilisationen der Harvard University (USA). Shan Te-hsing, Wissenschaftler im Institut für europäische und amerikanische Studien der Academia Sinica, weist darauf hin, dass die Serie einige der repräsentativsten taiwanischen Romane der vergangenen Jahrzehnte vorstellt. „Die Werke zeigen die breite Perspektive der Redaktion und ihre vielfältigen, pluralistischen Interessen“, interpretiert Shan, der auch als Präsident des Verbandes für vergleichende Literatur der Republik China fungiert. Neben dem Dreibeinigen Pferd gewannen andere Titel der Serie gleichfalls größere Anerkennung. Notizen eines verzweifelten Mannes (荒人手記) von Chu Tien-wen (朱天文) zum Beispiel wurde von der New York Times 1999 zu einem der denkwürdigen Bücher jenes Jahres erklärt, während die Los Angeles Times Das Aroma der Äpfel (蘋果的滋味) von Huang Chun-ming (黃春明) und Grenzland Taiwan: Eine Anthologie moderner chinesischer Lyrik aus der Serie in die Liste der besten Bücher des Jahres 2001 aufnahm.

Chis Streben nach Vergrößerung des Wissensschatzes über Blickwinkel und Perspektiven der taiwanischen Literatur brachte sie weiter dazu, an der Gründung des National Museum of Taiwan Literature in der südtaiwanischen Stadt Tainan im Jahre 2003 mitzuwirken. „Literatur ist unparteiisch und kann sich von politischen oder wirtschaftlichen Störungen frei machen“, schrieb Chi. „Ein staatliches Literaturmuseum hat seine literarische Würde, ganz gleich wie Taiwans politische Zukunft aussieht.“ In der Vergangenheit schenkten nur kleinere Privatmuseen bedeutenderen taiwanischen Schriftstellern Aufmerksamkeit. Das Museum in Tainan, das sich in einem 1916 von den Japanern errichteten historischen Gebäude befindet, bemüht sich, die internationalen Studien taiwanischer Literatur voranzubringen.

Chis lebenslange Hingabe an Übersetzung taiwanischer Literatur ins Englische und ihre Förderung im In- und Ausland durch ihre Unterrichts- und Lektorentätigkeit hinterließ deutliche Spuren in Taiwans Literaturgeschichte. „Ihre Anstrengungen gehen über alle einseitigen oder regionalen Sichtweisen hinaus und haben von Lesern, Schriftstellern und Gelehrten in Taiwan und im Ausland breite Anerkennung und Respekt gewonnen“, rühmt Shan Te-hsing von der Academia Sinica. Wie der große Fluss, der durch ihre Heimatstadt fließt, läuft Chis beständiger, entschlossener Strom redigierter Werke in das ruhige, wunderschöne Meer der taiwanischen Literatur und vergrößert seine Tiefe.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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