19.05.2024

Taiwan Today

Kultur

Zurück zum Tempel

01.09.2013
(Foto von Xu Zhe-jia, Courtesy Baoan Temple)
In Taiwan sind die zahllosen Tempel im ganzen Land nicht nur Orte für Andacht, sondern auch öffentliche Plätze für Gemeindeversammlungen. In der Geschichte der Besiedlung Taiwans durch die Han-Chinesen zählten Tempel meist zu den ersten Anlagen, welche die frühen Zuwanderer vom chinesischen Festland aufbauten, da das harte Leben, das sie in ihren neuen Siedlungen erfuhren, einen großen Bedarf für göttlichen Segen mit sich brachte. Ein namhaftes Beispiel ist der Dalongdong Baoan-Tempel (大龍峒保安宮) im heutigen Westteil von Taipeh, der im vergangenen Jahrzehnt nach Abschluss eines ausgedehnten Renovierungsprojektes eine gewisse Wiederbelebung verzeichnete.

Das Dalongdong-Gebiet nahe dem Zusammenfluss der Flüsse Keelung und Tamsui verdankt seinen Namen dem Pourompon-Stamm des Ketagalan-Ureinwohnervolkes. Die Gemeinde war das zweitfrüheste Aufbauprojekt Han-chinesischer Siedler im Taipeh-Becken nach dem Wanhua-Bezirk im Südwestteil der heutigen Stadt. Mitte des 18. Jahrhunderts brachten festlandchinesische Zuwanderer Statuen des Medizingottes Baosheng (保生) aus ihren Heimatorten im Süden der Provinz Fujian über die Taiwanstraße und stellten sie in einem einfachen Holzbau in Dalongdong namens Baoan-Tempel auf. Als die Gegend sich zu einem Zentrum kommerzieller und kultureller Aktivität entwickelte, errichtete man sorgfältiger ausgearbeitete Strukturen als Schrein für die verehrte taoistische Gottheit, und der heutige Tempel nahm ab 1805 in einem Wiederaufbauprogramm, dem im Laufe der Jahre weitere Reparatur- und Renovierungsbemühungen folgten, Gestalt an.

Wiederhergestellter Glanz

Im Jahr 2002 wurde ein siebenjähriges Restaurierungsprojekt des Baoan-Tempels mit einem Umfang vollendet, der alle Maßnahmen der vorherigen 80 Jahre in den Schatten stellte. Das Projekt erntete viel Lob aus dem In- und Ausland, unter anderem gab es Auszeichnungen vom Innenministerium und der Stadtverwaltung Taipeh. 2003 wurde der restaurierte Baoan-Tempel von der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, UNESCO) anerkannt, als er eine „lobende Erwähnung“ bei den Asien-Pazifikpreisen für Kulturerbebewahrung der Organisation erhielt, einer von neun Preisträgern unter 22 eingereichten Projekten. Der Preis war im Jahr 2000 ins Leben gerufen worden, um Leistungen bei der Bewahrung oder Restaurierung historischer Gebäude, Orte oder Objekte älter als 50 Jahre durch private oder öffentlich-private Initiativen in der Region zu würdigen. Juroren des UN-Preisausschusses beschrieben das Baoan-Projekt als „eine große technische Errungenschaft“, welche „umfassende Bewahrung der religiösen und architektonischen Bedeutung des Gebäudes“ aufwies. Das Projekt wurde überdies dafür gelobt, dass es „einen ausgewogenen Ansatz zwischen Einsatz moderner wissenschaftlicher Bewahrungsmethoden und traditionellen architektonischen und dekorativen Handwerkskünsten [angewandt habe, um] so viel von der historischen Gebäudetextur wie möglich zurückzugewinnen“. Durch Anpassung an den globalen Trend, das Kulturerbe zu bewahren, hat der Baoan-Tempel dazu beigetragen, Taiwans Präsenz in der internationalen Gemeinschaft zu vergrößern, und er bot darüber hinaus ein Modell für beispielhafte Bewahrungsarbeit bei ähnlichen Projekten in der Zukunft.

Der Baoan-Tempel war 1985 zum historischen Gebäude erklärt worden und wird heute als „Monument unter der Verwaltung einer regierungsunmittelbaren Stadt“ (in diesem Fall Taipeh) eingestuft, im Einklang mit dem Kulturerbe-Bewahrungsgesetz, das 2005 gründlich überarbeitet wurde, um Bestimmungen für die historischen Stätten des Landes genau zu formulieren. Bis März dieses Jahres hatte Taiwan 767 Monumente benannt, die je nachdem, ob sie unter der Aufsicht der Zentralregierung, einer Lokalverwaltung oder einer regierungsunmittelbaren Stadt stehen, in einer von drei Kategorien aufgelistet sind. Daneben gibt es 1075 Kulturerbe-Gebäude unter der Zuständigkeit von Lokalverwaltungen.

Für die aufwändigen Tempeldekorationen wie diesen Dachfirstzierat aus geschnittenen Keramikstücken (links) oder allgemeine Dachreparaturen (kleines Bild) braucht man erfahrene Handwerkskünstler. (Foto: Huang Chung-hsin)

Im Rahmen des Standardverfahrens für Bewahrungsarbeit bemühen sich die Verwalter einer Stätte üblicherweise um staatlichen Beistand. Die zuständige staatliche Behörde beruft zunächst bestimmte Architekten und Akademiker, damit Schäden untersucht werden und ein detaillierter Plan für Reparaturarbeiten entworfen wird. Die Behörde legt anschließend ein Budget fest und arrangiert eine öffentliche Ausschreibung, um einen Auftragnehmer zur Ausführung der Arbeiten zu benennen. Leider führt das vom Staat dominierte Verfahren zu ineffizienten oder unprofessionellen Ergebnissen, tadelt Liao Wu-jyh, Präsident der Baoan-Tempelstiftung Taipeh. Das könnte seiner Einschätzung nach zum Beispiel an der oberflächlichen Untersuchung des Zustandes eines Bauwerkes liegen, oder weil die strengen Regeln bei staatlicher Finanzierung den Umgang mit unerwarteten Problemen, die häufig während Reparaturarbeiten zutage treten, erschweren. Liao war Vizepräsident der Stiftung, als er das Restaurierungsprojekt von seinen Anfängen 1995 an beaufsichtigte.

Um die vollständige Kontrolle über den Restaurierungsablauf zu bewahren, beschloss Liao, auf Finanzierung aus dem öffentlichen Sektor, der in der Regel die Hälfte des Gesamtetats anbietet, zu verzichten, und sich stattdessen gänzlich auf die eigenen Finanzen des Tempels zu stützen. Am Schluss erreichten die Ausgaben 260 Millionen NT$ (6,5 Millionen Euro). Mit diesem Schritt konnte man das Risiko qualitativ minderwertiger Arbeit vermeiden, die manchmal geleistet wird, wenn der Auftragnehmer, der den Zuschlag erhalten hat, sich für die billigsten Methoden zur Vollendung eines Projekts entscheidet. „Wir wissen mehr über den Tempel als die Auftragnehmer, und uns liegt der Tempel auch mehr am Herzen“, begründet Liao. „Wir brauchten die beste traditionelle Handwerkskunst und moderne Technologie.“ Letztere kam zum Einsatz, um das Gebäude unter anderem vor Termiten und Holzfäulnis zu schützen. „In der Vergangenheit entdeckte man Verfall durch Hämmern oder Betrachten, heute stehen Ultraschall-Suchverfahren zur Verfügung“, so Liao. „In altes Holz wurde Insektenvertilgungsmittel injiziert, neues Holz wurde darin getränkt.“

Wasserrohre und elektrische Verkabelung wurden unterirdisch verlegt, ebenso Systeme für Klimatisierung und Feueralarm, um die traditionelle Ästhetik des Komplexes zu erhalten. Liao verweist zudem auf andere wesentliche Merkmale der Restaurierung wie den Abbau der großen Schutzüberdachung, die vor Jahrzehnten vor der Haupthalle hochgezogen worden war, und die Installierung eines Beleuchtungssystems, um den Tempel in der Dunkelheit anzustrahlen.

Ursprüngliches Verfahren

Aus Respekt vor traditionellen Details wie Holz- und Steinschnitzereien, Tonfiguren, Keramik und bemalte Tafeln bestand das Hauptziel darin, die dekorativen Elemente so weit wie möglich in ihren Originalzustand zurückzuversetzen. Zum Beispiel wurden die Wandmalereien in der Haupthalle des Tempels von einem Restauratoren-Team aus Australien gereinigt und restauriert, anstatt dass man die Fresken neu gemalt oder sogar ersetzt hätte, wie das in manchen Tempeln geschieht. Die meisten der anderen Handwerker, die während des Projekts beschäftigt wurden, kamen aus Taiwan, denn Tempel in traditionellem Stil werden heute noch im ganzen Land neu gebaut oder renoviert, deswegen blieben die Fertigkeiten zu einem gewissen Grad erhalten. „Abgesehen von Steinschnitzern, von denen viele nach Festlandchina gezogen sind, kann man Handwerker aus anderen Bereichen wie Holz- und Tongestaltung nach wie vor hier in Taiwan finden“, freut sich Liao. Die Fachleute arbeiteten eng mit Liao und der Tempelverwaltung zusammen, um Originalstrukturen und die Techniken zu ihrer Herstellung zu ermitteln, und man gab sich die größte Mühe, im ganzen Tempel Details originalgetreu zu restaurieren. Die direkte Kommunikation zwischen dem Tempel und den Handwerkern ohne Subunternehmer dazwischen war ein Schritt zurück zu früheren Kooperationsmodellen. „[Ursprünglich gab es in Tempeln] enge Koordination zwischen der Verwaltung, Handwerkern und Fengshui-Meistern“, doziert Liao, der die einzelnen Handwerker einstellte und dann ihre Arbeit direkt beaufsichtigte.

Kinder beteiligen sich an einem vom Tempel veranstalteten Malwettbewerb. (Foto von Xie Zhen-xiang, Courtesy Baoan Temple)

„In der [jüngsten] Vergangenheit wurde die Reparaturarbeit größtenteils von erfahrenen Architektur-Spezialisten erledigt“, schrieb Wang Huey-jiun, Professor in der Architekturabteilung der National Taiwan University of Science and Technology (NTUST) in Taipeh, im Vorwort eines Buches über das Baoan-Restaurierungsprojekt, das 2009 erschien. Wang leitete ein Team aus Studierenden der Hochschule, um die Bestandsaufnahme und Kartografierung des Projekts zu behandeln. „Im Fall der Baoan-Restaurierung erforderte die Lösung diverser Probleme wie Auswahl der Holz- und Termitenkontrollmaßnahmen die Zusammenarbeit von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen. Gleichzeitig brauchte man nicht nur Erfahrung, sondern auch gegenseitiges Vertrauen zwischen den Inhabern der Stätte und den Handwerkern, um die besten Resultate traditioneller Techniken bei Holzschnitzerei und Keramikherstellung zu erzielen. Solche Handwerkskunst lässt sich wirklich nur vor Ort an Stätten, die restauriert werden, erlernen und weitergeben.“

„Für mich und die Graduiertenstudierenden und Assistenten, die an dem Projekt beteiligt waren, war es ein mühseliges Unterfangen, da wir mit einer riesigen Menge hochkomplizierter Daten zu tun hatten, aber es bot uns auch eine seltene Gelegenheit, alle Einzelheiten von Restaurierungsarbeit zu erfassen“, schrieb Wang. „Wir lernten die Probleme bei Restauration von traditioneller Architektur kennen und führten Gespräche mit der Tempelverwaltung und Fachleuten verschiedener Bereiche, um uns auf die besten Methoden für Restaurierung festzulegen. Während des Restaurierungsablaufes und nach Abschluss der Arbeit kamen Leute, die mit Restaurierung in anderen Tempeln zu tun hatten, ebenfalls [nach Baoan] und beteiligten sich an den Gesprächen, so dass es ein wesentliches Modell für örtliche Restaurierungsarbeit wurde.“

Neben den Bemühungen, die physische Struktur des Tempels instandzusetzen, hat Liao eine Wiederbelebung seiner traditionellen gesellschaftlichen Rolle im Auge. „Während in der Vergangenheit normalerweise die Angehörigen der örtlichen Gentry für die Verwaltung von Taiwans Tempeln zuständig waren, mischen heute häufig Lokalpolitiker mit“, enthüllt Liao. „Tatsächlich kann ein Tempel für das öffentliche Interesse viel positivere Funktionen ausüben.“ Als zum Beispiel im August 2009 der verheerende Taifun Morakot über Südtaiwan hinwegfegte und an vielen Stellen Verkehrslinien und Kommunikationsverbindungen zur Außenwelt unterbrach, gehörten örtliche Tempel laut Liao zu den ersten Einrichtungen, welche Nachrichten für Fernsehübertragungen weitergaben. Liao dient derzeit als Leiter eines Verbandes aus 183 Baosheng-Tempeln auf der ganzen Insel. Die 1989 gegründete Gruppe wurde 2007 neu organisiert, um pädagogische, kulturelle und wohltätige Aufgaben zu übernehmen, „indem man auf jahrelange Erfahrung der Umwandlung des Dalongdong Baoan-Tempels zurückgriff“, erklärte Liao, als die neue Gruppe entstand.

Mitte der neunziger Jahre begann der Tempel, sein jährliches Fest zum Geburtstag der Hauptgottheit am 15. Tag des dritten Mondkalendermonats auszuweiten. Seit dem Jahr 2000 umfasst das Baosheng-Kulturfest eine Reihe religiöser, kultureller und künstlerischer Ereignisse, welche den Tempel zu einem „Gemeinde-Kulturzentrum“ entwickeln und ein Tempelfest „städtischer“ Art heranbilden sollen, wie Liao es ausdrückt. Neben traditionellen religiösen Ritualen und Umzügen von Schausteller-Ensembles bestand die diesjährige Veranstaltung aus Theatervorstellungen, Malwettbewerben und Ausstellungen, Führungen in Kulturerbe-Gebäuden, Chorkonzerten und Foren über Religion. Außerdem nahmen Vertreter von anderen Baosheng-Tempeln aus ganz Südostasien einschließlich Festlandchina, Hongkong, Malaysia, Philippinen und Singapur an dem Fest teil. „Ein Glaube kann in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise gezeigt werden“, meint Liao. „Unser taiwanischer Ausdruck religiöser Kunst besitzt ein großes Fremdenverkehrspotenzial und ist zudem von außenpolitischer Bedeutung.“

(Deutsch von Tilman Aretz)


Die Kunst der Führung

Wenn die Restaurierung des Dalongdong Baoan-Tempels ein neues Modell für Kulturschutzprojekte in Taiwan darstellt, dann darf Liao Wu-jyh (廖武治), der die Arbeit beaufsichtigte, als neue Art von Führungspersönlichkeit gelten.

„Der größte Unterschied zwischen dem Baoan-Projekt und anderen umfangreichen Reparaturprojekten war die Führung des Tempelverwalters Liao“, lobt Wang Huey-jiun von der NTUST. „Dieser neue, hochgradig experimentelle Ansatz erwies sich als Schritt zurück zum traditionellen Tempelbaumodell der Zusammenarbeit zwischen dem Besitzer der Stätte und den Handwerkern. Wir glauben, dass diese Methode eine Richtung und konkrete Methodologie aufzeigte, wovon andere große Restaurierungsprojekte in der Zukunft lernen können.“

Tatsächlich ist Liao aus mehreren Gründen verglichen mit Taiwans anderen Tempelbetreibern einzigartig. Der Baoan-Tempel mit seinen Bildungseinrichtungen, darunter eine Bibliothek und regelmäßige Kurse in religiösen, historischen, kulturellen und künstlerischen Fächern, wirkt ähnlich wie ein lokales Lernzentrum oder eine Volkshochschule. Liao bietet Unterweisung im Tempel und unterrichtet überdies nebenberuflich an der Abteilung für Architektur-Kunstbewahrung der National Taiwan University of Arts in New Taipei City. Außerdem ist er ein Maler und glaubt an eine natürliche Verbindung zwischen Religion und Kunst. „Religiöse Glaubensvorstellungen sind immer in Architektur, Musik, Malerei und Bildhauerei ausgedrückt worden und haben viele Künstler dazu inspiriert, Meisterwerke zu erstellen“, weiß er.

1960 begann er im Alter von 18 Jahren, Malerei bei Chang Wan-chuan (張萬傳, 1909-2003) zu lernen, der während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) wie viele der ersten Maler westlichen Stils aus Taiwan in Japan ausgebildet worden war. 1966 schrieb Liao sich an der heutigen National Taiwan University of Arts ein, wo er weiter westliche Malerei studierte. Im Februar dieses Jahres stellte Liao seine Gemälde aus, von denen die meisten in einem impressionistischen Stil ausgeführt waren und manche den Baoan-Tempel als Motiv hatten. In einer Bewertung der Einzelausstellung in Taipeh pries Li Chien-lang, Teilzeitdozent in der Abteilung für Architektur und Städtedesign der Chinese Culture University in Taipeh, die kraftvolle Pinselführung des Künstlers und den feinen Einsatz scharfer, warmer Farben bei der Darstellung historischer Gebäude. „Natürlich entwickelt ein Verehrer alter Tempel und Monumente einen schärferen Blick für Farbschichten auf einer Wand“, versicherte Li. „Liaos Ölmalerei spiegelt die solide visuelle Schönheit von einheimischer und westlicher Architektur getreu wider.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

Meistgelesen

Aktuell