28.04.2024

Taiwan Today

Kultur

Bilder einer Stadt im Wandel

05.02.2015
Geburt – Leben (1998)Verschiedene Materialien, 181 x 450 x 8,5 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Lu Hsien-ming)

Kontrast zur Entwicklung urbaner Räume gesetzt.

Alltäglicher Baustellenlärm, der die Konstruktion unzähliger Schnellstraßen und Überführungen im Taipeh der achtziger Jahre begleitete, hat sich in die Erinnerungen vieler Stadtbewohner eingebrannt. Gemeinsam mit dem folgenden massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrssystems änderte sich das Antlitz der Stadt so radikal, dass manche Betrachter darin sogar eine ständige Quelle des Nachsinnens erschlossen. So auch der Künstler Lu Hsien-ming, der seit seiner Geburt 1959 in Taipeh lebt und die Umwandlung der Stadt hautnah erfahren hat. Dies hat ihn so beeindruckt und inspiriert, dass fast alle seiner Kunstwerke der letzten 30 Jahre die Veränderung urbaner Räume thematisieren.

Lu erinnert sich noch gut daran, wie er in den späten achtziger Jahren mit einem Motorrad durch die Straßen und Gassen Taipehs fuhr, wo allerorten der Lärm der Baustellen widerhallte. „Die Luft war erfüllt vom Tackern der Presslufthämmer, dem Scharren der Planierraupen und Kreischen der Betonmischer“, weiß er zu berichten. „Die Schnelligkeit der Veränderungen machte mich schwindlig. Ich wollte den Wandel dokumentieren, bevor es zu spät war.“ Daher sind in Lus Bildern oft Planierraupen, Betonmischer, Muldenkipper oder Bauarbeiter auf Gerüsten zu sehen.

Sich treiben lassen... (2014)Verschiedene Materialien, 270 x 615 x 150 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Lu Hsien-ming

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre entstanden in der ganzen Stadt mehrgeschossige Büro- und Wohnhäuser sowie Straßenüberführungen für Kraftfahrzeuge, Fußgänger und Eisenbahnzüge. Diese Konstruktionen übten auf Lu eine besondere Anziehungskraft aus. „Überführungen gehören zu meinen Lieblingsbauten. Sie sind ein Symbol für die Weiterentwicklung einer Stadt. Sie verbinden Menschen mit Orten, aber auch die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft“, betont Lu. Es sei seine künstlerische Absicht, so Lu, zu zeigen, wie sich Taipeh über die Jahre verändert hat, und den Betrachter über die Kluft zwischen der Vision einer modernen Stadt und der entstandenen Realität nachsinnen zu lassen.

Nachdem Lu 1982 sein Studium an der Kunstabteilung der Chinese Culture University in Taipeh abgeschlossen hatte, arbeitete er die nächsten acht Jahre ausschließlich mit Ölfarben. Mit dem Übergang der taiwanischen Industrie ins Hightech-Zeitalter ab 1990 begann Lu mit anderen Materialien wie Eisen, Stahl und LEDs zu experimentieren, um seiner Kunst mehr Modernität und Kreativität zu verleihen.

Sich treiben lassen... (2014) Verschiedene Materialien, 270 x 615 x 150 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Lu Hsien-ming

„Eisen, Stahl und LEDs sind Produkte industrieller Technologie und symbolisieren die moderne urbane Gesellschaft“, erläutert Lu. „Sie sind die perfekte Ergänzung zu meiner Kunst, die sich mit Urbanität beschäftigt. Ich bevorzuge hochfeste Metalle, die sich kalt anfühlen, um die Gleichgültigkeit und emotionale Entfremdung auszudrücken, die man spürt, wenn man durch eine moderne Stadt geht.“

Manche sehen Urbanisierung als einen Weg zu Fortschritt und Wohlstand, als etwas Begrüßenswertes, weil sich die Lebensbedingungen dadurch verbessern. Aber Lu bedauert den Verlust nachbarschaftlicher Viertel, die oftmals seelenlosen Konstruktionen weichen mussten. „Die schnelllebige städtische Umgebung hat das traditionelle Erfahren von Raum und Zeit tiefgreifend verändert“, analysiert Lu. „Gefühle wie Entfremdung, Isolation und Einsamkeit werden verstärkt. Ich mag es, in meiner Kunst der Verbindung zwischen Menschen und ihrer Umgebung nachzuspüren und die Folgen der rasanten Urbanisierung darzustellen.“

Typische Motive in Lus Werken sind schwere Baufahrzeuge, Hochstraßenkonstrukte oder ein alter Mann, der allein eine leere Straße entlanggeht. Nach eigenen Worten fand Lu schon immer Gefallen daran, andere Menschen zu beobachten und sich vorzustellen, was diese schon alles erlebt haben mögen. Er malt besonders gern alte Menschen, denn diese haben viel erfahren und gesehen oder vielleicht sogar aktiv am Wandel der Stadt teilgenommen. Die Darstellung alter Menschen, erklärt Lu, sei ein ausdrucksstarkes Mittel, um die lange Zeiträume überspannende, urbane Entwicklung zu symbolisieren.

Vielfalt der Darstellung

Vier Rhythmen Taipehs (2008) Verschiedene Materialien, 141 x 81 cm, vierteilig (Foto mit freundlicher Genehmigung von Lu Hsien-ming)

In Lu Hsien-mings Kunst spiegeln sich persönliche Erfahrungen und Beobachtungen seiner Umgebung wider. „Mein Fokus ist gleich geblieben, aber ich benutze heute verschiedenartige Darstellungsformen, Techniken und Materialien. Dies ist Ausdruck der veränderten Umwelt und neuer Technologien“, sagt Lu und fügt hinzu: „Ich hoffe, der Betrachter meiner Werke bekommt ein Verständnis für die Person oder den Gegenstand, den ich zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Daseins abbilde.“

Die Kunstkritikerin Lee Wei-jing berichtet, dass Lu seinen einzigartigen visuellen Stil 1991 im Zuge seiner ersten Bilderserie von Straßenüberführungen entwickelte. „Lu malte diese Serie mit breiten Pinseln“, erinnert sich Lee. „Er schuf dicke Farbschichten und raue Oberflächen mit Reliefstruktur, die die wuchtigen Strukturen und die Dynamik der urbanen Entwicklung nachvollzogen. Diese Bilder waren ohne Menschen. Sie sollten zeigen, dass neue Infrastrukturprojekte Bewohner aus ihren angestammten Nachbarschaften vertrieben hatten, weil deren Wohnhäuser abgerissen wurden.“

1995 begann Lu eine neue Serie mit dem Titel „Menschen“. Zu der Zeit hatte er kein stabiles Einkommen und litt an seiner prekären Situation. In der Serie rückte er arme und ausgegrenzte Menschen in den Mittelpunkt, die täglich ums Überleben kämpfen müssen, wie Müllsammler, Straßenhändler, Obdach- und Arbeitslose. „In seiner Serie Menschen zeichnete Lu sehr detailliert Personen, ihre Gesichter und Gesten. Diese realistische Wiedergabe enthüllt den emotionalen und körperlichen Zustand der dargestellten Individuen“, erklärt Lee. „Der neue Malstil unterschied sich stark von den breiten, unbändigen Pinselstrichen, welche die Strukturen seiner Überführungen-Serie auszeichneten. In der Menschen-Serie zeigt sich Lus menschliche Seite besser, seine Sympathie für Benachteiligte, die er in filigraner, realistischer Weise darstellt.“

Tao Wen-yueh, Kunstdozent an der National Taiwan University of Arts (NTUA) im Bezirk Banqiao von New Taipei City, teilt Lees Einschätzung, dass Lu Hsien-ming seinen markanten Stil bei der Arbeit an den Überführungs- und Menschen-Serien entwickelt hat. Tao beschreibt das wie folgt: „Lu ist bekannt für seine urbanen Motive in seinem vielfältigen Werk. Er verfügt über einzigartige, sehr originelle künstlerische Mittel, um Stadtszenen in seinen Gemälden wiederzugeben. Seine Kunst reflektiert die strukturellen Veränderungen in der taiwanischen Gesellschaft im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung.“

Aktive Beobachtung

Großvaters Geschichten (1996) Verschiedene Materialien, 175 x 450 x 66 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Lu Hsien-ming)

Tao Wen-yueh verweist darauf, dass Kunst über urbane Räume in der Regel mit Künstlern assoziiert wird, die — wie Lu — selbst in Städten wohnen. Dank jahrelanger Beobachtungen und ausgefeilter Techniken ist Lu in der Lage, ein wahrheitsgetreues und lebendiges Abbild der Menschen und Strukturen in Taipeh zu schaffen. Darüber hinaus schöpft Lu Hsien-ming die visuellen Möglichkeiten und Formensprache verschiedener Materialien aus. „Lu scheut sich nicht, neue Techniken auszuprobieren. Die Inklusion scrollender LEDs und rostfreien Stahls in seine Gemälde sind ein kreativer Durchbruch. Die Zuhilfenahme industrieller Materialien macht aus einem zweidimensionalen Bild eine räumliche Anordnung, die schon fast Installationskunst darstellt“, sagt NTUA-Dozent Tao. „Der Kontrast zwischen Ölgemälde und Metall kreiert eine einzigartige visuelle Erfahrung.“

Lu verwendet rostfreien Stahl zur Rahmung seiner Bilder oder montiert das Metall sogar direkt auf die Leinwand. Tao ergänzt, dass diese Stilelemente den Betrachter nicht zuletzt durch die Spiegelungen der polierten Metalloberflächen überraschen. In Taiwan werde rostfreier Stahl von einheimischen Künstlern vor allem für Skulpturen verwendet. Lu Hsien-ming sei der einzige, der dieses Material in Gemälden einsetzt.

Der renommierte Kunstkurator und –kenner Wang Chia-chi lobt, dass Lu das Thema Urbanisierung aus einer Vielzahl innovativer Perspektiven angeht. In seiner Kunst dokumentiert und bewertet Lu die ungezähmte städtische Entwicklung, welche die urbane Landschaft stetig verändert. Darüber hinaus sucht er aktiv nach innovativen neuen Materialien und Maltechniken, fügt Wang hinzu. „Lu gibt sich nicht zufrieden mit zweidimensionaler Darstellung. Er möchte mit Hilfe von LED-Anzeigen, Stahl und dicken Malschichten eine Art zweieinhalb-dimensionale Kunst erschaffen. Die originelle Verbindung von Eisen, Stahl und Ölfarben schafft eine visuelle Intensität, durch die er sich künstlerisch hervorhebt“, sagt Wang. „Lu hat sich der Herausforderung gestellt, den kolossalen Gebilden städtischer Architektur großflächige Kunstwerke gegenüberzustellen.“

So misst jedes Einzelstück seines 2008 fertiggestellten vierteiligen Gemäldes Vier Rhythmen Taipehs, das den Wolkenkratzer Taipei 101 thematisiert, 141 x 81 Zentimeter. Das eigenständige Kunstwerk Licht in die Dunkelheit bringen (2008) ist sogar 280 x 300 cm groß.

Besonders beeindruckt Wang, wie Lu dunkle Farben mit Stahl kombiniert. Der Kurator glaubt, dass diese Verbindung den Pessimismus Lus gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung zum Ausdruck bringt und Elemente von Depression, Trauer und Gefahr symbolisiert. „Die scharfen Ecken und Kanten des Stahls verursachen beim Betrachter ein unbehagliches Gefühl. Die Verwendung von Metall, das naturgemäß kalt, hart und steif ist, zeigt die moderne Stadt als gleichgültigen, unpersönlichen Ort. Die bevorzugten Farben des Künstlers — Schwarz, Braun, Dunkelblau und Grau — erzeugen eine düstere Stimmung und lassen die Stadt als raue, trostlose Industrieumgebung erscheinen“, deutet Wang.

Urbane Einsamkeit

Das Leben ist wie ein Traum (2013) Verschiedene Materialien, Durchmesser 170 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Lu Hsien-ming)

Moderne Betonstrukturen, die allgemein für die urbane Entwicklung stehen, dominieren auch Lus Kunstwerke. Lus Gebäude und Viadukte stehen zumeist leer in scheinbar verlassenen Gegenden. Menschen sind fast nie zu sehen, weshalb sich ein Gefühl der Vernachlässigung und des Verfalls einstellt. „Lus Darstellung desolater und menschenleerer urbaner Gegenden kritisiert, dass Stadterneuerung auf Kosten alter Gebäude und Gemeinschaften geht, die neuen Häusern weichen müssen“, erklärt Wang. Lu Hsien-ming entstammt einer Mittelschicht-Familie. Sein Vater war beim Militär und kam Ende der vierziger Jahre gemeinsam mit der von der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) geführten Regierung der Republik China nach Taiwan. Lus Mutter war Grundschullehrerin. Die umfangreiche Zerstörung einstiger Wohnsiedlungen von Armeeangehörigen, die Neubauprojekten in Taipeh weichen mussten, war für den jungen Lu ein einschneidendes Erlebnis. Zudem hegt er tiefes Mitgefühl zu älteren Menschen, Obdachlosen, Armen und schlecht bezahlten Menschen in einfachen Beschäftigungen, kurz — allen Benachteiligten und Vernachlässigten.

„Lu hat einen eigenen Stil entwickelt, der alle seine Werke durchzieht. Er thematisiert in seinen Bildern die Stadt und fängt erfolgreich ihr ureigenstes Wesen ein. Dies gelingt ihm durch Darstellung urbaner Strukturen oder Menschen“, sagt Wang. „Seine Kunst soll den Betrachter nicht erfreuen, sondern die Wirklichkeit hinter urbanen Veränderungen darstellen. Lu möchte die negativen Aspekte zeigen, die Stadterneuerung welche zwischenmenschliche Beziehungen und das Leben der Armen und einfachen Leute hat. Dafür thematisiert er alltägliche Mühsal und Einsamkeit“, erklärt Wang und fügt hinzu, dass die freudlosen Szenen, die der Künstler malt, den Betrachter zum Nachsinnen und zu Selbstreflektion einladen sollen. Lu erinnert sich, dass er in jungen Jahren oftmals unzufrieden war mit politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen und dies in seinen Werken auszudrücken versuchte. Das Alter habe ihn jedoch milder gestimmt und jetzt, mit 55 Jahren, möchte er Werke schaffen, die objektiv und realistisch sind. „Ich möchte mit meinen Stadtbildern die Veränderungen dokumentieren, die in Taipeh unablässig vonstatten gehen“, sagt Lu. „Auch zukünftig möchte ich mit Mitteln der Kunst zeigen, was ich in der Stadt beobachte. Ich muss mich bemühen, noch genauere, facettenreichere und faszinierendere Wiedergaben zu schaffen. Als Künstler und Einwohner Taipehs habe ich viel Spaß daran, den ständigen Veränderungen der Stadt nachzuspüren und mich neuen Herausforderungen enthusiastisch zu stellen.“

(Deutsch von Sven Meier)
—Quelle: Taiwan Review, November 2014
—Zuschriften an die Taiwan heute-Redaktion unter taiwanheute@yahoo.com

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