07.05.2024

Taiwan Today

Kultur

Die Löwen erwecken

26.02.2015
Mitglieder der Löwentanz-Truppe WIN bei der Probe ihres Hauptstücks des Jahres 2014 „Wundervolles Schicksal in den Bergen“. Das Ensemble ist im Norden Taiwans in New Taipei City beheimatet. (Foto: Chang Su-ching)

Die Löwentanz-Truppe „WIN“ bewahrt und bereichert eine jahrhundertealte Tradition.

Vor ihrem ersten Auftritt in Europa, Mitte Herbst in der lettischen Hauptstadt Riga, waren die Mitglieder der Löwentanz-Truppe „WIN“ gleichzeitig aufgeregt und besorgt. Das Tanzensemble kommt aus New Taipei City in Nordtaiwan und praktiziert eine exotische Tanztradition, die in früher Zeit am kaiserlichen Hof in China entwickelt wurde, aber heute auch in Hongkong, Japan und Vietnam gepflegt wird. Die Tänzer waren überzeugt, mit ihrer Darbietung das Interesse der baltischen Zuschauer erwecken zu können, aber niemand konnte vorhersehen, wie erfolgreich der Auftritt sein würde. Bald zeigte sich, dass die Sorge unbegründet war, denn das Publikum war hellauf begeistert.

„Die Leute waren hingerissen“, erinnert sich Chen Chin-yi, der Direktor des Ensembles. Das Wetter war anfangs ein wenig regnerisch, klarte aber später auf. Immer mehr Fußgänger aus der Umgebung fanden sich im ältesten Park der Stadt, dem Vērmanes-Garten, ein, um die Darbietung zu verfolgen. Live gespielte Trommeln, chinesische Zithern und Gongs weckten die Neugierde des Publikums, das alsbald einen echten Löwentanz geboten bekam, bei dem kostümierte Tänzer gekonnt von Säule zu Säule springen, die zwischen 60 cm und 3 m hoch sind. „Das hat uns gleich zum Beginn unserer Europatour viel Mut gemacht“, sagt Direktor Chen. Der Auftritt in Riga war Teil einer dreiwöchigen Nordeuropa-Tournee zehn erfahrener Ensemble-Mitglieder, die weiter nach Estland, Finnland und Schweden führte. Rund 7300 Zuschauer besuchten die acht kostenlosen, einstündigen Darbietungen. Finanziert wurde die Tournee vom Außenministerium der Republik China.

Applaus sind Direktor Chen und seine Tänzer gewohnt, und auch in Europa waren ehrfurchtsvolles Raunen und begeisterte Zurufe des Publikums fester Bestandteil jeder Show. Das seit 2001 bestehende Ensemble tritt regelmäßig im TaipeiEYE auf, einem 2004 mit privaten Geldern gegründeten Theater in Taipeh, das sich der traditionellen chinesischen und taiwanischen Kunst verschrieben hat. Von Zeit zu Zeit geht die Tanztruppe auf Auslandstournee. Vor zwei Jahren war WIN die einzige taiwanische Künstlergruppe, die im Rahmen der Weltausstellung im südkoreanischen Yeosu auftrat und im Laufe eines Monats bei 48 Darbietungen die Zuschauer begeisterte.

Die Tanztruppe WIN vor neugierigen Zuschauern bei einer Säulensprung-Darbietung im finnischen Helsinki Ende August 2014. (Foto mit freundlicher Genehmigung der Taipei-Vertretung in Finnland)

„Erweckter Löwe“

Der 35-jährige Chen ist der jüngste von vier Brüdern. Im Alter von neun Jahren erlernte er den Löwentanzstil „Erweckter Löwe“ im ersten Tanzensemble seiner Familie, der Guang-hui-Löwentanz-Truppe. Zu der Zeit traten Guang-hui und andere Gruppen vor allem bei Tempelfesten auf. „Wir wollten das ändern und suchten nach Auftrittsmöglichkeiten in Theatern“, erinnert sich Chen Chin-hung, der gemeinsam mit seinen Brüdern Chen Chin-yi und Chen Chin-der das Ensemble WIN gegründet hat. Der älteste Bruder Chen Chin-hui hingegen entschloss sich, bei Guang-Hui zu bleiben.

WIN unterscheidet sich von Guang-hui und anderen Tanzgruppen durch die Inklusion moderner Theaterelemente wie Beleuchtung und Inszenierung. In ihrer stilbildenden Darbietung „Die Legende des erweckten Löwen“ im Jahr 2012 fanden Hightech-Elemente wie gigantische 3-D-Hologramme an den Bühnenseiten Anwendung. WIN ist außerdem bekannt dafür, alte Löwentanz-Themen wiederzubeleben, die andere Ensembles längst vergessen haben, und klassische Figuren ins Spiel aufzunehmen. Um ihre künstlerischen Ambitionen weiter zu vertiefen, wandten sich die Chen-Brüder sogar an Lin Min-guo, einen in Malaysia lebenden Experten für klassische Erzählstoffe und deren praktische Umsetzung. Das Hauptstück „Wundervolles Schicksal in den Bergen“ des Jahres 2014 basiert auf einem volkstümlichen Löwentanzstück, das von einem betrunkenen Löwen und einer sogenannten „Faulen Frau“ in den Hauptrollen handelt. Beide streiten zuerst miteinander, versöhnen sich dann und erleben schließlich ein Happy-End.

„Das WIN-Ensemble setzt sich höhere Ziele als andere Gruppen. Finanzielle Interessen sind nicht vorrangig“, betont Nien Yu-hsian, Professor an der Fakultät für artistische Darbietungen der University of Taipei. Diese 2007 gegründete Fakultät ist einzigartig in Taiwans Hochschulwesen und bietet unter anderem Kurse in Street-Dance und Löwentanz an. Professor Nien ist Fachmann für Löwentanz und WuShu,eine traditionelle chinesische Kampfkunst. Er besucht öfter Löwentanz-Ensembles in ganz Taiwan und wurde zu einem Berater für WIN, nachdem er erfuhr, dass die Chen-Brüder Löwentanz als Kunstform etablieren möchten, ohne seine Traditionen zu vernachlässigen.

Die Vizeaußenministerin der Republik China, Vanessa Shih, traf die Mitglieder des WIN-Ensembles vor deren Abreise zur ersten Europa-Tournee. (Foto: Chang Su-ching)

Chen Chin-yi, der Film- und Fernsehproduktion an einer höheren Berufsschule studierte, schreibt jedes Jahr zwei bis drei neue Choreografien, obwohl nur einige tatsächlich auf der Bühne umgesetzt werden. Zu den langen Stücken von WIN zählen seine Choreografie „Der Rhythmus des Lebens“ (2008) und „Leben auf Tempelfesten“ (2010). Das erste Stück enthält modernen Tanz sowie Live-Percussion und versucht darzustellen, wie ein ungeborenes Kind den Herzschlag seiner Mutter wahrnimmt. Das zweite Stück ist autobiografischer Natur und thematisiert das Leben der Chen-Brüder, die schon im Kindesalter an Tempelfesten teilgenommen haben.

Tanz als Erwerbstätigkeit

Seit 2003 erhält das WIN-Ensemble finanzielle Unterstützung durch lokale Behörden. Aber Chen Chin-hung, der nicht nur als Künstler aktiv ist, sondern auch die geschäftlichen Angelegenheiten regelt, verweist darauf, dass 80 Prozent der Einnahmen durch kommerzielle Auftritte erzielt werden. „Die Zahl der Kunstfestivals in Taiwan hat zugenommen. Dadurch haben wir mehr Auftritte“, erklärt Chen und ergänzt, dass die Gruppe WIN vor allem zu Eröffnungsfeiern von Festivals eingeladen wird.

Dennis Huang ist das dienstälteste Mitglied von WIN. Der heute 32-Jährige trat schon vor der offiziellen Gründung vor 13 Jahren mit der Gruppe auf. Die meisten Menschen glauben, Löwentanz sei kein dauerhafter Job, aber der Erfolg von WIN hat neue Möglichkeiten aufgezeigt. „Meine Freunde und Verwandten hatten nichts dagegen, dass ich als Teenager Löwentanz betrieb, aber meinten, ich sollte mir mit zunehmendem Alter eine ‚normale‘ Arbeit suchen“, erinnert sich Dennis Huang. Dank zunehmender Popularität sah sich WIN imstande, gute Mitarbeiter wie Huang langfristig zu binden. In den Anfangsjahren bekam er nur Auftrittshonorare, aber heute bezieht er ein monatliches Einkommen.

Neben ihrer Erwerbstätigkeit als Kunstensemble hat WIN aber auch erkannt, wie wichtig die Wahrung von Traditionen durch Bildung ist. Fünf Tänzer der Gruppe, unter ihnen Dennis Huang, lehren Löwentanz an verschiedenen Schulen in New Taipei City. „Dieses Bildungsangebot ist gleichzeitig eine gute Möglichkeit, um mehr Zuschauer für Löwentanz zu interessieren“, betont Huang, der Kinder im Alter von neun bis zwölf Jahren aus dem Stadtbezirk Tucheng unterweist. „Die Schüler lernen nicht nur Löwentanz-Akrobatik, sondern erfahren zudem viel über Kultur und Geschichte dieser Tradition.“

Das WIN-Ensemble schafft Volksfestatmosphäre bei seinem Auftritt in Riga. (Foto mit freundlicher Genehmigung der Taipei-Vertretung in Lettland)

Darbietungen statt Wettbewerbe

Die Erfolge spiegeln sich in wachsendem öffentlichen Interesse an Löwentanz wider. In Gesellschaften mit lebendiger chinesischer Kulturtradition wie Festlandchina, Malaysia und Taiwan dienen Löwentanz-Wettkämpfe als Motor für die Entwicklung der Kunstform. Von dort gehen auch Bemühungen aus, Löwentanz als offizielle Sportart in die Asienspiele zu integrieren. Wichtige Unterstützung erhielt dieses Anliegen in Taiwan, wo bereits 2004 bei den staatlich organisierten Citizens Games, die seit 2000 alle zwei Jahre stattfinden, Drachen- und Löwentanz offizielle Bestandteile waren. Beide Tanztraditionen wurden ursprünglich vom WuShu-Verband der Republik China gefördert. Seit 2003 wurde diese Aufgabe vom Verband für Drachen- und Löwentanz Chinesisch-Taipei übernommen. Die Aufnahme in die Citizens Games 2004 war ein wichtiger Erfolg dieser Umstrukturierung. Der taiwanische Verband ist Mitglied des in Beijing ansässigen Internationalen Dachverbands für Drachen- und Löwentanz. Jedes Jahr organisiert der Verband für Drachen- und Löwentanz Chinesisch-Taipei Wettkämpfe, um Teilnehmer für große internationale Wettbewerbe auszuwählen.

WIN hat sich jedoch entschlossen, nicht an Wettbewerben teilzunehmen, sondern sich stattdessen auf kreative Darbietungen als Kunstensemble zu konzentrieren. „Jeder, der sich für das faszinierende Kulturerbe Löwentanz und den Erhalt der Tradition einsetzt, verdient Anerkennung“, sagt Chen Chin-yi. Das wachsende Interesse am Löwentanz ist der Hingabe und dem Können sowohl von Wettkampfteilnehmern als auch moderner Kunstensembles wie WIN zu verdanken. Indem sie Traditionen bewahren und gleichzeitig neue Grenzen ausloten, tragen die Löwentanz-Ensembles dazu bei, neue Bewunderer im In- und Ausland zu gewinnen.

Der Ursprung der Löwentanz-Tradition

Die Kunst des Löwentanzes lässt sich in Festlandchina zurückverfolgen bis zur Tang-Dynastie (618–907). Anfangs waren die Darbietungen dem kaiserlichen Hof in Nordchina vorbehalten, aber im Laufe der Zeit wurde die Kunst auch im Süden populär und beschränkte sich alsbald nicht mehr nur auf aristokratische Kreise. Die Hauptvarianten — der Nordchinesische Löwe und der Südchinesische Löwe — unterscheiden sich in einigen Punkten. Zum Beispiel wird in der nordchinesischen Tradition zumeist ein Löwenpärchen dargestellt, wobei ein Tänzer einen kugelförmigen Gegenstand in der Hand hält. Im Süden ist diese Regel nicht üblich. Dank langer, struppiger Haare ähneln die Kostüme der nordchinesischen Tänzer stärker richtigen Löwen. In der südchinesischen Schule, die auch als „Erweckter Löwe“ bekannt ist, finden sich die Variationen „Foshan-Löwe“ und „Heshan-Löwe“. Diese Namen stammen von zwei Gegenden der Provinz Guangdong, die Ursprung dieser Schulen waren. „Der Foshan-Löwe zeichnet sich durch kraftvolle Bewegungen aus, während der Heshan-Löwe eher verspielt und katzenhaft agiert“, erklärt Professor Nien Yu-hsiang von der Fakultät für artistische Darbietungen der University of Taipei.

Laut Professor Nien bezieht sich die geläufigste Interpretation des Namens „Erweckter Löwe“ auf das Ende der Qing-Dynastie (1644-1911), als China sehr schwach war und eine bürgerliche Regierung letztlich den Kaiser vom Thron vertrieb. Zu jener Zeit wurde China mit einem schlafenden Löwen verglichen. Um ihre Landsleute moralisch aufzurichten, beschlossen Löwentänzer aus der Provinz Guangdong, künftig den Namen „Erweckter Löwe“ zu führen.

Nach Taiwan kam der Löwentanz mit frühen Einwanderern aus der festlandchinesischen Provinz Fujian. Sie brachten einen Tanzstil mit, der sich durch einen grüngesichtigen Löwen auszeichnet und Fertigkeiten in der Kampfsportart WuShu voraussetzt. Als sich Ende der vierziger Jahre die von der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) geführte Regierung der Republik China nach Taiwan zurückzog, brachten Neuankömmlinge aus Guangdong die südchinesische Variante des Löwentanzes mit auf die Insel. In den späten sechziger Jahren übernahmen taiwanische Tanzensembles den südchinesischen Stil. Der grüngesichtige Löwe aus Fujian hat seine ursprüngliche Popularität vor allem deshalb eingebüßt, weil die Guangdong-Schule durch atemberaubende Stilelemente wie Säulenspringen beeindruckt. Professor Nien ergänzt: „Es gibt keine eigenständige Kategorie für ,Taiwanischen Löwentanz‘ bei internationalen Wettkämpfen. Das hat ebenfalls die Entwicklung dieses Tanzstils beeinträchtigt.“

(Deutsch von Sven Meier)

—Quelle: Taiwan Review, Dezember 2014
—Zuschriften an die Taiwan heute-Redaktion unter taiwanheute@yahoo.com

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