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Ein Votum für den Status Quo

01.01.1999
Die Ergebnisse der einzelnen Wahllokale wurden für das Endergebnis sofort an das Haupt-Stimmzählzentrum der Zentralen Wahlkommission weitergeleitet.

Die Ausgangslage

Wahlberechtigt waren im Wahlgebiet der Republik China insgesamt rund 14,96 Millionen Menschen, die in 31 Wahlbezirken in 11 173 Wahllokalen zwischen 8 und 16 Uhr ihre Stimme abgeben konnten. 68 Prozent der Bürger folgten dem Wahlaufruf, doch in den beiden regierungsunmittelbaren Städten Taipei und Kaohsiung war die Wahlbeteiligung mit jeweils über 80 Prozent deutlich höher.

Bei den Wahlen zum Vierten Parlament (auf Chinesisch lifa-yuan, Legislativ-Yuan) standen insgesamt 225 Sitze für eine dreijährige Legislaturperiode zur Wahl. Im 1995 gewählten Dritten Parlament waren es nur 164 Sitze gewesen. Die Vergrößerung des Parlaments erfolgte als Ausgleichsmaßnahme für die Abschaffung des Provinzparlaments und die Verkleinerung der Provinzregierung nach den Verfassungsänderungen im Juli 1997. Von den 225 Sitzen wurden 176 direkt nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben. 41 weitere Sitze sollten entsprechend dem prozentualen Stimmenverhältnis auf die Parteien verteilt werden, wobei Parteien mit weniger als 5 Prozent Stimmenanteil jedoch leer ausgingen. Die restlichen 8 Sitze waren ebenfalls nach Stimmenproporz für Auslandschinesen reserviert.

Um die Parlamentssitze bewarben sich 499 Kandidaten von elf politischen Parteien bzw. ohne Parteizugehörigkeit. In Taipei bemühten sich 110 Kandidaten um die 52 Sitze im Stadtrat, für Kaohsiungs 44 Stadtratsitze traten 105 Kandidaten an.

Der Wahlkampf verlief in der für Taiwan gewohnten Weise: eine lärmende Materialschlacht mit Millionen Metern von Fahnentuch, zahllosen Hochglanzbroschüren der Kandidaten und einer riesigen Flotte von Lautsprecherfahrzeugen, mit denen von morgens bis abends die Parolen der Kandidaten und Bitten um Unterstützung verbreitet wurden -- aber es war auch ein Wahlkampf fast gänzlich ohne politisch motivierte Gewalttaten. Am heftigsten tobte der Wahlkampf um die Bürgermeisterposten in Taipei und Kaohsiung.

Die Bedeutung der Wahlen

Nicht anders als in der Bundesrepublik Deutschland sind auch in der Republik China Parlamentswahlen ein zentrales Ereignis des politischen Lebens. Die Bedeutung dieser Parlamentswahlen bestand darin, daß seit dem Wahlerfolg der größten Oppositionspartei, der Demokratischen Progressiven Partei (DPP), bei den Wahlen der Kreisvorstände im November 1997 die Regierungspartei Kuomintang (KMT) erstmals um ihre knappe Parlamentsmehrheit bangen mußte. Seit dem Rückzug der Regierung der Republik China vom Festland nach Taiwan 1949 hatte die KMT auf der Zentralebene immer allein regieren können, doch nun war im Vorfeld der Wahlen wegen eines erwarteten Stimmenzuwachses für die DPP schon über mögliche Koalitionen orakelt worden.

Es wurde auch weithin darüber spekuliert, wie nach einem guten Wahlergebnis für die DPP -- die die Forderung nach einer staatlichen Unabhängigkeit Taiwans vom Festland in ihrem Parteiprogramm festgeschrieben hat -- die kommunistischen Machthaber der VR China in Peking reagieren würden. Zwar ist in jüngster Zeit das Klima über die Taiwanstraße etwas freundlicher als noch vor zwei Jahren, aber die Drohung, die Wiedervereinigung notfalls mit Waffengewalt zu erzwingen, hat Peking bis heute nicht zurückgenommen.

Politische Beobachter waren sich außerdem darin einig, daß diese Wahlen für den Bestand der kleineren Parteien, besonders die Taiwan-Unabhängigkeitspartei (TAIP) und die Neue Partei (NP) von entscheidender Bedeutung seien. Die NP entstand im August 1993 als Abspaltung von der KMT und drängt auf eine baldige Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland. Die TAIP ist eine radikale Abspaltung der DPP und fordert seit ihrer Gründung im Dezember 1996 energischere Schritte zur Durchsetzung einer Unabhängigkeit Taiwans.

Bei der Bürgermeisterwahl in Taipei ging es wohl um mehr als nur um die Besetzung des höchsten Amtes der Stadtverwaltung. Vor vier Jahren hatte die DPP mit ihrem Kandidaten Chen Shui-bian(陳水扁) den Kampf um die provisorische Hauptstadt der Republik China gewonnen. Chen, 47, hatte in seiner vierjährigen Amtszeit noch an Popularität zugelegt und wird bis heute als wahrscheinlichster Kandidat der DPP für das Amt des Präsidenten der Republik China, der im Jahr 2000 neu zu wählen ist, gehandelt.

Die Wahlen in Zahlen

Das Ergebnis der Parlamentswahlen war für die DPP eine herbe Enttäuschung: Entgegen ihren Erwartungen gelang es ihr nicht, mit der KMT gleichzuziehen oder gar ihre Mehrheit zu brechen. Statt dessen erhielt die DPP nur 29,56 Prozent der Stimmen, wogegen die KMT sich mit 46,43 Prozent im Vergleich zu den vorigen Wahlen (46,06 Prozent) sogar noch leicht verbessern konnte. Gleichfalls unbefriedigend war das Ergebnis für die NP: Sie erhielt nur 7,06 Prozent der Stimmen und verlor im Parlament auf einen Schlag fast die Hälfte ihrer Sitze. Die TAIP scheint mit nur 1,45 Prozent vom Wähler endgültig in die Bedeutungslosigkeit verwiesen worden zu sein.

Die Stimmenanteile der übrigen Parteien sind für den Wahlausgang praktisch ohne Belang: Die Democratic Union of Taiwan konnte 3,74 Prozent verbuchen, die New Nation Alliance kam auf 1,57 Prozent, und die Nationwide Democratic Nonpartisan Union erhielt 0,66 Prozent. Diese drei Parteien waren erst 1998 gegründet worden. Mit 0,08 Prozent ist die Grüne Partei in Taiwan bisher auch nicht mehr als eine unbedeutende Splittergruppe.

Unabhängige Kandidaten haben in Taiwan dagegen mitunter recht gute Chancen, ins Parlament einzuziehen. 9,43 Prozent der Wähler entschieden sich für parteilose Kandidaten, von denen sich aber manche früher als Mitglieder einer der großen Parteien einen Namen gemacht hatten und von diesem Kapital auch nach ihrem Parteiaustritt zehren konnten.

Aufgrund des Wahlsystems verfügt die KMT im neuen Parlament über die absolute Mehrheit der Sitze. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß bei den nach dem prozentualen Stimmenanteil vergebenen 49 Sitzen die Parteien mit weniger als fünf Prozent der Stimmen nicht berücksichtigt wurden. Von den 225 Sitzen gingen 123 an die KMT, 70 an die DPP, elf an die NP, einer an die TAIP, vier an die Democratic Union of Taiwan , einer an die New Nation Alliance, drei an die Nationwide Democratic Nonpartisan Union und die restlichen 12 an Unabhängige.

Von den 225 neuen Abgeordneten waren 46 vorher Abgeordnete des Provinzparlaments. Da die Verfassungsänderungen im Juli 1997 die Abschaffung dieses Gremiums zum Jahresende 1998 verfügt hatten, entschieden sich 60 Provinzparlamentarier, die Fortsetzung ihrer politischen Laufbahn auf der Zentralebene zu betreiben. Von den 46 Politikern, denen der Einzug in den Vierten Legislativ-Yuan gelang, gehören 32 der KMT an, elf der DPP, einer ist Mitglied der Democratic Union of Taiwan, und zwei sind Unabhängige.

Ein Votum für den Status Quo

Der Einzug der ehemaligen Provinzabgeordneten in den Legislativ-Yuan könnte die Arbeitsweise des Parlaments beeinflussen. Die früheren Provinzparlamentarier gelten als mehr basisorientiert und legen mehr Gewicht auf die Behandlung lokaler Angelegenheiten, was nach Ansicht politischer Beobachter zu einer "Lokalisierung" des Parlaments führen könnte. Außerdem ist nicht auszuschließen, daß sich bei Abstimmungen über lokale Angelegenheiten die Parteidisziplin jeweils als schwächer erweisen könnte als konkrete lokale Interessen.

In Taipei und Kaohsiung galten vor den Bürgermeisterwahlen die Amtsinhaber als Favoriten, doch nach der Auszählung der Stimmzettel war klar, daß Chen Shui-bian in Taipei und Wu Den-yih(吳敦義) in Kaohsiung ihre Sessel würden räumen müssen. Mit unerwartet deutlichem Vorsprung konnte in Taipei der Kandidat der KMT, Ma Ying-jeou(馬英九) das Rennen für sich entscheiden. Ma, 48, erhielt 51,12 Prozent der Stimmen gegenüber 45,91 Prozent für den Amtsinhaber. Der Kandidat der NP, Wang Chien -shien(王建煊), kam lediglich auf 2,97 Prozent.

Die Ironie dieses Ergebnisses besteht darin, daß Chen Shui-bian zwar die Wahlen verlor, im Vergleich zu 1994 seinen prozentualen und absoluten Stimmenanteil aber erhöhen konnte. Vor vier Jahren hatte Chen davon profitiert, daß sich die beiden anderen Kandidaten von KMT und NP gegenseitig um den Sieg brachten -- damals hatte der KMT-Kandidat Huang Ta-chou (黃大洲)25,89 Prozent der Stimmen bekommen und war damit hinter den 30,17 Prozent des NP-Schwergewichtes Jaw Shau-kong(趙紹康) zurückgeblieben. Bei dieser Wahl hingegen hatte die KMT mit Ma Ying-jeou einen jugendlich wirkenden, charismatischen und telegenen Politiker ins Rennen geschickt, dem der relativ farblose Wang von der NP nicht viel entgegensetzen konnte.

In der 1,44 Millionen-Metropole Kaohsiung war das Ergebnis sehr viel knapper. Erst nach der vollständigen Auszählung der Stimmzettel stand Frank Hsieh(謝長廷) von der DPP als Sieger fest. Der Vorsprung vor dem Amtsinhaber Wu Den-yih betrug nicht mehr als 4565 Stimmen. Die beiden anderen Bewerber um das Bürgermeisteramt, der unabhängige Cheng Teh-yao(鄭德耀) sowie Wu Chien-kuo(吳建國) von der NP landeten mit 2,35 bzw. 0,81 Prozent weit abgeschlagen auf den Plätzen drei und vier.

Der 52jährige Hsieh war schon vor der Aufhebung des Kriegsrechts im Jahre 1987 als oppositioneller Aktivist tätig gewesen. Landesweite Bekanntheit erlangte der Jurist 1997, als er die Verteidigung des berüchtigtsten Mörders und Kidnap pers der Insel -- der jetzt in der Todeszelle sitzt -- übernahm. Im Wahlkampf war Hsieh dafür teilweise ungewöhnlich heftig attackiert worden, aber seine Popularität reichte dennoch knapp aus, um den seit 1990 amtierenden 50jährigen Wu aus dem Amt zu vertreiben.

Als neuer Bürgermeister von Kaohsiung wird Hsieh es freilich nicht leicht haben: Im Stadtrat hat die KMT die absolute Mehrheit. Tatsächlich hatte die KMT ihr Ergebnis von 52,27 Prozent im Jahre 1994 auf 56,82 Prozent verbessern können. Auf den 44 Sitzen des Stadtrates Kaohsiung werden nun 25 KMT-Mitglieder, 9 DPP-Mitglieder, ein Angehöriger der NP sowie neun Unabhängige Platz nehmen: Cohabitation à la Taiwan.

Da hat es der neue Bürgermeister von Taipei etwas leichter. Zwar verfehlte die KMT ebenso wie 1994 auch dieses Mal im Stadtrat die absolute Mehrheit, konnte sich aber von 38,46 Prozent auf 44,23 Prozent verbessern. Die Verteilung der 52 Sitze im Stadtrat Taipei sieht nun wie folgt aus: 23 KMT, 19 DPP, 9 NP und ein Unabhängiger.

Die Wahlen selbst verliefen inselweit absolut störungsfrei und reibungslos. Die vier öffentlich-rechtlichen Fernsehsendeanstalten berichteten vom Nachmittag ab ununterbrochen live über das Geschehen und die Lage in den Wahlkampf-Hauptquartieren der verschiedenen Parteien. Anders als bei den Präsidentschaftswahlen im März 1996 gab es dieses Mal auch keine Versuche der VR China, durch militärische Drohgebärden den Wahlausgang zu beeinflussen.

Kommentare nach dem Urnengang

Als das Endergebnis feststand, begannen Vertreter der Parteien mit der Bewertung des Wahlausgangs. Der Generalsekretär der KMT, John Chang(章孝嚴), erklärte, die Gewinne seiner Partei ließen für die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 Gutes hoffen. "Die Resultate zeigen, daß die Wähler die von der KMT gebotene Stabilität bevorzugen", unterstrich Chang.

In der Führung der DPP gestand man ohne Umschweife die Niederlage ein. Parteichef Lin Yi-hsiung(林義雄) hatte bereits für die Niederlage die Verantwortung übernehmen und zurücktreten wollen, wurde aber von seinen Parteifreunden nach tagelangen Appellen zum Verbleiben im Amt bewegt. In der DPP war es bisher quasi Tradition, daß nach einer Wahlniederlage der Parteivorsitzende seinen Hut nimmt. Der Generalsekretär der DPP, Chiou I-jen(邱義仁), blieb dagegen bei seinem Beschluß, als Reaktion auf die Wahlniederlage sein Amt niederzulegen. Neuer Generalsekretär der DPP wird You Hsi-kun(游錫堃), der Vorsitzende der Taipei Rapid Transit Company.

Parteichef Lin Yi-hsiung drückte sein Bedauern darüber aus, daß sich in Taipei die hohe Zustimmungsrate für Chen Shui-bians Arbeit als Bürgermeister nicht in einem Wahlsieg niedergeschlagen hätte. Der Sieg bei den Bürgermeisterwahlen in Kaohsiung ist für die DPP immerhin ein kleiner Trost. "Frank Hsieh wird die Stadt Kaohsiung zu einer neuen Entwicklungsphase führen", kündigte Lin an.

Jaw Shau-kong, der dank seiner geschliffenen Rhetorik und seines medienwirksamen Auftretens 1994 als NP-Bürgermeisterkandidat in Taipei über 30 Prozent der Stimmen eingeheimst hatte, fungierte 1998 als Wahlkampfkoordinator seiner Partei und bat nach den Wahlen um Vergebung dafür, daß er nicht so viele NP-Kandidaten wie erhofft im Parlament unterbringen konnte. Die schwere Wahlschlappe bedeute aber nicht das Ende seiner Partei, betonte Jaw.

In akademischen Kreisen des chinesischen Festlandes wurde der Wahlausgang als Zeichen für Stabilität gewertet. Ein Professor vom Institut für Taiwanstudien an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften meinte, das Wahlergebnis werde die Beziehungen über die Taiwanstraße stabilisieren. Auch von offizieller Seite des chinesischen Festlandes erhielt das Wahlergebnis Beifall. Ein Sprecher des Außenministeriums der VR China begrüßte den Wahlausgang und rief Taiwan erneut zu bilateralen Gesprächen auf. Politische Gespräche mit dem Regime in Peking lehnt die Regierung der Republik China nach wie vor ab, ist aber zu Beratungen über praktische Fragen wie Fischereirechte bereit. Das Wahlergebnis stärkt freilich die Verhandlungsposition der Regierung gegenüber der kommunistischen Führung auf dem Festland.

Für die heutige politische Kultur in Taiwan ist es ein positives Zeichen, daß bei Wahlen unterlegene Politiker wie die Bürgermeister in Taipei und Kaohsiung sich zu der Niederlage bekennen und das Amt anstandslos dem siegreichen politischen Gegner übergeben.

Eines läßt sich aus dem Wahlausgang ganz klar ablesen: Taiwans Bürger haben radikalen Lösungen wie einer sofortigen Unabhängigkeit Taiwans (propagiert von der TAIP) oder einer schnellen Wiedervereinigung mit dem Festland (gefordert von der NP) eine unmißverständliche Absage erteilt. Die Mehrheit befürwortet die Beibehaltung des Status Quo. Eine staatliche Unabhängigkeit Taiwans ist ebensowenig eine Option wie eine Vereinigung der demokratischen Republik China auf Taiwan mit der totalitären VR China auf dem chinesischen Festland. Der einzig gangbare Weg ist und bleibt die Wiedervereinigung der beiden Seiten zu einem freien, demokratischen Staat mit gerechter Verteilung des Wohlstandes, basierend auf den Grundsätzen von Vernunft, Frieden, Gleichheit und Gegenseitigkeit.

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