28.04.2024

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Nur der Stärkste überlebt

01.05.1998
Liu I-chou, Politikdozent: ”Auf lange Sicht hat keine extremistische Partei eine große Überlebenschance.”

Liu I-chou ist Dozent für Politikwissenschaften an der National Chengchi University. Der Schwerpunkt seiner Forschungen liegt auf Taiwans politischen Parteien und Wahlen.

Free China Review: Welcher Faktor trägt am stärksten zu Veränderungen in Taiwans politischer Landschaft bei?

Liu I-chou: Meiner Ansicht nach beeinflußt die Wirtschaft die politische Landschaft auf signifikante Weise. Nach der Entwicklung der Wirtschaft eines Landes auf ein bestimmtes Niveau fordern die Menschen mehr Beteiligung in politischen Angelegenheiten und wollen mehr politische Macht. Dieses Phänomen läßt sich in allen Entwicklungsländern beobachten, in den siebziger Jahren auch in Taiwan. Damals erfuhr Taiwan ein schnelles Wirtschaftswachstum, ein steigendes Bildungsniveau und besseren Zugang zu Information. Wenn die Menschen besser informiert sind, werden sie selbstsicherer und streben nach mehr Demokratie.

Welche Kernfrage beeinflußt die politische Entwicklung heute?

Für alle drei größeren Parteien ist die Frage nach der sogenannten "Taiwanidentität" -- also die Frage der Souveränität Taiwans -- eine fundamentale Frage. Die KMT betont die Erhaltung des Status Quo und strebt für die Gegenwart weder nach Unabhängigkeit noch nach Wiedervereinigung mit dem Festland. Mit diesem Standpunkt fährt die KMT gut, weil etwa die Hälfte der Bevölkerung Taiwans den jetzigen Zustand erhalten möchte.

Der Rest der Bevölkerung ist jedoch gespalten und tritt entweder für Unabhängigkeit oder für Wiedervereinigung ein. Zur Zeit geht der Trend eher in Richtung Unabhängigkeit, weil die jüngeren Generationen nur hier gelebt haben. Die Zahl der noch auf dem Festland Geborenen geht unaufhaltsam zurück. Dieser Trend hemmt die Entwicklung der NP, die für die Wiedervereinigung eintritt.

Die DPP wiederum profitiert zwar von dieser Strömung, tritt jetzt aber trotzdem immer zurückhaltender für die Unabhängigkeit ein, was auch seine Gründe hat. Tatsächlich haben alle politischen Parteien die Frage der Taiwanidentität vorerst zurückgestellt, und die Frage könnte im Laufe der Ereignisse zur Gänze verschwinden -- durch einvernehmlichen Konsens der älter werdenden jüngeren Generationen.

Verspürt die DPP bei ihrer Position zur Unabhängigkeit Taiwans Druck vom chinesischen Festland?

Die DPP verändert sich und versucht Beijing gegenüber freundlicher aufzutreten. Wenn die DPP nicht flexibel genug ist und die Festlandsangelegenheiten nicht zufriedenstellend behandelt, wird sie auf dem Weg zur Macht auf Schwierigkeiten stoßen. In Wirklichkeit erklären sowohl die KMT als auch die DPP, daß Taiwan bereits ein unabhängiger Staat ist -- sie drücken es nur verschieden aus. Entsprechend sagen manche in der DPP-Parteiführung, daß sie Taiwan auch im Falle einer Regierungsübernahme durch die DPP nicht für unabhängig erklären würden.

Nur der Stärkste überlebt

Was tun die größeren Parteien zur Verbesserung ihres politischen Images?

In der Vergangenheit setzten viele Menschen die DPP mit Gewalt, Radikalismus und dem Eintreten für eine Unabhängigkeit Taiwans gleich. Die ersten beiden Eindrücke haben sich laut einer jüngsten Umfrage des Wahlforschungszentrums der National Chengchi University verwischt. Die Öffentlichkeit assoziiert die DPP jetzt nur noch mit der Unabhängigkeitsbewegung, und das macht der Partei keine Sorgen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich das Image der DPP in den letzten Jahren stark verbessert hat.

Die KMT hat dagegen ein Imageproblem. Sie hat Taiwan lange beherrscht und wurde bei der Wahrung der Parteiinteressen immer tiefer in die Unterwelt und "Geldpolitik" hineingezogen. Für die KMT ist es höchste Zeit, ihr ramponiertes Image aufzupolieren -- das ist meiner Ansicht nach ihre höchste Priorität. Außerdem wurde die KMT in Sachen innerparteiliche Demokratie von der DPP weit überholt, das zeigt sich etwa bei der Kandidatenbenennung vor Wahlen. Die Demokratisierung ist zwar die größte Errungenschaft in Taiwans politischer Entwicklung, aber die KMT selbst ist in dieser Hinsicht rückständig.

Das negative Image der KMT stößt besonders junge Leute ab. Das Wahlforschungszentrum hat berichtet, daß die meisten Anhänger der KMT älter als 25 Jahre sind, während die DPP in der Altersgruppe unter 25 die beliebteste Partei ist. Je jünger eine Person ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er oder sie die DPP unterstützt.

Für die NP ist die größte Herausforderung, ihr Image als "Partei der Festland-Chinesen" oder " Städter-Partei" loszuwerden. Sie muß sich um mehr Zustimmung bei den einheimischen Taiwanesen bemühen, denn ohne deren Unterstützung wird sich die NP kaum weiter entwickeln können. Zur Steigerung der Popularität muß sie ihr Parteiprogramm ändern. Sie könnte zum Beispiel ihr politisches Konzept über die Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland etwas abwandeln, damit es sich mehr an die gegenwärtigen Denkströmungen in dieser Frage annähert.

Werden die NP und die Taiwan-Unabhängigkeitspartei (TAIP) überleben?

Die NP wird nicht verschwinden. Ihren Rückhalt hat sie hauptsächlich in der Unterstützung der Festlandchinesen, und diese Basis wird in absehbarer Zeit stabil bleiben. In dieser Übergangsphase kann die NP im Zuge des Machtverfalls der KMT und Machtzuwachses der DPP überdies die Rolle eines "Züngleins an der Waage" spielen. Wenn bei den kommenden Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres keine der größeren Parteien die absolute Mehrheit der Sitze erringt, könnte die NP ihre Stärke und ihren Einfluß vergrößern.

Die meisten Mitglieder der TAIP waren ursprünglich radikale Mitglieder der DPP. Sie verlangten die Aufnahme von Verfahren zur Bildung einer unabhängigen Republik Taiwan und wollten alle historischen Verbindungen zur Republik China kappen. Als die DPP in der Frage der Unabhängigkeit Taiwans kompromißbereiter wurde, verließen die Radikalen die Partei und gründeten die TAIP. Eine solche extremistische Splittergruppe ist nicht unbedingt zum Untergang verurteilt, aber ihr Entwicklungspotential ist sehr begrenzt. Zur Zeit gibt es über achtzig politische Parteien in Taiwan, aber die meisten von ihnen haben eine Popularitätsrate von unter 0,1 Prozent. Die TAIP hat etwa fünf Prozent, also ist sie noch nicht am Ende.

Die eigentliche Bewährungsprobe steht der TAIP noch bevor. Bei den kommunalen Wahlen im November 1997 hat sie keinen Blumentopf gewonnen, aber bei den Parlamentswahlen im Dezember 1998 werden aufgrund des taiwanesischen Wahlrechts in jedem Wahlkreis mehrere Abgeordnete gewählt, und da wird die Partei möglicherweise einige Sitze erringen können. Auf lange Sicht hat aber keine extremistische Partei eine große Überlebenschance. Und wenn die TAIP bei den kommenden Parlamentswahlen scheitert, ist ihr Untergang gewiß.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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