02.05.2024

Taiwan Today

Kultur

Dreifaltigkeit eines Möbelschreiners

01.05.2013
Der dänische Handwerksmeister Niels Roth Andersen (Zweiter von links) erörtert mit einem Kurs an der HDG Dream Factory Möbeldesign. (Foto: Courtesy Liao Wan-ting)
In dem „Erfahrungsraum“ der HDG-Stiftung in Linkou (New Taipei City) stellen Dutzende von Holzstühlen das einzige Mobiliar dar, und Plakate und Fotos von Stühlen oder Details ihrer Fertigung sind praktisch die einzige Dekoration. „Dies ist ,Der Stuhl‘, 1949 von dem Dänen Hans J. Wegner entworfen und von der dänischen Möbelwerkstatt PP Møbler geschreinert“, erläutert Stiftungsgründer Lin Dong-yang (林東陽), der redegewaltig den Besuchern technische Daten, die Geschichte und Einzelheiten über jedes Stück der Sammlung darlegt und bei der Erörterung, wie man ein gutes Möbelstück aussucht, gleichfalls nicht um Worte verlegen ist. „Das Design wurde berühmt, als es in der Fernsehdebatte zwischen Kennedy und Nixon 1960 zu sehen war“, fährt er fort.

Die meisten Stühle im Erfahrungsraum, wie Lin ihn bezeichnet, kosten pro Stück Zehntausende Dollars, trotzdem fordert er die Besucher auf, versuchsweise auf jedem der Stühle Platz zu nehmen. „Ein Stuhl oder überhaupt jedes Möbelstück hat losgelöst vom Benutzer keine eigene Existenz“, philosophiert er. Der Raum hat nicht die Aufgabe, Luxusstühle zu verkaufen, sondern soll Lins „Geschäft“ fördern, für trefflich gestaltete moderne Möbel zu werben. Zu diesem Zweck gründete er 2004 Furniture Bibliotheca HDG, eine Bibliothek mit Schwerpunkt Möbel, und richtete 2006 die HDG Dream Factory ein, eine Schule für Holzbearbeitung. 2008 folgte schließlich die HDG-Stiftung mit dem Erfahrungsraum. „HDG“ steht für Huai De Ju (懷德居), die Bezeichnung der Lin-Familienresidenz.

Lin war 1947 in Linkou zur Welt gekommen. Nachdem er 1970 an der National Chung Hsing University (NCHU) in der zentraltaiwanischen Stadt Taichung einen Bachelor-Grad im Fach Forstwirtschaft erworben hatte, verschob er sein Augenmerk auf Studien über Holztechnik und Möbelherstellung. Dank Stipendien vom Nationalen Wissenschaftsrat (National Science Council, NSC), einer Behörde in Ministeriumsrang, konnte er die Gelegenheit nutzen, diese Fächer in den USA zu studieren, und an der North Carolina State University in der Stadt Raleigh, die damals als Schreinerei- und Möbel-Welthauptstadt galt, schloss er zunächst ein Magisterstudium und anschließend eine Promotion mit Erfolg ab. 1979 kehrte Lin nach Taiwan zurück und lehrte Möbeldesign an der Abteilung für Industriedesign des Provincial Taipei Institute of Technology (heute National Taipei University of Technology/NTUT).

Da Lin einen großen Teil seiner Ausbildung in den USA erhielt, mag es nicht verwundern, dass er immer Interesse für westliche Möbel gehabt hat. In Wirklichkeit hat er fast zwei Jahrzehnte lang traditionelle chinesische Möbel gesammelt und erforscht, bevor er sich kurz nach der Jahrtausendwende auf moderne westliche Designs zu konzentrieren begann. Seiner Beurteilung nach erfordert jedes gute Möbelstück Aufmerksamkeit für Form, Material und handwerkliche Verarbeitung. Chinesische Möbel werden zwar mit erstklassigen Materialien und anspruchsvollen Techniken getischlert, lassen jedoch bei Form zu wünschen übrig, bemängelt er. „Generationen von Handwerkern, die chinesische Möbel anfertigten, haben das Handwerk durch ein Meister-Schüler-System erlernt, in dem der Lehrling so arbeitet, wie der Meister es ihm beigebracht hat“, erläutert Lin. „Kreativität wird nicht gefördert, deswegen hat sich das Design — oder die Form — chinesischer Möbel nur wenig verändert.“ Im Hinblick auf einzigartiges und kreatives Design findet er daher, dass es bei modernen westlichen Möbeln viel mehr zu bewundern und zu lernen gibt als bei traditionellen chinesischen Möbeln. Infolgedessen beschloss er schließlich, sich von allen chinesischen Möbeln, die er im Laufe der Zeit angesammelt hatte, zu trennen, und erwarb „den Stuhl“ als erstes Stück seiner Sammlung feiner westlicher Möbel.

Als Lin im Jahr 2003 beschloss, nach fast einem Vierteljahrhundert als Lehrer an der NTUT in den Ruhestand zu treten, hatte er immer noch den Wunsch, Beiträge an der Hochschule zu leisten. Deswegen regte er an, einen Ausstellungsraum auf dem Campus der NTUT einzurichten, wo man die Bücher, Plakate, Modelle und anderen Lehrmaterialen zu Möbeldesign, die er im Laufe der Jahre angehäuft hatte, unterbringen konnte, außerdem mehrere preisgekrönte Möbeldesigns von Studenten und Alumni. Aus Gründen, die Lin nie ganz klar wurden, reagierte die Schulverwaltung nicht auf seinen Vorschlag, deswegen richtete er die Galerie auf eigene Faust ein. „Das Land hatte mich bei all meinen Auslandsstudien und Forschungen über Möbeldesign unterstützt, deswegen fand ich es nur gerecht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben“, sagt er. Rückblickend ist Lin heute eher froh, dass die NTUT nicht auf sein Angebot einging, denn wahrscheinlich wären alle Bücher und anderen Dinge lediglich als Staubfänger in irgendeiner dunklen Ecke auf dem Campus gelandet.

Mit Hilfe von ehemaligen Schülern an der Uni und Bekannten im einheimischen Möbelgewerbe trieb Lin genug Geld für die Einrichtung eines Ausstellungsortes auf, indem er einen Teil seiner alten Familienresidenz renovierte, die ursprünglich 1897 in Jiabao, einem kleinen Dorf in Linkou, gebaut worden war. Als Furniture Bibliotheca HDG im Dezember 2004 eingeweiht wurde, war es Taiwans erste und die weltweit zweite Bibliothek, die sich thematisch ausschließlich um Möbel drehte. Neben über 1000 Büchern auf Chinesisch und in anderen Sprachen besitzt die Bücherei etwa 100 maßstabgetreue Modelle, die vom Vitra Design Museum — einem international renommierten Privatmuseum in Weil am Rhein (Baden Württemberg) — hergestellt wurden und berühmte Möbel-Exponate in seiner Sammlung darstellen. Die Wände der Möbelbibliothek in Linkou sind gepflastert mit Fotos und Postern, die Hunderte von Möbeldesigns zeigen, von einem antiken ägyptischen Stuhl bis zu modernsten dänischen Entwürfen. Lin, der die Bibliothek als Ein-Mann-Betrieb unterhält, beantwortet gern die Fragen von Besuchern und hält gelegentlich Vorträge oder Seminare. „Ich würde mich freuen, wenn Furniture Bibliotheca HDG neben seiner Funktion als Archiv für Publikationen aus dem Bereich Möbel als Forum für Menschen dienen würde, wo sie ihre Begeisterung und Ideen über Möbel teilen können“, sinniert er. Die Bibliothek kann nach Reservierung besichtigt werden und hat Besucher nicht nur aus dem Inland, sondern auch aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Mexiko, der Mongolei, Nordamerika, Schweden und Russland angelockt.

Even Wu stellte während einer Präsentation der HDG Dream Factory am Ende des Frühlingssemesters 2009 ihre Keks-Hocker vor. (Foto: Courtesy Fan Hou-min)

Handwerkskunst und Kulturerbe

Nach der Eröffnung der Bibliothek im Dezember 2004 begann Lin über die Möglichkeit nachzudenken, eine Schreinereischule aufzumachen. Er legt dar, dass er eine solche Schule als weiteres Mittel zur Werbung für moderne Holzmöbel gründen wollte. „Seit den zwanziger Jahren gibt es eine Unzahl schön gestalteter Möbel aus allen möglichen Materialien, doch Holzexemplare sind wegen der Handwerkskunst und des Kulturerbes, die damit verbunden sind, immer noch am wertvollsten“, weiß Lin.

Der Aufbau einer Schule erwies sich indes als komplizierter als die Gründung der Bibliothek. Zuerst musste Lin wissen, ob er mindestens ein Dutzend Schüler für einen Kurs finden konnte. Er befragte die Bibliotheksbesucher und fand heraus, dass mehr als genug von ihnen Interesse zeigten, Unterricht zu nehmen. Tatsächlich waren einige bereit, einen Teil der Kursgebühr im voraus zu entrichten, obwohl die Schule in jenem Stadium lediglich ein Konzept war. Die Resonanz spornte Lin an, und er begann, sich nach einem Unterrichtsraum umzusehen. Nach längeren Verhandlungen mit Dutzenden von Mitgliedern seiner Großfamilie erhielt er schließlich im Jahr 2006 ihre Erlaubnis, einen unbenutzten Schweinestall in gemeinsamem Besitz, der sich ungefähr drei Minuten zu Fuß von der Bibliothek befand, in eine Werkstatt mit 3000 Quadratmetern Fläche umzuwandeln.

Der nächste Schritt bestand darin, die Werkstatt mit anständigen Maschinen zur Holzbearbeitung auszustatten. Da Lins Budget begrenzt war, suchte er Bekannte in Taiwans Holzbearbeitungsmaschinen-Gewerbe auf, einem der größten der Welt, um günstigere Preise auszuhandeln. Er war angenehm überrascht, dass alle Hersteller große Unterstützung an den Tag legten und die Maschinen spendeten, als sie von seinem Ziel erfuhren, die Schule aufzubauen.

Die abschließende Herausforderung für die Einrichtung der Schule war, Lehrkräfte zu finden, die nicht nur etwas von Schreinerei verstanden, sondern auch Ahnung von Design hatten. Wie bei vielen anderen Handwerkszweigen in Taiwan lernen die meisten Schreiner in Taiwan laut Lin nach wie vor gemäß einem Meister-Schüler-System oder in mehreren speziellen Schreinerei-Abteilungen an Berufsoberschulen. Das Problem dabei ist, dass die dabei ausgebildeten Nachwuchsschreiner normalerweise in keinem der beiden Systeme viel über Design erfahren, wogegen an Universitäten ausgebildete Designer wiederum häufig auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie ihre Entwürfe praktisch umsetzen wollen, weil sie zu wenig über Schreinertechniken und Materialien wissen. In beiden Feldern bewanderte Lehrer schüttelt man in Taiwan nicht von Bäumen, doch Lin hatte bereits ein paar Kandidaten im Auge — einige seiner ehemaligen Schüler, die an Schreinerei-Abteilungen von Berufsoberschulen gelernt und anschließend an der NTUT Design studiert hatten.

Lin Yen-chih war einer dieser ehemaligen Schüler. Wegen seiner herausragenden Leistungen im Fach Schreinerei an der Technischen Oberschule Kung-tung im osttaiwanischen Landkreis Taitung brauchte er keine Aufnahmeprüfung abzulegen, um sich an der NTUT einschreiben zu können, und erwarb dort 1995 einen Bachelor in industriellem Design. Während seiner Zeit an der Oberschule und der Universität gewann Lin Yen-chih mehrere Wettbewerbe für Möbelschreinerei im In- und Ausland. Nach dem Examen versuchte er, eine eigene Werkstatt einzurichten und seine eigenen Designs zu produzieren, hatte damit aber wenig Erfolg und musste seine Pläne zurückstellen, während er in einer Möbelfabrik arbeitete. „Die Bezahlung in der Fabrik war nicht schlecht, doch es behagte mir überhaupt nicht, zur Erledigung von Bestellungen den ganzen Tag mit Sperrholz und Nagelpistole zu arbeiten“, murrt er.

Als Lin Yen-chih einen Job als Lehrkraft in der HDG Dream Factory angeboten bekam, packte er die Gelegenheit umgehend beim Schopfe, obwohl das Gehalt geringer als in der Möbelfabrik war. „Zwei Tage die Woche unterrichten gibt mir ein stabiles Einkommen“, begründet er. „Unterdessen bleibt mir Zeit, an dem anzuknüpfen, was ich aufgegeben hatte, und ich kann tun, was ich wirklich mag.“ Heute kann Lin Yen-chih in Sanxia (New Taipei City) auf Teilzeitbasis eine eigene Werkstatt betreiben.

Schüler in der HDG Dream Factory können feststellen, dass Gespräche mit ihren Ausbildern und daraus resultierende Anpassungen an ihren Entwürfen entscheidend dafür sind, ein praktikables Design hervorzubringen. (Foto: Courtesy Liao Wan-ting)

Als die Werkstatt komplett ausgestattet und der Lehrkörper bereit zum Dienst war, wurden im Dezember 2006 die ersten Schüler an der HDG Dream Factory für Kurse angemeldet, die im Frühling 2007 anfingen. Das Kurspensum umfasst 170 Unterrichtsstunden in 18 Wochen. In den ersten Unterrichtseinheiten wird Schulung in grundlegenden Schreinereitechniken und Umgang mit Werkzeug vermittelt. Danach können einzelne Schüler an ihren eigenen Projekten arbeiten, deren Umfang sehr unterschiedlich sein kann, von einem Schmuckkästchen bis zu einem Kanu. Es sind viele Gespräche und Vorführungen der Techniken erforderlich, und manche Kursteilnehmer müssen Änderungen vornehmen, wenn sie feststellen, dass ihre Projekte aufgrund von material- oder technikbedingten Beschränkungen undurchführbar sind. Am Ende eines Semesters versammeln sich die Schüler im offenen Innenhof der Lin-Familienresidenz, wo sie ihre Arbeiten zu präsentieren und die Motive oder Vorstellungen dahinter zu erläutern haben.

In der Schule finden auch außerplanmäßige Veranstaltungen statt. Von Zeit zu Zeit organisiert Lin Dong-yang Ausstellungen, bei denen die Lehrer und Schüler die Gelegenheit haben, ihre Arbeiten zu zeigen. Er hat überdies Künstler und Designer aus dem In- und Ausland zum Besuch der HDG Dream Factory eingeladen. Im vergangenen Jahr zum Beispiel folgte der dänische Handwerksmeister Niels Roth Andersen einer Einladung in die Schule und offenbarte den Schülern etwas von seiner Möbelherstellungs-Erfahrung. Außerhalb der Unterrichtszeiten arrangiert Lin Dong-yang Reisen, auf denen Lehrer und Schüler einige der berühmtesten Möbelwerkstätten in Dänemark besichtigen können. „Ich war so aufgeregt, dass ich die ganze Nacht aufblieb, denn es gab so viele Dinge — welche die Lehrer nicht unterrichtet hatten und die in keinem Lehrbuch standen — zu lernen, indem man diesen Handwerksmeistern bei der Arbeit zuschaute“, kommentiert Lin Yen-chih seine Reise nach Dänemark im Jahr 2010.

Lange Bewerberliste

Zur Zeit beschäftigt die HDG Dream Factory drei Lehrkräfte und zwei Lehr-Assistenten, die maximal 110 Schüler unterweisen. Die Schüler werden in fünf Kurse pro Semester unterteilt. Wer das Semester abschließt, erhält ein Zertifikat, das allerdings in Taiwans Bildungssystem nicht offiziell anerkannt wird. Das scheint angehende Schüler freilich nicht abzuschrecken, denn es gibt immer eine lange Liste von Bewerbern, die in die Schule aufgenommen werden möchten. Lin Dong-yang spricht mit allen Bewerbern, um sich zu vergewissern, dass ihr Wunsch, den Kurs zu belegen, auf echte Begeisterung für das Handwerk zurückgeht und kein augenblicklicher Impuls ist. Die meisten Schüler, die aus unterschiedlichen beruflichen Bereichen, Altersgruppen und sogar Ländern kommen, möchten Schreinerei als Hobby lernen. Der 60-jährige Chen Yu-chien zum Beispiel ist Leiter der Informationsabteilung einer internationalen Bank und belegt seit 2007 HDG-Schreinerkurse. „Für mich ist Schreinerei eine Arbeit des Herzens“, versichert er. „Meine Entwürfe sind vielleicht nicht immer praktikabel, doch sie spiegeln meine Gefühle und Erinnerungen wider.“

Ein paar Schüler entwickelten dabei eine solche Leidenschaft für Schreinerei, dass sie das Handwerk zu ihrem Beruf machten. Even Wu belegte ab dem Jahr 2009 Kurse, zu jener Zeit war sie noch Studierende im Magisterprogramm für Kunst und Design an der National Taipei University of Education. Die als Kunstlehrerin ausgebildete Wu meldete sich einfach deswegen in der HDG Dream Factory an, weil sie sich für Arbeit mit Holz interessierte. Bei einem ihrer Projekte verwandelte sie Kindheitserinnerungen an ihre Lieblingskekse in eine Arbeit mit dem Titel „Ein Gedächtnis-Aroma“, ein Holzhocker mit einer Sitzfläche, die wie ein Cracker aussieht. Mit dem Design gewann sie 2010 den ersten Preis beim Handwerksdesign-Wettbewerb Taiwan und erhielt dort viele Anfragen von potenziellen Käufern. Wu belegt weiter Kurse an der HDG Dream Factory, um ihr Können zu verfestigen, und außerdem betreibt sie eine kleine Werkstatt in Xindian (New Taipei City), wo sie ihre Kekshocker und andere Designs tischlert.

Im Jahr 2008, zwei Jahre nach den ersten Kursen in der HDG Dream Factory, gründete Lin Dong-yang die HDG-Stiftung. Mit Furniture Bibliotheca HDG für Forschung, HDG Dream Factory für Ausbildung und der HDG-Stiftung für Werbung hat Lin Dong-yang drei Kanäle geschaffen, mit denen das Handwerk feiner westlicher Möbel weiter entwickelt werden soll. „Es ist wie Sport“, vergleicht er. „Um eine Sportart populär zu machen, muss man Spieler und ein ausreichend großes Publikum anlocken. Dann wird es Profi-Teams geben, oder eben Werkstätten mit Markennamen in der Branche für Qualitätsmöbel, ebenso wie Starspieler beziehungsweise Handwerksmeister bei uns.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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