02.05.2024

Taiwan Today

Kultur

Eine noble Vergangenheit in Stein

01.11.2013
Eine menschliche Gestalt in voller Länge ist eine der Wanshan-Steinschnitzereien. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Hsu Sheng-fa und Tseng Yi-jen)
„Diese geschnitzten kreisförmigen Linien und diese Symbole, die menschlichen Gesichtern ähneln, wurden sie von Außerirdischen hinterlassen oder sind das einzigartige Kreationen von Künstlern?“ So lauteten Fragen in einführenden Bemerkungen einer Ausstellung im Geschichtsmuseum Kaohsiung in diesem Jahr. Die Schau umfasste Nachbildungen und Abreibungen von Steinschnitzereien, die unter der Bezeichnung „Wanshan-Petroglyphen“ (萬山岩雕) bekannt wurden und sich in einem Ureinwohner-Stammesdorf des gleichen Namens im Bezirk Maolin der südtaiwanischen Stadt Kaohsiung befinden. „Die Wanshan-Petroglyphengruppen sind voller mysteriöser Symbole“, heißt es weiter in den Bemerkungen. „Diese eingravierten Muster wurden von prähistorischen Menschen geschaffen, und wegen ihrer Einzigartigkeit wurde das Gebiet zur nationalen historischen Stätte erklärt. Wir veranstalten diese Ausstellung, damit die Menschen in Kaohsiung mehr über die örtliche altertümliche Steinkunst erfahren können. Wanshan besitzt als einzige großflächige Petroglyphen-Kulturerbestätte in Taiwan hinsichtlich der ethnischen Kulturentwicklung einen besonderen Wert und hat viele Geschichten zu erzählen.“

In den siebziger Jahren erlebte man in Taiwan einen neuen Schwerpunkt auf Geschichte und Literatur des lokalen Lebens und der einheimischen Menschen. In einer zunehmend liberalisierten Gesellschaft repräsentierte das wiederbelebte Interesse an den heimischen Wurzeln eine Abkehr von der festlandchinesischen Perspektive auf historische Begebenheiten, der damals dominanten Version von Taiwans Geschichte. Infolgedessen begannen viele Taiwaner ihre Traditionen zu überdenken. Unter anderem fing man damit an, das Wissen über die Ureinwohnervölker des Landes wegen seines eigenen ethnischen und kulturellen Wertes zu erforschen und nicht als Hintergrund zur viel späteren Besiedlung durch Han-chinesische Zuwanderer. Gemeinsam mit der sich herauskristallisierenden Fachrichtung der Taiwanstudien hat die Gelehrsamkeit über Taiwans Frühgeschichte zu dieser intellektuellen Tradition beigetragen.

Vor allem die 1978 in den Bergen des heutigen Stadtgebiets von Kaohsiung entdeckten Steinschnitzereien verlängerten die Liste der globalen prähistorischen Petroglyphen. Der Fund ereignete sich im April jenes Jahres durch Kao Yeh-jung, einem Dozenten an einem College in Südtaiwan, das mittlerweile zur National Pingtung University of Education aufgewertet wurde. Kao erkundete unter der Führung von drei Mitgliedern des örtlichen Wanshan-Stammes der Rukai-Ureinwohnervolksgruppe den Oberlauf des Zhuokou-Flusses in Kaohsiung. Die Rukai, eine von 14 staatlich anerkannten Ureinwohnergruppen in Taiwan, leben überwiegend in Kaohsiung, Pingtung und dem benachbarten Landkreis Taitung im Süden der Insel.

Die erste entdeckte Petroglyphen-Stätte im Bezirk Maolin wurde Kopaca’e genannt, ein Ausdruck in der Rukai-Sprache, der zu Deutsch etwa „Stein mit Mustern“ bedeutet. „Dieser Ort gehört zu unseren traditionellen Jagdgründen“, bemerkt Male, der nur einen einzigen Namen benutzt und früher den Entwicklungsverband der Gemeinde Wanshan als Geschäftsführer leitete. „Nun hat er akademischen Wert für Forscher gewonnen.“ Von Males Gemeinde aus braucht man für eine Expedition nach Kopaca’e hin und zurück vier Tage. Zwar legt man dabei insgesamt nicht mehr als vierzig Kilometer zurück, doch kann man die Reise nur zu Fuß unternehmen, und der Weg führt durch schwieriges, raues Gelände.

Seit 1978 hat Kao in der gleichen Region drei weitere Stätten mit mehreren gravierten Steinen ausfindig gemacht. Wie Kopaca’e liegen sie im Bergland auf Höhenlagen zwischen 800 und 1500 Metern. „Sie nehmen einen wesentlichen Platz in Taiwans Kulturgeschichte ein“, urteilt Kao. „Außerdem bereicherten sie die Archäologie in Taiwan um einen neuen Aspekt. Zuvor war es dabei meist darum gegangen, Relikte auf Baustellen für Gebäude oder Straßen im Flachland zu retten, dem Bergland hatte man weniger Aufmerksamkeit geschenkt.“ Kao setzte sich 2011 vom Lehrbetrieb zur Ruhe, doch er führt weiterhin Forschung durch und spricht über die Wanshan-Petroglyphen. Unter den vier Gruppen von Schnitzereien weist Kopaca’e den reichhaltigsten Zeichenvorrat auf, darunter Muster mit konzentrischen Kreisen, Wirbel sowie Bilder von menschlichen Gesichtern und Figuren, die über 80 Quadratmeter flache Felsen bedecken.

Im Jahr 1989 wurden die drei damals bekannten Schnitzerei-Gruppen vom Innenministerium der Republik China zu „historischen Stätten unter der Aufsicht der Kreisverwaltung“ erklärt. 2008 wurden die nun 14 bekannten beschnitzten Felsoberflächen an vier Stätten nach Änderungen am Gesetz über die Bewahrung des Kulturerbes vom damaligen Rat für Kulturangelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA) — seit Mai vergangenen Jahres Kulturministerium — zu „nationalen historischen Stätten“ aufgewertet. Zur Zeit gibt es in Taiwan sieben prähistorische Stätten auf nationaler Ebene, außerdem 36 ähnliche Stätten, die Lokalverwaltungen unterstehen.

Erstellung einer Stein-Abreibung an der Wanshan-Petroglyphenstätte. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Hsu Sheng-fa und Tseng Yi-jen)

Außer Gefahr gebracht

Das Kulturamt der Stadtverwaltung Kaohsiung ist zuständig dafür, jedes Jahr zwei Inspektionen an den Wanshan-Petroglyphen zu unternehmen, um über ihren Zustand zu berichten, insbesondere über Schäden durch Naturkatastrophen oder menschliches Handeln. „Es hat den Anschein, dass durch eine Art altertümlicher Weisheit die beschnitzten Steine an Orten stehen, wo Erdrutsche unwahrscheinlich sind“, meldet Tseng Yi-jen, Dozent an der Architekturabteilung der National Quemoy University im vorgelagerten Landkreis Kinmen. „Befänden die Steine sich nur 100 Meter von ihrem Standort entfernt, gäbe es ziemliche Probleme.“ Tseng war mehrmals Mitglied von Gruppen staatlicher Beamter und Gelehrter, welche die Stätte für Feldstudien oder für 3D-Scannen besichtigten.

Kao war durch eine Ureinwohnergeschichte zur Suche nach den Petroglyphen angeregt worden. Ab 1969 unterrichtete er an der Schule in Pingtung, und einige seiner Schüler stammten aus benachbarten Rukai- und Paiwan-Gemeinden. Im Laufe der Jahre erzählten ihm Schüler des Wanshan-Stammes eine örtliche Legende über eine Frau der Bunun-Ureinwohnergruppe weiter nördlich, die mit einem Rukai-Mann verheiratet war, schließlich aber fortgehen musste, weil sie Schlangenfleisch aß. Schlangen werden in der traditionellen Rukai-Gesellschaft verehrt. Vor der Rückkehr in ihren Heimatort, so erzählte man sich, hinterließ die Frau Schnitzereien auf Steinen, die „so weich wie ein Reiskuchen“ waren. „Bis 1978 hatte ich zehn Jahre lang künstlerische Muster der Ureinwohner erforscht, und ich hatte gelernt, die künstlerischen Darstellungen eines anderen Kultursystems zu bewundern“, verrät Kao zur Begründung seines Antriebes, nach den Petroglyphen zu suchen.

Durch C14-Datierung ermittelte man an Holzkohle, die 2012 bei Ausgrabungen in Wanshan gefunden worden war, ein Alter von 480 bis 520 Jahren, berichtet Kao, ein Abschnitt, der zeitlich also vor der niederländischen Herrschaft in Taiwan (1624–1662) liegt. „Wir sind jedoch nicht sicher, ob sie von den Menschen hinterlassen wurde, welche die Steine beschnitzten“, räumt er ein. „Es ist schwieriger, das Alter einer Steinschnitzerei zu bestimmen als das einer Gesteinsmalerei, da bei Malereien das Farbmaterial zur Datierung analysiert werden kann.“ Laut Tseng besteht eine mögliche Methode, das Alter einer Steinschnitzerei zu bestimmen, darin, Schlüsse darüber zu ziehen, welche Art von Werkzeug benutzt wurde, ob es etwa aus Eisen gefertigt war, und dann das Alter dieser Geräte zu schätzen.

Nach Auskunft des Archäologen Liu Yi-chang entstanden die Wanshan-Petroglyphen vor 500 bis über 1000 Jahren. Liu ist Wissenschaftler am Institut für Geschichte und Philologie der Academia Sinica, Taiwans renommiertester Forschungsinstitution, und lehrt am Graduierteninstitut für Anthropologie der National Chi Nan University im zentraltaiwanischen Landkreis Nantou. 2008 leitete er die staatliche Inspektion am Schauplatz Wanshan, welche zur Folge hatte, dass die Stätte in die höhere nationale Denkmalschutzkategorie aufgenommen wurde. Nach Lius Einschätzung wurde der Ort wahrscheinlich nur für Stammesrituale und Zeremonien benutzt, was er von dem Umstand ableitet, dass dort keine Alltagsobjekte gefunden wurden. „Es muss eine enge Verbindung mit der Adelsklasse der Ureinwohner geben, die wohl nicht so sehr Herrscher im politischen Sinn war, sondern einen hohen sozialen Status oder eine privilegierte Stellung einnahm, was sie berechtigte, Rituale durchzuführen“, sinniert Liu. „Die von ihnen verwendeten Symbole, die sonstwo etwa auf Holzskulpturen verrottet wären, wurden in Stein hinterlassen.“

Der Forscher betrachtet die Wanshan-Petroglyphen als Spur menschlicher Migration und Interaktion zwischen ethnischen Gruppen. Mitglieder des Adels könnten von Taiwans Ostküste in die Wanshan-Region gezogen sein, was durch die Vermischung unterschiedlicher ethnischer Gruppen Spannungen verursachte, und aus dem Konflikt entstand möglicherweise die Rukai-Legende über die schlangenessende Frau, führt Liu aus. „Doch die Bunun fehlen vermutlich in jener Geschichte“, spekuliert er. „Sie kamen erst sehr viel später in die Wanshan-Region.“

In Kopaca’e bedecken verschiedene Schnitzereien eine flache Steinoberfläche von über 80 Quadratmetern. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Hsu Sheng-fa und Tseng Yi-jen)

Brücke zur Welt

Liu schließt außerdem die Möglichkeit aus, die Zeichen könnten von frühen Han-chinesischen Zuwanderern verursacht worden sein. „Die Han-Chinesen drückten sich normalerweise nicht auf diese Weise aus, und die Schnitzereien ähneln eher denen von austronesischen Völkern in Südostasien“, doziert Liu. Durch Analysen der Piktogramme bringt Kao die in Wanshan gefundenen Muster im größeren Zusammenhang mit solchen aus panpazifischen Regionen in Hawaii, Hongkong, Festlandchina und Nordamerika in Verbindung. Das Wanshan-Muster mit abstrahlenden Linien über einem menschlichen Kopf zum Beispiel habe man auch im Gebiet des Gelben Flusses in Nordchina gefunden, bemerkt Kao, der mit Tseng und anderen Gelehrten Studienreisen zu Steinkunststätten in Festlandchina unternommen hat und dort mit Forschern zusammentraf. Laut Kao sind die Wanshan-Petroglyphen angesichts der Ähnlichkeit und gemeinsamen Aspekte von Steinkunst an verschiedenen Orten der Welt weder ein vereinzeltes Beispiel noch improvisierte Ausdrücke. Kao: „Taiwan stand wie eine Brücke zwischen altertümlichen Kulturen in Festlandchina und der pazifischen Region und wurde ein wichtiges Verbindungsglied bei ihrer wechselseitigen Beeinflussung.“

Nach Kaos Ansicht sollten die Wanshan-Petroglyphen als untrennbarer Bestandteil von Taiwans Kunstgeschichte gesehen und auch als solcher gelehrt werden. „Sie mögen primitiv sein, doch sind sie keinesfalls eine minderwertige Kunstform“, unterstreicht er. „Sie sind ursprünglich und in einer Weise kreativ, die vielleicht nicht unseren ästhetischen Konzepten entspricht, weil wir ein relativ armseliges Verständnis von der Geschichte und Kultur Taiwans über die 500 Jahre Besiedlung durch Han-Chinesen hinaus haben.“

Ausstellungen der Wanshan-Petroglyphen fanden in den jüngsten Jahren in Museen im ganzen Land statt, neben der diesjährigen Präsentation im Geschichtsmuseum Kaohsiung etwa im Shihsanhang Museum of Archaeology in der nordtaiwanischen New Taipei City und im National Museum of Prehistory in Taitung. Die Exponate umfassen unter anderem Kopien der Schnitzereien, die durch immer ausgereiftere Techniken des 3D-Scannens vor Ort erstellt wurden. Kao regt an, unweit der Wanshan-Stätte ein permanentes Ausstellungszentrum für Nachbildungen der gravierten Steine einzurichten, bessere Zufahrtsstraßen zu schaffen und örtliche Ureinwohner als Reiseführer einzustellen. „Sie haben ihre Mythen und Legenden zu erzählen“, begründet er. „Es ist Teil ihres ethnischen Kulturerbes.“

Male, der 2006 nach Wanshan zurückkehrte und ein Steinkunstatelier aufmachte, schlägt vor, dass man aus den Petroglyphen ein unverwechselbares Stammes-Image für die Gemeinde aufbauen und diese in öffentliche Kunstwerke, Kleidung und andere Designs integrieren könnte. Untersetzer aus Schiefer, die er mit Mustern der Wanshan-Petroglyphen verzierte, wurden im vergangenen Jahr bei einem Wettbewerb für kulturelle kreative Produkte der Stadtverwaltung Kaohsiung mit einem Preis ausgezeichnet. Male kommentiert: „Unsere ethnische Tradition und das Kulturerbe könnten in der modernen Gesellschaft für den Nutzen unseres eigenen Volkes und der taiwanischen Gesellschaft allgemein stärker zum Vorschein gebracht werden.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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