29.04.2024

Taiwan Today

Kultur

Gestichelte Schönheit

04.09.2015
Leeres Herz (2014). 88 × 88 cm, von Hsiao Yun-ting. (Foto mit freundlicher Genehmigung von TAQS)

Manchmal beginnt der Weg zum künstlerischen Schaffen mit einer beiläufigen Bemerkung. So begab es sich bei Lin Hsin-chen, die es bei der Quilt-Kunst zu Meisterschaft gebracht hat. „Mein Ehemann kann gut mit Nadel und Faden umgehen“, erzählt Lin von einem peinlichen Augenblick vor 28 Jahren. „Einmal machte er sich über mich lustig, weil ich noch nicht mal wusste, wie man einen Knopf annäht.“ Die Stichelei des Gatten veranlasste sie, ihre Näh-Fertigkeiten zu perfektionieren, was sie wiederum dazu brachte, es mit Patchwork zu versuchen und dann die Quilt-Kunst zu erkunden. Im Jahr 2004 wurde eine ihrer Kreationen erstmals im Ausland ausgestellt, an der Indiana University of Pennsylvania in den USA. Die Künstlerin betrachtet dies als Wendepunkt für sie in der Welt der Quilt-Kunst. Drei Jahre später gründete Lin in der südtaiwanischen Stadt Tainan die Kunstquilt-Gesellschaft Taiwan (Taiwan Art Quilt Society, TAQS), ein Meilenstein bei der Entwicklung der Kunstform im Inland.

Die Herstellung von Patchwork-Accessoires wie Handtaschen und Geldbörsen ist seit langem ein beliebtes Hobby in Taiwan, besonders bei Frauen. Die ersten Schritte unternehmen viele, indem sie ein Buch über das Kunsthandwerk lesen oder einschlägige Kurse besuchen. Lin lernte Patchwork autodidaktisch und las dazu westliche Publikationen, auch wenn das meiste verfügbare Lehrmaterial in Taiwan von japanischen Fachleuten verfasst worden war. „Durch diese Bücher haben japanische Kunsthandwerker eine entscheidende Rolle dabei gespielt, vielen Interessierten in Taiwan dabei zu helfen, ihr Können beim Patchwork zu verfeinern“, meint Lin. „Allerdings ging der japanische Einfluss nicht wirklich darüber hinaus.“

Neid (2014). 102 × 79 cm, von Chuang Huei-lan. (Foto mit freundlicher Genehmigung von TAQS)

Yeh Mei-hua kam 1993 mit der Herstellung von Patchwork-Accessoires in Berührung, als sie an Kursen in der zentraltaiwanischen Stadt Taichung teilnahm. Drei Jahre später eröffnete sie in der Stadt ihr eigenes Atelier und begann, Anfängern Unterricht zu erteilen. Sie hatte jedoch noch nie Quilt-Kunst zu Gesicht bekommen, bis sie die erste internationale Quilt-Ausstellung Taiwan besuchte, die 2009 von der TAQS in Tainan organisiert wurde. „Ich war überwältigt“, beschreibt die 48-Jährige ihren Eindruck von den Exponaten bei der Ausstellung. „Ich hatte nicht geahnt, dass Patchwork dieses künstlerische Niveau erreichen konnte. Was ich bei der Ausstellung zu sehen bekam, war völlig anders als das, was ich machte.“

„Bei der Herstellung einer Handtasche geht es ausschließlich darum, ein toll aussehendes Patchwork-Design mit geometrischen Mustern anzufertigen, doch bei der Quilt-Kunst spielen die Seele und der Geist des Künstlers eine zentrale Rolle“, definiert die Quilt-Künstlerin Chen Chin-luan. „Es dreht sich darum, die eigenen Gefühle auszudrücken, wenn man alleine mit der Nadelarbeit dasitzt.“ Chen fügt hinzu, dass sie sich besonders ruhig fühlt, wenn sie an einem Stück arbeitet.

Ohne Zweifel hat die TAQS der Quilt-Kunst in Taiwan großen Auftrieb gegeben. Die Organisation entstand aus einem Patchwork-Kurs, den Lin seit dem Jahr 2000 an einer Volkshochschule in Tainan erteilt, und die TAQS hat heute über 60 Mitglieder im ganzen Land (nur eines von ihnen männlichen Geschlechts). Die Gruppe dient als Forum für diese Liebhaber der Quilt-Kunst, die sich regelmäßig treffen, um gegenseitig ihre Kreationen zu begutachten. Noch wichtiger ist, dass TAQS Veranstaltungen organisiert wie die internationale Quilt-Ausstellung Taiwan, die nicht nur den Horizont der einheimischen Künstler erweitern soll, sondern auch die Talente aus dem Inland der Welt vorstellt. Bislang hat die TAQS diese Ausstellung zweimal ausgerichtet, nämlich 2009 und 2012. Die dritte Ausstellung ist für März 2016 vorgesehen und soll unter dem Motto „Umweltschutz“ stehen. Die TAQS hat bereits begonnen, Arbeiten aus dem In- und Ausland zu sammeln, die vor November dieses Jahres den Veranstaltern vorgelegt werden müssen, um bei der Ausstellung dabei sein zu können.

„Bei dem Ablauf, Quilt-Kunst zu schaffen, gibt es viele Überraschungen“, enthüllt Chuang Huei-lan, die 2002 erst mit Patchwork und später mit der Quilt-Kunst anfing, nachdem sie als Lehrerin in den Ruhestand getreten war. „Wenn ich Stofffetzen mit unterschiedlichen Mustern und Farben zusammensetze, können die Ergebnisse sehr interessant und überraschend sein.“ Die internationale Ausstellung von TAQS führte sogar zu noch mehr Überraschungen: „Künstler aus dem Westen sorgen für viel Inspiration“, lobt sie. „Sie sind so kühn und frei mit ihren künstlerischen Kreationen, und sie verwenden bei ihrer Arbeit ein großes Spektrum von Materialien.“

Das ursprüngliche Design von Unschuldige Glückseligkeit (2013) wurde von Lin Hsin-chen aus Taiwan gestaltet. Danach arbeiteten Keiko Morita aus Japan und Park So-young aus Südkorea an dem Quilt mit den Abmessungen 114 × 86 cm. (Foto mit freundlicher Genehmigung von TAQS)

Gleichzeitig hat sich die TAQS-Ausstellung nach und nach im Ausland einen Namen gemacht. Während sich die erste und die zweite Ausstellung auf einzelne Künstlerinnen und Künstler konzentrierten, werden bei der dritten Gruppenbeiträge von nationalen Quilt-Organisationen aus aller Welt im Mittelpunkt stehen, und viele von ihnen werden Kunstwerke schicken, die von ihren bekanntesten Mitgliedern geschaffen wurden. Laut Lin hatten sich bis Mai dieses Jahres bereits Organisationen aus 12 Ländern für die Ausstellung im kommenden Jahr angemeldet.

Lins Ruf ist sicherlich hilfreich dabei, die Aufmerksamkeit internationaler Quilt-Künstler auf die Ausstellung zu lenken. Die Künstlerin zählt zu den 16 taiwanischen Mitgliedern von Studio Art Quilt Associates, einer der angesehensten Quilt-Gruppen der Welt mit Sitz in Storrs (Connecticut, USA). Außerdem ist sie die einzige Künstlerin aus Taiwan, die zur Ausstellung „Quilt National“ eingeladen wurde, die alle zwei Jahre in Ohio stattfindet und als eine der größten und wichtigsten Ereignisse ihrer Art gilt.

TAQS organisiert daneben die Ausstellung „Horizons of Art Quilts“, eine für taiwanische Künstler vorbehaltene Ausstellung. Diese fand erstmals 2010 in Tainan statt, die zweite ging 2011 auf Schauplätzen in Taichung und Tainan über die Bühne. Zwar pausierte die Ausstellung 2012 und 2013, erfuhr jedoch im vergangenen Jahr als Wanderausstellung ein Comeback. Dabei wurden vier Schauplätze im ganzen Land besucht, darunter das Mode-Institut Taipeh, eine multifunktionale Einrichtung, die vom Textilverband Taiwan — einer Gewerbevereinigung mit staatlicher Finanzierung — betrieben wird. Die Ausstellung von 2014 zeigte 51 Quilts und war auch deswegen bedeutsam, weil sie mit einer Schau verbunden wurde, die Objekte vom Round Robin Quilt Creative Project vorführte, einem internationalen Programm für die Schaffung von Gemeinschaftsarbeiten. Die gemeinsame Ausstellung erwies sich als so populär, dass TAQS sie ins Jahr 2015 ausdehnte und dem Tourneeplan vier weitere Stationen hinzufügte.

Nach Lins Worten war das Round Robin Quilt Creative Project, das gleichfalls von TAQS organisiert wurde, in der Welt der Quilt-Kunst eine Neuheit. Je zwanzig Künstlerinnen und Künstler wurden aus drei Ländern ausgewählt — Taiwan, Japan und Südkorea. Jeder dieser 60 Künstler initiierte einen Quilt und legte auch das Thema für die Arbeit fest. Das Stück wurde dann an je einen Quilt-Künstler in den beiden anderen Ländern weitergeschickt, welche die Arbeit an dem Stück fortsetzten. Der Initiator jedes Quilt hatte dann das letzte Wort darüber, wie das Stück am Schluss aussehen sollte, und blieb überdies im Besitz der Eigentumsrechte an dem vollendeten Objekt. Lin hatte die Idee 2011 an TAQS-Schwesterorganisationen in Japan und Südkorea übermittelt, im Jahr darauf nahmen die Künstlerinnen und Künstler die Arbeit an ihren Quilts auf. Bis 2013 waren alle 60 Quilts fertig.

„Das Projekt war durchführbar, weil die drei Länder viele kulturelle Merkmale gemeinsam haben“, meint Lin. Ein Beispiel ist Whirlpool, ein von Chang Su-ping in Taiwan initiierter Quilt. Das Stück besteht aus Indigo-gefärbtem Stoff, und diese traditionelle Handwerkstechnik ist in allen drei Ländern bekannt. Die Vermischung ostasiatischer Ästhetik hatte oft aufregend unerwartete Resultate zur Folge, berichtet Lin. Sie vermerkt jedoch, dass manche Quiltkünstler im Westen von der Idee weniger angetan waren, da es ihnen laut Lin nicht passte, dass andere Künstler bei ihren Kreationen mitzureden hatten. Dennoch ist Lin hinsichtlich künftiger Kooperationsprojekte optimistisch. „Durch dieses Programm wollte ich außerdem die Botschaft übermitteln, dass TAQS im Rahmen ihrer Bemühungen, global aktiv zu sein, bereit wäre, auch mit Künstlern anderswo in der Welt zu arbeiten“, begründet sie.

In jedem Fall lassen taiwanische Künstler in der Regel typisch lokale Elemente in ihre Werke einfließen, ob die Objekte nun als Teil kooperativer Anstrengungen entstehen oder als Solo-Stücke. In dem Quilt Unschuldige Glückseligkeit, der aus dem Round Robin Quilt Creative Project hervorging, verwendete Lin ein Stück Stoff mit einem Motiv des historischen Fort Zeelandia in Tainan. Das Werk Muße, ein Individualwerk von der TAQS-Präsidentin Lin Mei-hui, besteht wiederum zum Teil aus traditionellem taiwanischen Stoff mit Päonien-Blumenmuster, und es wurde 2013 beim Internationalen Quilt- und Faser-Festival der Jurys und Juroren, welches das La Conner Quilt and Textile Museum im US-amerikanischen Bundesstaat Washington organisiert hatte, mit dem Juroren-Preis ausgezeichnet.

Muße (2012). 90 × 74 cm, von Lin Mei-hui.(Huang Chung-hsin)

Quilt-Macher schenken der Art von Textilien, die in einem Werk verarbeitet werden, sorgfältige Aufmerksamkeit und achten nicht nur auf die darauf gedruckten Muster. Lin benutzt für ihre Werke zum Beispiel kein Leinen, weil in Taiwan kein Flachs angebaut wird, während solcher Stoff von Künstlern aus Ländern mit Flachsanbau wie Japan und Südkorea verwendet wird. Chuang Huei-lan denkt darüber nach, zur Herstellung von Werken Stoff von einem Qipao — einem klassischen chinesischen Etuikleid — zu benutzen sowie Stoffstücke, die ihre verstorbene Mutter und Schwiegermutter hinterließen. „Diese Textilien mit einzuarbeiten ist bedeutsam, weil sie einzigartige Vermächtnisse aus einem bestimmten Zeitabschnitt in der Vergangenheit sind“, erläutert sie. Auf die Frage, ob sie es schade findet, Gewänder von älteren Generationen zu zerschneiden, antwortet Chuang mit einem entschiedenen „Nein“ und führt aus: „Meine Nachfahren werden die Klamotten vielleicht eines Tages einfach wegwerfen, doch in meinen Kunstwerken werden die Menschen sie für alle Zeiten bewundern können.“

In der Tat geht es bei Kunst-Quilts nicht einfach nur um ästhetische Schönheit. Wie die TAQS-Gründerin Lin Hsin-chen feststellt, reflektieren sie auch Geschichte und das gemeinsame Gedächtnis eines Ortes. „Nadelarbeit wird in der modernen Gesellschaft eigentlich größtenteils ignoriert“, urteilt sie, während sie Stich für Stich an einem Quilt mit Taglilien-Motiv die letzten Details vollendet. „Dabei kann man damit so viel erreichen.“ Nadelarbeit ist vielleicht heute nicht so beliebt wie in der Vergangenheit, doch dank Enthusiasten wie Lin sieht es so aus, als ob Quilt-Kunst in Taiwan bestimmt mehr Aufmerksamkeit wird erregen können und auf der Weltbühne immer besser wahrnehmbar wird.

—Deutsch von Tilman Aretz
—Quelle: Taiwan Review, 07/01/2015 (Juli 2015, S. 12-17)
—Zuschriften an die Taiwan heute-Redaktion unter taiwanheute@yahoo.com

Kontakt (2014). 105 × 76 cm, von Yeh Mei-hua. (Foto mit freundlicher Genehmigung von TAQS)

Wieder zu Hause (2014). 110 × 79 cm, von Chen Chin-luan. (Foto mit freundlicher Genehmigung von TAQS)

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