29.04.2024

Taiwan Today

Kultur

Ein Rollstuhl-Tagebuch in Ton

01.09.2013
Hsu Tsung-huan modelliert ein Tee-Tablett. Modellieren ist für ihn körperlich weniger anstrengend als die Verwendung einer Töpferscheibe. (Foto: Huang Chung-hsin)
Jedes Jahr werden um die 120 Patienten mit schweren Rückenmarksverletzungen in taiwanische Krankenhäuser eingeliefert, das Durchschnittsalter beträgt dabei 27 Jahre. Für jeden, der in so jungem Alter Gefühl und motorische Funktionen einbüßt, ist es schwer, damit zurechtzukommen, doch Hsu Tsung-huan (許宗煥) gelang es, seine körperlichen wie auch mentalen Herausforderungen zu überwinden und sich eine Karriere in Töpferei aufzubauen.

Hsu war 1965 in der Gemeinde Dacheng im zentraltaiwanischen Landkreis Changhua zur Welt gekommen. Zwar liegt Dacheng an der Küste, doch es ist eine Bauerngemeinde, wo Reis, Erdnüsse und Süßkartoffeln angebaut werden, weswegen Hsu in seiner Kindheit nach Schulschluss bei der Feldarbeit mithalf. Wie viele andere junge Leute aus Dacheng verließ Hsu nach Abschluss der Mittelschule den Heimatort, um sich in der Stadt nach Arbeit umzuschauen. Er versuchte sich in mehreren verschiedenen Branchen und fing im Alter von 18 Jahren eine Lehre in einer Autowerkstatt im Bezirk Banqiao (New Taipei City) an. „Die Wirtschaft entwickelte sich, und immer mehr Leute konnten sich ein Auto leisten, also hatte das eine vielversprechende Zukunft“, sagt Hsu. „Mein Plan war, das Handwerk zu lernen, Geld zu sparen und eines Tages eine eigene kleine Werkstatt zu haben.“ Seine Pläne wurden jedoch durch einen Unfall bei der Arbeit durchkreuzt. Ein Kollege in der Werkstatt löste gedankenlos einen Wagenheber, als Hsu unter dem Fahrzeug arbeitete.

Hsu trug eine permanente Lähmung von der Hüfte abwärts davon. „Wenn man 20 Jahre lang gelaufen, gerannt und gesprungen ist, lähmt ein solcher Unfall nicht nur den Körper, sondern auch das Leben“, stellt er fest. Der junge Mann lag mehrere Monate im Krankenhaus, und wie viele solche Patienten wählte er nach seiner Entlassung nach Hause ein Leben in Isolation. „Wir haben keine Kontrolle über Blase und Stuhlgang, was bedeutet, dass wir uns sehr wahrscheinlich vor anderen Leuten in Verlegenheit bringen“, meint er. „Die beste Methode, eine solche Situation zu vermeiden, ist, sich von der Außenwelt fernzuhalten.“ Über ein Jahr lang verbrachte Hsu seine Zeit zumeist zu Hause mit essen, schlafen, Zeitunglesen und fernsehen.

Die Zeit konnte Hsus Rückenmark nicht heilen, doch lernte er mit der Zeit, die körperlichen Herausforderungen, mit denen er konfrontiert war, zu akzeptieren. „Das Leben würde für mich nie mehr so sein wie früher“, erzählt er. „Ich begann mich zu fragen, ob ich etwas tun konnte, um mich zumindest selbst zu versorgen.“ Nachdem er im Fernsehen und in Zeitungen von mehreren körperbehinderten Künstlern erfahren hatte, dachte Hsu daran, es mit Malerei zu versuchen. Zwar hatte er nie eine richtige Kunstausbildung gehabt, doch malte er gern und hatte im Kunstunterricht in der Grund- und Mittelschule recht gute Leistungen gezeigt. Nachdem er zu arbeiten angefangen hatte, war Hsu zeitlich nicht mehr zum Malen gekommen, aber während seiner Erholungszeit konnte er sich wieder der Kunst zuwenden. „Es war nicht einfach nur ein Versuch, Fertigkeiten zu entwickeln, um einen Lebensunterhalt zu verdienen“, sagt er. „Tatsächlich war Malen für mich eine Art von Arznei, durch die ich ein wenig spirituellen Trost finden konnte.“

Ein Schritt voraus (2009), 15 x 17 x 9 cm. Diese Teekanne entstand auf der Grundlage von Hsus Kindheitserinnerungen vom Landleben. (Foto: Huang Chung-hsin)

Mit Ermunterung seiner Mutter und seines Bruders besuchte Hsu 1986 das katholische gemeinnützige Tsz-Ai Mercy Hospice of Taichung Diocesan Body Corporate in der Stadt Changhua, um sich über einen Töpfereikurs zu erkundigen, der Behinderten helfen sollte, sich die Fertigkeiten anzueignen, mit denen man einen Job in einem Töpferbetrieb finden konnte. „Meine Kenntnisse über Töpferei beschränkten sich auf bemalte Keramik und schwarze Keramik in den [chinesischen] Geschichts-Schulbüchern“, gesteht er. „Ich beschloss zu bleiben, aber nur, weil es vier Stunden Malunterricht die Woche gab.“ Zwar hatte er sich anfangs nicht besonders für Töpferei interessiert, doch nach und nach entdeckte Hsu die Schönheit dieser Handwerkskunst. Er absolvierte den einjährigen Kurs als Klassenbester, und danach bot man ihm eine Stelle als Lehrassistent an. „Die Bezahlung für einen Lehrassistenten war nicht hoch, aber es ging mir nicht nur ums Geld“, versichert er. „Worauf es mir wirklich ankam, war, wieder ,auf eigenen Füßen stehen‘ zu können.“

Während seiner Tätigkeit als Lehrassistent nahm Hsu an mehreren Handwerkswettbewerben für körperlich oder geistig Behinderte teil. 1990 gewann er den ersten Preis beim dritten nationalen Fertigkeiten-Wettbewerb für Behinderte, und im Jahr darauf vertrat er Taiwan bei den dritten internationalen Abilympics (= Berufsmeisterschaften für Menschen mit Behinderungen) in Hongkong. Bei der Veranstaltung in Hongkong gewann Hsu einen Preis für „vorzügliche Arbeit“, doch besonders anregend war die Reise, namentlich der Flug. „Ich hatte keine Ahnung, dass der Himmel dort oben so blau sein konnte, und man muss erst die Wolken durchstoßen, bevor man diesen Himmel sehen kann“, schwärmt er. „Für mich bedeutete diese Erfahrung, dass man auch im Leben Wolken durchstoßen — also Erfahrungen meistern — muss, um den blauen Himmel zu sehen.“

Während er unterrichtete und gleichzeitig sein Können beim Töpfern verfeinerte, malte er weiterhin, und zwischen 1987 und 1992 besuchte er einen Kurs für chinesische Malerei der Kreisverwaltung. In jenen fünf Jahren fuhr er im Rollstuhl über eine Stunde in jede Richtung zum abendlichen Malkurs, während die Schüler im Töpferkurs sich entspannen konnten. Hsu konzentrierte sich auf realistische traditionelle chinesische Malerei, die sich durch feine Pinselarbeit und Liebe zum Detail auszeichnet. 1990 wurde eines seiner Bilder, das eine chinesische Frau darstellte, in die Sammlung des National Changhua Living Art Center aufgenommen.

Auf sich selbst gestellt

Der Lehrauftrag dauerte fünf Jahre, bis das Programm im Jahr 1993 beendet wurde. Hsu erläutert, dass die Kursteilnehmer keine Jobs in Töpfereibetrieben finden konnten, weil die meisten von ihnen nicht so effizient wie normale Beschäftigte arbeiten können, und Stellen wurden besonders knapp, nachdem viele taiwanische Töpfereibetriebe ins Ausland verlegt wurden. Es machte deswegen keinen Sinn, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Körperbehinderte fortzusetzen, das ihnen bei der Jobsuche keine Hilfe sein würde. Nach seinem Ausscheiden aus Tsz-Ai beschloss Hsu, eine eigene Werkstatt einzurichten. Zunächst war er sich nicht sicher, ob er eine Laufbahn in Malerei oder Töpferei verfolgen sollte, entschied sich dann aber für Keramik. „Mein Ziel war, durch den Verkauf meiner Arbeiten meinen Lebensunterhalt zu verdienen“, begründet er. „Für Töpfereiprodukte schien der Markt größer zu sein, da sie im Alltagsleben eine größere Rolle spielen können als Gemälde, die nur zum Anschauen gut sind.“

Zeitalter der Blüte (2009), 16 x 16 x 10 cm (Foto: Huang Chung-hsin)

Hsu musste zudem die Frage klären, wo er die Werkstatt einrichten sollte. Der Bezirk Yingge in New Taipei City schien naheliegend, weil der Ort als Zentrum des taiwanischen Keramikgewerbes bekannt ist und viele Besucher dort hinfahren, um sich nach Töpfereiarbeiten umzuschauen. Als neuer und unbekannter Künstler war Hsu sich indes nicht sicher, ob er gegen die starke Konkurrenz in Yingge würde bestehen können, deswegen beschloss er, einen Teil des Familienwohnsitzes umzuwandeln und dort die einzige Töpferwerkstatt von Dacheng aufzubauen. „Wahrscheinlich würde niemand extra nach Dacheng fahren, um nach einer Teekanne zu suchen“, räumt er ein. „Der Vorteil war jedoch, dass ich mir wegen Miete keine Gedanken machen musste und es keine Konkurrenz gab — und gibt.“

Weil Hsu wegen seines körperlichen Zustandes nur eine begrenzte Menge fertiger Töpfereiprodukte erzeugen konnte, richtete er sein Augenmerk auf die Herstellung von Teekännchen, da diese einen höheren Stückpreis erzielen als andere im täglichen Leben benutzte Keramik wie Teller oder Tassen. Um ein Teekännchen zu formen, braucht man nämlich höher entwickelte Fertigkeiten, denn das Kännchen muss ausbalanciert in der Hand liegen, der Tee muss gleichmäßig abfließen, und das Aroma des Gebräus muss optimal zur Geltung gebracht werden.

Töpferlehm gilt seit langem als bestes Material für Teekännchen, die übliche Technik für ihre Herstellung besteht im Gebrauch einer Töpferscheibe für das Kannengefäß und Handarbeit für Ausgusstülle, Griff und Deckel. Die Arbeit mit der Töpferscheibe ist allerdings für Hsu außerordentlich schwierig, weil der Handwerker dabei Kraft aus der Taille einsetzen muss, um im Gleichgewicht zu bleiben und beim Drehen der Scheibe Arme und Hände ruhig zu halten. „Es ist eine Technik, die normale Menschen durch Üben meistern können, für mich trifft das nicht zu“, stellt Hsu klar. „Kraft aus der Taille werde ich nie wiedererlangen, deswegen musste ich dafür einen anderen Weg finden.“ Nachdem er mehrere Methoden ausprobiert hatte, fand Hsu die Lösung, indem er sich gegen ein Brett lehnte, das er auf die Armstützen des Rollstuhls legte. Das Brett bietet Halt für seinen Oberkörper und die Ellenbogen, so dass er den Lehm auf der Töpferscheibe gleichmäßig bearbeiten kann.

Eine weitere Schlüsseltechnik, aus der sich die Qualität des Teekännchens ableitet, ist die Bedienung des Brennofens. Hsu legt dar, dass die feinen Poren im Töpferlehm das Aroma des Tees abmildern können, indem sie das Öl aus den Blättern absorbieren, und im Laufe der Zeit gewinnt das Kännchen durch Alterung ein betagteres Aussehen und der darin gebraute Tee einen einzigartigen Geschmack, beides sehr begehrte Effekte. Unterschiedlicher Ton erfordert unterschiedliche Brenntemperaturen. Stellt man die Temperatur ein paar Grad zu hoch ein, dann kann sich die Oberfläche des Teekännchens in etwas verwandeln, das Porzellan ähnelt, wobei der Effekt eines Ton-Teekännchens verlorengeht. Hsu hat viele Sorten Lehm ausprobiert und bevorzugt nun für seine Teekännchen eine Mischung von zwei Arten aus dem nordtaiwanischen Landkreis Miaoli. Dennoch muss er sich bei jeder Lehmlieferung die Zeit nehmen, die passende Brenntemperatur festzulegen, denn schon eine geringfügige Fehleinschätzung kann die Qualität des Endprodukts schmälern.

Kürbis (2006), 11 x 15 x 10 cm (Foto: Huang Chung-hsin)

Hsu weiß, dass Kunsthandwerker nicht nur hochwertige Artikel herstellen, sondern auch ein gewisses Extra bieten müssen, um vom Markt wahrgenommen zu werden. Hsus Methode war, Muster aus den 12 Symbolen des chinesischen Tierkreises in seinen Entwürfen zu kombinieren. Ein Teekännchen, das zum Beispiel für das Jahr des Hundes gestaltet wird, könnte eine Tülle in Form eines Hundekopfes haben und einen Henkel mit dem Aussehen des Schweifes. „Entwürfe im Zusammenhang mit den chinesischen Tierkreiszeichen sind immer leichter zu verkaufen, da sie den Menschen das Gefühl von Individualität geben“, weiß er. Trotz seiner körperlichen Einschränkungen arbeitete Hsu in den ersten Jahren nach Gründung seiner Werkstatt über 10 Stunden am Tag. 1997 veranstaltete er seine erste Solo-Ausstellung im Kulturzentrum des Landkreises Changhua. Dank der verschiedenen Ausstellungen und Handwerkswettbewerbe, an denen er zu jener Zeit teilnahm, stellte sich bei Sammlern Anerkennung für seine Designs ein, und seine Erzeugnisse sind auf dem Markt recht erfolgreich. Manche Käufer haben im Laufe von zwölf Jahren sogar die komplette Garnitur von Teekännchen mit Motiven des chinesischen Tierkreises erworben, die Hsu kreiert hat.

Entwürfe modellieren

Um die Bandbreite seiner Teekännchen auszuweiten, begann Hsu im Jahr 2000 damit, sie ohne Töpferscheibe zu modellieren. Zwar ist dieses Verfahren zeitaufwändiger, doch für ihn ist es im Hinblick auf seinen Zustand körperlich nicht so anstrengend wie der Gebrauch der Töpferscheibe. Die Technik gibt ihm zudem mehr Spielraum für die Gestaltung einzigartiger Designs. In den Monaten vom Frühling bis zum Frühherbst, wenn Ton wetterbedingt schneller austrocknet, arbeitet Hsu weiterhin mit seiner Töpferscheibe. Den Rest des Jahres jedoch trocknet der Ton langsamer, und Hsu nutzt die Gelegenheit zum Modellieren von Teekännchen. Dank seiner gründlichen Ausbildung in chinesischer Malerei kann er realistische Bilder aus seinem Bauerndorf nachbilden, und so verleiht er seinen Teekännchen das Aussehen von Treibholzblöcken, Körbchen mit Erdnüssen oder Bambusstücken. Wie bei seinen Tierkreiszeichen-Artikeln sind auch die modellierten Teekännchen populär geworden.

Hsu wartet nicht nur mit neuen Entwürfen auf, sondern fühlt sich überdies berufen, die Handwerkskunst weiterzugeben. In der Meifeng-Grundschule, die er als Kind besuchte, hat er einen Töpfer-Klassenraum eingerichtet, damit Kinder in dem ländlichen Gebiet mehr Zugang zu Kunstausbildung gewinnen. „Wahrscheinlich wird niemand von ihnen Töpferkünstler werden, doch ich würde mich freuen, wenn manche Kinder Wertschätzung für Kunst lernen können“, teilt er mit. Abgesehen vom Unterricht an der Meifeng-Grundschule hat Hsu Programme für Senioren und geistig behinderte Kinder in örtlichen Wohlfahrtsorganisationen entworfen, weil die Hand-Augen-Koordination und die Muskelkontrolle, die man beim Töpfern braucht, bei der Reha oder der Entwicklung solcher Menschen hilfreich sind. Und trotz seines vollen Terminkalenders ist Hsu immer mit Freuden bereit, mit Patienten, deren Rückenmark verletzt wurde, über seine Erfahrungen zu sprechen.

Wegen des Unfalls vor 28 Jahren ist Hsu auf den Rollstuhl angewiesen. Dieses Ereignis rief bei ihm zuerst Gefühle der Verzweiflung und Frustration hervor, aber mit Entschlossenheit und einer Töpferscheibe hat er sich seitdem ein neues Leben aufgebaut.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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