29.04.2024

Taiwan Today

Kultur

Schöpferische Zerstörung

14.11.2014

Tapferkeit (2012), 50 x 40 x 30 cm

Chen San-huo bringt traditionelles Handwerk vom Tempeldach in die Kunstgalerien.

Normalerweise ist es für einen Porzellankünstler äußerst frustrierend, wenn er beim Öffnen des Brennofens feststellen muss, dass die sorgfältig gefertigte Skulptur gesprungen oder gar zerbrochen ist. Für Chen San-huo, einen Meister der Kunsthandwerksart JianNian, hingegen beginnt die Arbeit mit dem absichtlichen Zerbrechen von Schalen, Tellern und Vasen. Gemäß ihrer Farben und Formen ordnet er diese Scherben alsdann auf Betonkörpern an, die menschliche oder tierische Gestalt haben. Dadurch schafft er neue Kunstwerke. „Wir sammeln und verwenden das, was andere wegwerfen“, sagt Chen. „JianNian ist ein Handwerk, das Abfall zu Kunst macht.“

Wörtlich übersetzt bedeutet JianNian „Zerschneiden und Einfügen“ und beschreibt die Kernidee des Handwerks, dem die Skulpturen auf chinesischen Tempeldächern zu verdanken sind. Diese Figuren haben nicht nur dekorative Zwecke, sondern direkten Bezug zur chinesischen Geschichte, Literatur, Mythologie und Religion. Eine Figurengruppe, die den Dachfirst eines Tempels ziert, kann zum Beispiel eine historische Sage widerspiegeln, inklusive reitendem General, Fußsoldaten und Gehilfen. Oder auch drei Glücksgötter, die aus luftiger Höhe ihren göttlichen Willen verkünden. Dieses Kunsthandwerk hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Für neue oder renovierte Tempel wird heutzutage verstärkt farbiges Glas verwendet anstatt traditioneller Porzellanscherben, denn Glas ist billiger, leicht verfügbar, einfacher zurechtzuschneiden und farbenfroher.

Die JianNian-Kunst stammt ursprünglich aus den festlandchinesischen Küstenprovinzen Guangdong und Fujian. Anfang der 1910er Jahre brachten Zuwanderer diese Fertigkeiten nach Taiwan. Als der taiwanische Tempelbau in den zwanziger Jahren einen Boom erlebte, kamen sehr viele festlandchinesische Kunsthandwerker nach Taiwan, um an der Gestaltung der neuen Andachtsstätten mitzuwirken. Schon damals gab es unterschiedliche JianNian-Schulen, die zwar eine gemeinsame Grundlage besaßen, sich aber durch Besonderheiten und Design unterschieden. So richtete He Jin-long, ein Künstler aus Guangdong, sein Augenmerk verstärkt auf die Haltung der Skulpturen und hatte ein Faible für militärische Szenen. Hong Kun-fu hingegen, ein Meister aus Fujian, gestaltete besonders aufwändige Stücke und bevorzugte zivile Figuren.

Chen San-huo mit seinem Werk aus 2013 „Das Ohr im Wind“.

Chen San-huo, der 1949 in der Gemeinde Madou im südtaiwanischen Landkreis Tainan (heute: Bezirk Madou in der Stadt Tainan) geboren wurde, stammt aus einer Familie, die im Tempel-Kunsthandwerk tätig war. Schon als Kind kam er mit den verschiedensten Techniken in Berührung. In den Sommer- und Winterferien begleitete er seinen Vater und zwei ältere Brüder, die als Tempelmaler, JianNian-Künstler und Steinmetz tätig waren, zur Arbeit. Chens Vater wollte, dass sein Sohn Holzschnitzerei für Tempel erlernt. Aber nachdem dieser einen Sommer lang die verschiedenen Kunsthandwerker im Tempel bei der Arbeit beobachtet hatte, entschied er sich für JianNian. Chen entsinnt sich: „Ich fand es toll, wie die Kunsthandwerker Glas oder Keramik zerschnitten und dann zu neuen Kreationen zusammensetzten. Ich habe eine Weile nachgedacht und mich dann für JianNian und gegen Holzschnitzerei entschieden.“

Lehrjahre

Der junge Chen war so begeistert von seiner Arbeit, dass er auf das Abschlussjahr der Mittelschule verzichtete, um früher Geselle bei seinem Bruder Li Shi-yi zu werden. Li Shi-yi hatte sein Können bei zwei Schülern von Hong Kun-fu gelernt. Obwohl er zum Lehrmeister in familiärer Beziehung stand, konnte Chen sich nur an sehr wenigen Privilegien erfreuen. Wie bei anderen Gesellen auch reichte Chens Aufgabengebiet vom Reinigen und Essenkochen bis zur Vorbereitung der Werkzeuge und Materialien. Der einzige wirkliche Vorteil war, dass sich Meister Li Zeit nahm, seinen jüngeren Bruder tatsächlich zu unterrichten. Im normalen Meister-Gesellen-Verhältnis war dies nämlich keineswegs selbstverständlich. „Traditionell war es so, dass der Meister ständig arbeitete und die Schüler ihr Können durch Beobachtung und Nachahmung entwickelten“, erklärt Chen. „Mein Bruder war zuweilen aufbrausend, aber er hat mir alles beigebracht, was ich für JianNian wissen musste.“

Sprung (2001), 40 x 35 x 20 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chen San-huo)

Chen erinnert sich an eine Begebenheit während seiner Lehrjahre, als er einen Phönix modellierte und dafür die Federn gleichmäßig entlang der Flügel anordnete. Er war auf seine Arbeit recht stolz, aber sein Meister und Bruder Li kritisierte, dass der Vogel unnatürlich wirke. Tatsächlich weiten sich nämlich die Abstände zwischen den Federn an der Flügelspitze echter Vögel. „Mein Bruder versuchte mir beizubringen, dass ich mehr beobachten und nachdenken müsste. Ich sollte mehr auf Details achten und nicht nur andere nachahmen“, rekapituliert Chen. „Das Anbringen der Federn ist technisch kein Problem, aber wie dies geschieht, das unterscheidet den JianNian-Künstler vom JianNian-Handwerker.“

Chens Lehrzeit dauerte 40 Monate und endete 1969. Danach wurde er Geschäftspartner seines Bruders. In jener Zeit waren Tempel-Kunsthandwerker sehr gut beschäftigt, denn eine Vielzahl Tempel wurde gebaut oder renoviert. In den nachfolgenden drei Jahrzehnten bis kurz nach der Jahrtausendwende arbeiteten die beiden Brüder an 100 Tempeln in ganz Taiwan. Um ihre Reisezeit zu minimieren, wohnten die Handwerker während des Projektes gewöhnlich auf der Baustelle und zogen nach Fertigstellung zum nächsten Tempel. „Das Leben als Nomade war hart“, meint Chen rückblickend. „Aber man konnte anderen Meistern bei der Arbeit zusehen, mit ihnen sprechen und ständig hinzulernen.“

Im Laufe der Zeit vervollkommnete Chen seine Fertigkeiten auch dank der Restaurationsarbeiten an alten Tempeln. Als eine der wichtigsten Erfahrungen seines Arbeitslebens benennt er die Wiederherstellungsarbeiten am Zhujai-Tempel, der durch ein starkes Erdbeben in Mitteltaiwan am 21.September 1999 stark beschädigt worden war. Der Tempel stammt aus dem Jahre 1777 und befindet sich im heutigen Bezirk Fengyuan der Stadt Taichung. Über viele Jahre hinweg hatten zahlreiche Meister aus Festlandchina und Taiwan hier herausragende JianNian-Skulpturen im Zuge von Tempelerweiterungen oder Renovierungen geschaffen. „Um diese Werke originalgetreu zu restaurieren, musste ich Materialien, Stilrichtungen, Techniken und vieles mehr über die ursprünglichen Meister recherchieren“, berichtet Chen. „Das war viel schwieriger als die Erschaffung neuer Skulpturen, aber eröffnete mir die Chance, von großen historischen Künstlern zu lernen.“

Während seiner Arbeit am Zhujai-Tempel entwickelte Chen seine einzigartige JianNian-Technik, die sich dadurch auszeichnet, dass die Glas- oder Keramikstücke nicht, wie über Jahrhunderte üblich, in die gewünschte Form und Größe geschnitten, sondern mittels Zangen einfach unregelmäßig zerbrochen werden. Zum ersten Mal verwendete Chen diese Technik, als er einer Eingebung folgend Scherben einer zerbrochenen Vase zu einer menschlichen Skulptur zusammensetzte. Überraschenderweise erregte diese Kreation viel Aufmerksamkeit unter seinen Kollegen und Besuchern des Tempels. Manche fragten sogar nach dem Kaufpreis der Figur. Beflügelt durch diese positiven Reaktionen begann Chen, in seiner Freizeit mit der neuen Technik zu experimentieren. „Der Trick besteht darin herauszufinden, an welcher Stelle man wie stark zuschlagen muss“, sagt Chen. „Ich kann das schwer erklären, aber es gelingt mir zumeist, die Sachen so zu zerbrechen, dass Scherben in den gewünschten Formen entstehen.“

Frischer Wind

Den ersten professionellen Einsatz erlebte seine neue Technik 2003, als Chen Skulpturen für den Tainaner Fuan-Tempel fertigte. Hsiao Chong-ray, Professor für Kunstgeschichte an der Geschichtsfakultät der National Cheng Kung University, lobt Chens neue Technik als einen großen Durchbruch für JianNian, denn sie ermöglicht neue Wege für diese althergebrachte Kunst. Gleichfalls bedeutend ist es, dass diese Neuentwicklung in eine Zeit fiel, als die Nachfrage nach dieser traditionellen Kunstform stark nachließ.

Als Chen kurz nach der Jahrtausendwende an den Zhujai- und Fuan-Tempeln arbeitete, waren viele JianNian-Meister gezwungen, sich einen neuen Broterwerb zu suchen. In Massenproduktion gefertigte Bausätze populärer JianNian-Motive drängten auf den Markt und fanden vor allem in kleineren Tempeln rege Verwendung. „Das hat nichts mehr mit Kunsthandwerk zu tun“, sagt Chen, „Jeder kann die Gebrauchsanweisungen lesen und die Skulptur zusammensetzen. Das ist billiger und schneller. Aber der individuelle Stil und die künstlerische Schönheit gehen verloren.“

Heute vergeben nur noch einige große oder sehr alte Tempel Aufträge an Kunsthandwerker. Um über die Runden zu kommen, begann Chen vor 20 Jahren einen Nebenjob, indem er Pomelos anbaut. Die 600 000 NT$ (15 000 Euro), die ihm dieser Nebenerwerb bei der Ernte einbringt, kann seine Familie gut gebrauchen.

Der plötzliche Tod seines Bruders Li Shi-yi und der starke Auftragsrückgang für JianNian-Meister änderten Chens Arbeitseinstellung. „Ich hatte nur für meine Arbeit gelebt, aber nach dem Tod meines Bruders begann ich mich mehr mit JianNian als Kunstform zu befassen“, erklärt er. „Ich überlegte, ob man JianNian nicht als eigenständige Kunst etablieren könnte, anstatt nur als Tempeldekoration. Ich entschloss mich, die Skulpturen vom Tempeldach in die Kunstgalerien zu bringen.“ Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, verwendete Chen viel Zeit, um Kunstwerke mit seiner speziellen Technik anzufertigen. JianNian-Skulpturen für den Kunstmarkt erwiesen sich jedoch als schwierige Herausforderung. Die Figuren auf den Tempeldächern werden aus der Entfernung betrachtet. Manche Einzelheiten wie zum Beispiel die Rückseite der Stücke sind daher weniger wichtig. Wenn die Skulptur jedoch aus der Nähe angeschaut wird, muss jedes Detail perfekt sein.

Chens erste Soloausstellung fand 2004 im Kulturzentrum seines Heimatorts statt. Die meisten Ausstellungsstücke orientierten sich an traditionellen JianNian-Motiven wie Sagengestalten und Glücksbringern, aber Chen zeigte auch neue Ideen, wie Kinder, die mit Feuerwerk spielen. „Wenn ich für Tempel arbeite, muss ich bestimmte Regeln und Normen einhalten. Aber in meiner Werkstatt kann ich meiner Phantasie freien Lauf lassen“, erläutert Chen. Im Jahre 2007 wurde Chens Atelier vom „Staatlichen taiwanischen Forschungs- und Entwicklungsinstituts für Kunsthandwerk“ mit dem Titel „Taiwan Kunst-Werkstatt“ geehrt. Im Rahmen dieses Programms wurden bisher 140 Unternehmen in unterschiedlichen Handwerksbereichen in ganz Taiwan für herausragende Fertigkeiten ausgezeichnet.

Aber Meister Chen ist nicht nur mit neuen Skulpturen, Ausstellungen und Tempelverzierung beschäftigt. Seit 2007 lehrt er JianNian an der Volkshochschule seines Heimatorts. Seine dortigen Schüler haben nicht den Anspruch, eines Tages JianNian-Künstler zu werden. Aber das stört Chen nicht. „Ich bilde keine Kunsthandwerker aus“, sagt er, „Ich lasse andere Menschen an meiner Arbeit teilhaben. Sie erfahren mehr über JianNian und finden vielleicht auch Gefallen daran.“

2010 wurde Chen San-huo vom damaligen Rat für kulturelle Angelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA) — dem Vorläufer des heutigen Kulturministeriums — als Kunsthandwerksmeister und wichtiger Bewahrer des JianNian-Kulturerbes anerkannt. Ein Meister ist er zweifellos, aber vielleicht ist er eher ein Erneuerer als ein Bewahrer. Indem er seine Scherben nicht mehr zuschneidet und die JianNian-Kunst vom Tempeldach in die Kunstgalerie gebracht hat, hat er sein Kunsthandwerk weiterentwickelt und die Früchte seines Arbeitslebens neuen Bewunderern zugänglich gemacht.

(Deutsch von Sven Meier)

—Quelle: Taiwan Review, 10/01/2014 (S. 60-65)
—Zuschriften an die Taiwan heute-Redaktion unter taiwanheute@yahoo.com

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