07.05.2024

Taiwan Today

Kultur

Neues cooles Taiwan

01.03.2013
Teilnehmer an einem Straßenkunst-Wettbewerb anlässlich des New Taipei City International Street Dance Competition im vergangenen Jahr. (Foto mit freundlicher Genehmigung der Stadtverwaltung New Taipei City)
Ein Abend Anfang November 2012 im Tanzzentrum TBC („The Best Crew“) an der Nanjing West Road in Taipeh. Zehn junge Tänzer proben bei lauter Musik ihre Darbietung. Schnelle Bewegungen und ständig sich verändernde Formationen halten die Zuschauer in Atem, doch noch fesselnder sind die Solos einzelner Mitglieder des Ensembles, etwa ein einhändiger Kopfstand, scherenartige Bewegungen am Boden wie auf einem Pauschenpferd oder breakdanceartiges Kreiseln auf Kopf und Schultern. „Jeder Tänzer hat besondere Techniken, die einen umhauen“, schwärmt Gino Huang, der Betreiber von TBC und Leiter von Formosa, einer 2007 entstandenen Crew (Szene-Jargon für Straßentanz-Ensembles) aus männlichen Tänzern. „Die Schausteller praktizieren aber nicht einfach nur Akrobatik. Sie müssen auch tanzen lernen. Je besser sie andere Tanzstile können wie Popping (wobei der Tänzer schnell Muskeln anspannt und entspannt, so dass es aussieht, als werde ein Teil des Körpers platzen), desto toller wird die gesamte Darbietung.“

Formosa ist eine der besten Tanzgruppen Taiwans für Breakdance, ein bedeutender Straßentanz-Stil mit Merkmalen wie Handstand, Kopfstand, rutschen und wirbeln. Viele der „Breaker“ der Gruppe, die man auch „B-Boys“ nennt, sind selbst Inhaber von Tanzzentren. Im September 2012 wurde Formosa ausgewählt, Taiwan in der Endrunde von Braun Battle of the Year (BOTY) zu repräsentieren, einem Weltklasse-Wettbewerb für B-Boys, der Mitte November vergangenen Jahres im südfranzösischen Montpellier stattfand. Von den 19 Gruppen aus 18 Ländern belegte das taiwanische Ensemble am Schluss den fünften Rang.

BOTY war 1990 in Deutschland entstanden, die erste Veranstaltung fand im Juni jenes Jahres unter dem Namen „International Breakdance Cup“ in Hannover statt. Teilnehmer aus Taiwan waren erstmals 2004 dabei, als die Gruppe von TBC den achten Platz erreichte. 2008 wurde Formosa Dritter, die bis dahin höchste Platzierung eines taiwanischen Teams im Wettkampf. Drei Jahre später konnte ein Ensemble namens TPEC — das seinen Namen der Abkürzung der Sportuni Taipei Physical Education College verdankt, das die TPEC-Tänzer überwiegend besuchten — ebenfalls den dritten Platz erringen.

Straßentanz gewann in Taiwan nur allmählich an Boden. Als Teil der Hiphop-Kultur, die in den siebziger Jahren in den USA entstanden war, kam Straßentanz in Taiwan erstmals während der achtziger Jahre auf und erregte durch die Darbietungen einheimischer Stars im Fernsehen Aufsehen. Nach Einschätzung von Lin Chien-chi, Leiterin der Kulturabteilung der Stadtverwaltung von New Taipei City, war es die Band LA Boyz, welche in Taiwan echte Begeisterung für den Tanzstil entfachte. Die Band, bestehend aus drei Jungs taiwanischer Abstammung, die in Los Angeles aufgewachsen waren, trat 1992 erstmals in Taiwan auf und faszinierte einheimische Fans mit Tanzprogrammen voller Hiphop-Elemente von Rap bis Straßentanz. Die Band löste sich zwar offiziell 1997 auf, hinterließ jedoch ein Vermächtnis, das Taiwans Popkultur weiter beeinflusste.

Keine Vorbilder

„Ein Video von einem LA Boyz-Auftritt war das einzige Lehrmaterial, das ich in den ersten zwei Jahren bekommen konnte“, erzählt der 22-jährige Lai Wei-ning, der in Straßentanz-Kreisen besser unter dem Namen Taower bekannt ist. Lai fing vor ungefähr zehn Jahren mit Straßentanz an, als er noch im osttaiwanischen Landkreis Hualien wohnte, und ist heute Breakdance-Lehrer am HRC, einer weiteren Straßentanzschule in Taipeh. 2011 war Lai Mitglied des taiwanischen Teams bei BOTY und gewann den Spitzenpreis in der Kategorie zwei gegen zwei Tänzer.

Etwa zur gleichen Zeit, als die LA Boyz von der Bildfläche verschwanden, wurde TBC als erste Tanzschule Taiwans mit Schwerpunkt Straßentanz gegründet. „Die Kanäle, durch die man Straßentanz lernen konnte, waren damals recht beschränkt“, rekapituliert Huang. „Deswegen stützten wir uns viel auf Lehrer, die aus dem Ausland eingeladen wurden, um die Tanzschritte für Straßentanzfreunde wie mich selbst vorzuführen.“ Huang zählte zu den Hintergrundtänzern für einige Popstars, bevor er mit mehreren Breakdance-Kollegen TBC aufmachte.

Seitdem ist es leichter geworden, Straßentanz in Taiwan zu verbreiten. Die zunehmende Zahl von Tanzschulen wie TBC und HRC bedeutet, dass Interessenten durch systematische Methoden von Profis lernen können, die auf unterschiedliche Tanzstile spezialisiert sind. Allein in Taipeh und New Taipei City gibt es über zehn solche Tanzstudios. Lai unterrichtet außerdem Breakdance an mehreren Oberschulen und Colleges im Norden Taiwans und kommentiert dazu: „In fast allen Mittel- und Oberschulen sind Straßentanz-Klubs entstanden.“ Wer lieber zu Hause bleibt, kann online mittels Videowebsites wie YouTube lernen, aber Lai findet, Tanzkünste eignet man sich am besten durch direkte Unterweisung an.

Beim Wettkampf in New Taipei City 2012 begeisterte ein US-amerikanischer Breakdancer das Publikum vor den Augen eines japanischen Konkurrenzteams. Die Veranstaltung hat sich vergrößert, und es werden immer mehr Weltklasse-Straßentänzer zur Teilnahme eingeladen. (Foto mit freundlicher Genehmigung der Stadtverwaltung New Taipei City)

„Straßentanz ist wirklich cool“, urteilt der 28-jährige Hsu Wei-chieh, der mit 15 anfing, Straßentanz zu lernen. „Angefangen habe ich damit, um Mädchen zu imponieren.“ Heute schätzt das Formosa-Mitglied diese Kunstform als Ausdrucksmittel und will unbedingt alles darüber erfahren, von der Geschichte des Straßentanzes bis zu neuen Tanzbewegungen. Für Chang Chi-yau, eine HRC-Schülerin, ist Straßentanz ein Weg, Druck von der Arbeit abzulassen. „Es macht Spaß“, sagt die 21-Jährige, die in einem Hotel-Restaurant arbeitet. „Außerdem kann man damit den Körper wirklich trainieren und ins Schwitzen kommen.“ Wie die überwiegende Mehrheit von weiblichen Straßentänzern in Taiwan zieht Chang Stile wie Popping dem Breakdance vor.

Die Haltung der Gesellschaft gegenüber Straßentanz hat sich im Zuge der Entwicklung des Genres in Taiwan gewandelt, analysiert Chiu Fang-zheng, der Betreiber von DOD — die Abkürzung steht für „Dance or Die“, zu Deutsch Tanz oder Stirb. „Außenstehende haben uns früher wie jugendliche Straftäter angeschaut, weswegen wir in der Schule nur schwer dafür werben konnten.“ Chius Äußerung bezieht sich auf die Haltung der allgemeinen Öffentlichkeit Ende der neunziger Jahre. DOD in Taichung, im Jahr 2000 gegründet und heute die größte Straßentanzschule in Zentraltaiwan, hat viel dazu beigetragen, den Tanzstil zu fördern. Seit 2005 zum Beispiel organisiert DOD jedes Jahr eine Show mit Straßentanz-Darbietungen von Lehrern und Schülern. Bis September 2012 hatte die Veranstaltung sich zu einem zweistündigen Ereignis gemausert, mit 600 Tänzern und Tausenden von Zuschauern.

Unterstützung aus dem öffentlichen Sektor spielte gleichfalls eine Rolle bei der Entwicklung von Straßentanz in Taiwan. Taipehs Schnellbahngesellschaft Taipei Rapid Transit Corporation (TRTC), die zu 74 Prozent der Stadtverwaltung Taipeh gehört, ist seit 2005 Mit-Organisator des Straßentanz-Wettbewerbs Metro Street Dance Competition. Als der Wettbewerb erstmals stattfand, kämpften 51 Teams um die höchste Ehre und Preisgelder von insgesamt 117 000 NT$ (3000 Euro). Seit 2010 werden auch Ausländer zur Teilnahme eingeladen. Im vergangenen Jahr zeigten 244 Teams in der Vorausscheidung ihr Können für die 12 Plätze der Endausscheidung, die im August 2012 im Freien auf dem Platz der MRT-Schnellbahnstation Jiannan Road abgehalten wurde. Die Preisgelder hatten sich mittlerweile auf 440 000 NT$ (11 282 Euro) erhöht.

„Straßentanz ist mehr als nur eine Freizeitaktivität, bei der junge Leute Dampf ablassen können“, interpretiert Lin von der Stadtverwaltung New Taipei City, selbst ein großer Fan von Straßentanz. „Es geht auch um Selbstverwirklichung für Teenager, die eine Schlüsselperiode ihres Lebens durchlaufen, während sie auf Identitätssuche sind. Indem sie Ansichten über Können beim Tanzen vergleichen, bauen sie überdies einen Verbund der Unterstützung unter Gleichgesinnten auf.“

Das Bezirksbüro Banqiao in New Taipei City veranstaltete 2008 seinen ersten Straßentanzwettbewerb, der im vergangenen Jahr durch Sponsoring der Kulturabteilung der Stadtverwaltung enorm aufgewertet wurde. Für die jüngste Wiederholung des Internationalen Straßentanz-Wettbewerbes New Taipei City hielten die Veranstalter Vorausscheidungen in Banqiao, Taichung und der südtaiwanischen Hafenmetropole Kaohsiung ab. Der Straßentanz-Wettbewerb wurde um andere Komponenten der Hiphop-Kultur bereichert, darunter Wettkämpfe für Rappen und Straßenkunst.

Vier Weltklasse-Teams aus Frankreich, Japan, Südkorea und den USA wurden eingeladen, sich in der Kategorie Breakdance 5 gegen 5 als gesetzte Teilnehmer zu messen, womit die Horizonte der einheimischen Zuschauer erweitert und der Reiz des Wettbewerbs erhöht werden sollte. Alle vier internationalen Teams schafften es ins Halbfinale, Bboyworld aus den USA gewann anschließend den Wettkampf und riss das große Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.

„Eine große Stadt muss sowohl ihre alte als auch ihre neue Kultur entwickeln“, postuliert Lin und fügt hinzu, als hochgradig urbanisierter Ort strebe Banqiao nach einer Repräsentierung seiner neuen Kultur. Für die Beamtin besitzt Straßentanz ein großes Potenzial, diese Rolle auszufüllen, und die Stadtverwaltung New Taipei City plant, den Straßentanz-Wettbewerb als eine von nur zwei oder drei internationalen Kulturveranstaltungen in New Taipei City zu fördern.

2012 fand in Taipeh der Metro Street Dance Competition statt. Die Zahl der Teilnehmer war gegenüber dem Debüt des Wettbewerbs 2005 von 51 auf 244 im vergangenen Jahr gestiegen. (Foto: Courtesy TRTC)

Nach Bewegungsspielraum suchen

Dieses Streben stieß auf ein Hindernis, als der neue Bahnhof Banqiao, ein beliebter Übungsplatz für Straßentänzer, 2011 die Nutzung seiner öffentlichen Plätze für solche Proben untersagte, da die Zahl der Passagiere und Besucher des Bahnhofes zunahm. Die Stadtverwaltung schaltete sich für Verhandlungen mit der Bahnhofsleitung ein, und im Februar 2012 erzielte man eine Übereinkunft, bestimmte Zonen im Gebäude für Tanzübungen freizuhalten.

Auch in der Privatwirtschaft ist man auf den Tanztrend aufmerksam geworden. „Es wird immer üblicher, Straßentanz-Darbietungen auf Veranstaltungen zu sehen, die von Firmen organisiert wurden“, enthüllt Chiu. „Die Organisatoren der Party zur Vorstellung eines neuen Musik-Albums wenden sich häufig an uns, damit wir der Atmosphäre mehr Pep geben.“ Shin Kong Financial Holding Co., eines der größten Banken-, Versicherungs- und Wertpapierkonglomerate Taiwans, organisiert seit 2004 einen jährlichen Straßentanzwettbewerb, der in den Sommerferien stattfindet und im vergangenen Jahr 91 Teams mit je vier bis acht Tänzern anlockte. Die Cathay United Bank wiederum fungierte von Anfang an als Mit-Organisator des TRTC-Wettbewerbes.

In den jüngsten Jahren haben Straßentanz-Filme das Interesse an dem Trend in Taiwan stark erhöht, besonders die US-amerikanische Serie Step Up mit vier Folgen ab 2006 und der britische Film StreetDance 3D aus dem Jahr 2010. Ebenfalls im Jahr 2010 gewann der hier produzierte Dokumentarfilm Hip-Hop Storm über zwei Generationen von Hiphop-Tänzern in Taiwan den Preis für Besten Dokumentarfilm bei der taiwanischen Filmpreis-Gala Golden Horse Awards, der angesehensten Ehrung für Filme in der chinesischsprachigen Welt.

„Das Lernumfeld ist viel besser als vor zehn Jahren“, freut sich Lai. „Wenn man sich umhört, wird man jemanden finden, von dem man Anleitung im Straßentanz erhalten kann. Oder man kann für Unterricht bei Profis in einem Tanzstudio bezahlen.“ Gleichzeitig hat Hsu beobachtet, dass Breakdance-Tänzer in jüngerem Alter als zuvor anfangen, und heute gibt es sogar Kurse für Vorschulkinder. Sowohl Lai als auch Hsu arbeiten hauptberuflich als Breakdance-Lehrer.

Interessanterweise lernen heute viele Leute in Taiwan Straßentanz zunächst in einem Tanzstudio, obwohl der Name suggeriert, dass man das überwiegend draußen lernt und vorführt. Mehrere Fitness-Studios bieten gleichfalls Kurse für Straßentanz an, auch wenn Chiu von DOD moniert, dass das, was in solchen Kursen unterrichtet wird, in der Regel nur oberflächliche Ähnlichkeit mit „authentischen“ Straßentanzbewegungen aufweist. „Wenn man Straßentanz nur ein paar Jahre in einem Tanzstudio gelernt hat, reicht die Qualifikation wahrscheinlich, das in einem Fitness-Studio zu unterrichten“, spottet er.

Ob man Straßentanz nun in einer Tanzschule, im Klub einer Lehranstalt oder auf der Straße lernt, auf jeden Fall ist er zu einem kulturellen Phänomen in Taiwan geworden. Auch wenn sie noch einen langen Weg vor sich haben mögen, die besten taiwanischen Tänzer machen Fortschritte und sichern ihrem Land weiterhin einen Platz auf der Breakdance-Weltkarte. „Dieses Mal haben wir den Abstand zwischen Taiwan und der wirklichen Weltklasse von B-Boys gesehen“, meint Huang bescheiden über die Erfahrung seines Teams bei BOTY in Montpellier 2012. Bange machen lässt sich der Leiter der Truppe natürlich nicht: „Wir werden uns verbessern, indem wir weiter gegen die besten Crews der Welt antreten.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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