27.04.2024

Taiwan Today

Kultur

Ein Zentimeter am Tag

01.01.2014
Für sein 2006 geschaffenes Werk Stretch erhielt Peng Kun-yen als erster nicht-japanischer Künstler überhaupt einen Preis im angesehensten Lackkunst-Wettbewerb in Japan. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Peng Kun-yen)
In seiner kleinen Werkstatt in der nordtaiwanischen Gemeinde Beipu (Landkreis Hsinchu) „baut“ Peng Kun-yen (彭坤炎) eine neue Lackschicht auf der Oberkante einer Schale auf, an der er bereits mehrere Wochen gearbeitet hat. Das Stück wird dann beiseite gestellt, damit der Lack einen Tag aushärtet, wonach eine weitere Schicht aufgetragen werden kann. Die Gestaltung von Lack-Artikeln von Grund auf ist Pengs einzigartige Technik. Da immer nur eine begrenzte Stärke von Lack auf einmal aufgetragen werden kann, dauert es sechs bis zwölf Monate, bis ein einzelnes Stück vollendet ist. „Man braucht unglaublich viel Geduld, doch die Technik ist der Mühe wert, weil sie mir die Freiheit gibt, die Designs zu verwirklichen, die mir vorschweben“, versichert er.

Peng kam 1958 als Spross einer Fischerfamilie unweit des Fischereihafens Nanliao in der Stadt Hsinchu zur Welt, begann aber schon während seiner Mittelschulzeit, nebenbei in einer Möbelfabrik zu arbeiten. Die Fabrik produzierte überwiegend Ware für den japanischen Markt, und seine Aufgabe bestand darin, Lack auf die Möbel aufzutragen. Nachdem Peng seinen Militärdienst abgeleistet hatte, gründeten er und sein Bruder einen eigenen Betrieb, wo sie Artikel für mehrere japanische Möbelmarken herstellten.

Durch jahrelange Erfahrung in dem Geschäft konnte Peng gute Verbindungen mit japanischen Käufern aufbauen, die regelmäßig zu Inspektionen der Qualitätskontrolle nach Taiwan kamen. Beim Plaudern mit einem von ihnen erfuhr Peng, dass man mit Lack, den man in Japan „urushi“ (漆) nennt, wesentlich mehr anstellen kann, als ihn nur auf Möbel zu streichen. Der japanische Freund brachte Peng einige Bücher über Lackwaren mit, und Peng, den die Schönheit des Handwerks faszinierte, begann in seiner Freizeit mit Techniken zu experimentieren, die er in den Büchern fand. „Ich hatte mit 14 Jahren angefangen, mit Lack zu arbeiten, und bildete mir ein, alles darüber zu wissen“, bekennt er. „Doch diese Bücher öffneten mir wirklich die Augen und zeigten mir eine vollkommen andere Lackwelt.“ Peng stellt fest, dass Lack, der an sich eigentlich eine recht schlichte Substanz ist, für Künstler ein bemerkenswert vielfältiges Medium darstellt. Man kann es auf Oberflächen von Materialien wie Eierschalen, Muscheln, Gold- und Silberpulver sowie Perlmutt auftragen oder aufsprühen, um die Textur zu bereichern.

Während Peng sich mit den diversen Urushi-Techniken vertraut machte, verloren Taiwans Möbelexporteure allmählich ihren Wettbewerbsvorteil. Im Jahr 1986 beschloss Pengs Bruder, ihren Möbelbetrieb aufs chinesische Festland zu verlegen, Peng entschied sich indes dafür, in Taiwan zu bleiben und es mit der Arbeit mit Lack zu versuchen. Anstatt Alltagsobjekte wie Schalen, Tassen oder Essstäbchen aus Lack zu fertigen, wollte er aber den künstlerischen Weg beschreiten. „Mein Plan war einfach“, findet er. „Ich wollte meine perfekten Formen schaffen und sie mit meinen perfekten Farben überziehen.“

Die Ausführung dieses Planes erwies sich allerdings als nicht so einfach. Peng erläutert, dass Lackarbeiten im Allgemeinen entstehen, indem man Schichten des Materials auf einen Träger aus Bambusstreifen, Keramik oder Holz aufträgt. Kunsthandwerker kreieren zuweilen auch Lackgegenstände ohne Träger und tragen dazu Lack auf eine Lehmgrundlage auf, die nach dem Trocknen entfernt wird. „In beiden Fällen geht man mit den Entwürfen von einem vorhandenen Objekt oder Träger aus“, beschreibt er, was bedeutet, dass die daraus resultierenden Werke nicht vollkommen neu sind. „Ich konnte einfach nicht so frei schaffen, wie ich das wollte.“

Preisrichter vom Urushi-Kunsthandwerksverband Japan nannten Pengs preisgekröntes Werk Auspicious Light aus dem Jahr 2010 „ein erstaunliches Stück, das der ganzen Welt vorgestellt werden muss“. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Peng Kun-yen)

Dick genug

Auf der Suche nach einer Lösung dachte Peng an die geschnitzten Lackwerke, die in China während der Tang-Dynastie (618–907) erzeugt worden waren und eine rasante Entwicklung während der Song-Dynastie (960–1279) erfuhren. Die Technik umfasst das Auftragen zahlreicher Schichten von Lack auf eine Holzoberfläche, bis diese für Gravurarbeiten dick genug ist. „Ich dachte, wenn man Lack in Schichten so dick aufbauen kann, dass es sich darin schnitzen lässt, dann könnte das vielleicht auch stark genug sein, um ein komplettes Objekt zu schaffen“, sinniert er.

Nach einigen Experimenten fand Peng die Technik anwendbar, auch wenn sie mit gewissen Nachteilen verbunden war. Zum einen ist die Herstellung von reinen Lackobjekten kostspielig, weil dafür große Mengen des Materials benötigt werden. Der von Peng verarbeitete Rohlack für die Basisstruktur eines Werkes wird aus Festlandchina oder Vietnam importiert und kostet ungefähr 1700 NT$ (42,50 Euro) je Kilogramm. Der hochwertige Lack für die Oberfläche kommt aus Japan und kann schon pro Gramm so viel kosten, und das Blattgold und Perlmutt, womit Peng seine Lackartikel verziert, sind gleichfalls teuer.

Ein weiterer Nachteil von reinen Lackobjekten ist der, dass man für das Herstellungsverfahren sehr viel Zeit braucht, da die maximale Stärke von Lack, die Peng in einem Arbeitsgang hinzufügen kann, nicht mehr als 1 Zentimeter beträgt, danach muss er die Schicht einen Tag lang aushärten lassen, bevor mehr aufgetragen werden kann. Und wenn die grundlegende Form fertig ist, gibt es noch viel zu schleifen, schnitzen, färben und polieren, bis man ein Stück als vollendet ansehen kann. Die anfallenden Kosten und die erforderliche Zeit entmutigten Peng nicht, als er sich auf das Kunsthandwerk einließ, auch wenn seine Ehefrau Zheng Li-xiang ihre Zweifel hatte, ob es wirklich ein kluges Unterfangen sei. „Lack war und ist in Taiwan als Kunstform eher eine Randerscheinung, und als er anfing, war ich mir wirklich nicht sicher, ob er damit etwas erreichen oder zumindest davon leben könnte“, sagt sie. „Ich denke aber, es gibt im Leben immer Entscheidungen, die man fällen muss, und wenn man erst einmal etwas beschlossen hat, sollte man sich daran halten.“

Um Anerkennung zu erlangen, beteiligte Peng sich an mehreren Kunsthandwerk-Wettbewerben. Ab 1992 tauchte sein Name regelmäßig auf den Preisträgerlisten nationaler Veranstaltungen auf wie der Kunstausstellung Nanying und der Kunstausstellung der Provinz Taiwan. Peng reichte es jedoch nicht, einen Ruf in Taiwan zu gewinnen. „Japan gilt als das Land, wo die Lackkunst am besten bewahrt und entwickelt ist“, verrät er. „Ich wollte wirklich wissen, wie sich meine Werke im Vergleich mit dortigen Erzeugnissen machten.“

Durch ein paar alte Verbindungen erhielt Peng Gelegenheiten, bei japanischen Ausstellungen und Wettbewerben mitzumachen, die sich überdies als ausgezeichnete Schauplätze herausstellten, etwas zu lernen und neue Techniken aufzuschnappen. Im Jahr 2006 erhielt Pengs Werk Stretch den vierten Platz bei Japans höchstrangigem Lackwettbewerb, den der Urushi-Handwerksverband Japan an dem großen Schrein Meiji Jingu in Tokyo ausrichtet. „Es war das erste Mal, das einer der Preise an einen nicht-japanischen Künstler ging“, prahlt Peng. „Gemessen daran, wie ,vorsichtig‘ die Japaner dabei sind, einem Ausländer einen Preis für ein traditionelles Kunsthandwerk des Landes zu verleihen, war ich sehr stolz auf mich.“

Peng produziert Lackkunstwerke mit einer einzigartigen Technik, wobei er für ein Stück 6 bis 12 Monate benötigt. (Foto: Huang Chung-hsin)

Unerwartete Folgen

Der Ruhm hatte jedoch unerwartete Folgen. Nachdem sich seine Begeisterung, den Preis errungen zu haben, gelegt hatte, stellte Peng fest, dass er nichts Neues mehr kreieren konnte. „Ich musste immerzu daran denken, dass ich mit diesem Preis auf dem Höhepunkt angelangt war und ich unmöglich mehr erreichen konnte“, meint er im Rückblick. „Ich war so bedrückt, dass ich mich jeden Tag in der Werkstatt einschloss und nichts Anderes tat, als mich selbst zu bemitleiden.“ Über ein Jahr lang litt Peng an ernsten Depressionen und musste schließlich professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Psychotherapie war hilfreich, doch Peng denkt, dass Gespräche mit anderen Künstlern mehr zu seiner Erholung beitrugen. „Ich lernte von ihnen, dass alle Künstler in ihrer Laufbahn Höhen und Tiefen erleben“, kolportiert er. „Man kann für ewig gefangen sein, oder man kann lernen, Engpässe als Gelegenheit zu nutzen, einen Durchbruch zu erzielen.“ Peng schlug den letzteren Weg ein und fing wieder an, Kunst zu schaffen.

Anstatt sich nur auf Formen und Farben um ihrer selbst willen zu konzentrieren, unternahm er den Versuch, diese Elemente zu benutzen, um seine Gedanken und Beobachtungen über das Leben auszudrücken, auch wenn die meisten seiner Arbeiten abstrakt bleiben. Kritiker verglichen viele von Pengs jüngeren Kreationen mit denen von Surrealisten wie dem englischen Bildhauer Henry Moore (1898–1986) oder dem weißrussischen Künstler Ossip Zadkine (1890–1967).

Im Jahr 2011 nahm Peng erneut an dem Wettbewerb des Urushi-Handwerksverbandes Japan teil und heimste für sein Werk Auspicious Light den dritten Preis ein. „Ein erstaunliches Stück, das der ganzen Welt vorgestellt werden muss“, kommentierte die Jury. Abermals war er der einzige nicht-japanische Künstler, der einen Preis bekam, doch dieses Mal bewahrte er dabei eine gesundere Einstellung. „Ich denke, ich kam gut damit zurecht, weil ich wusste, dass ich immer noch Durchbrüche erzielen und den zweiten und ersten Platz anvisieren konnte“, glaubt er.

Archäologische Belege zeigen laut Peng, dass die Chinesen vor etwa 7000 Jahren begannen, Lack zu benutzen, wogegen die Geschichte der Lackverarbeitung in Taiwan nur bis zur japanischen Kolonialzeit (1895–1945) zurückreicht. Bei dem Bestreben, Taiwan zu einer Produktionsbasis für Lackwaren für den Fremdenverkehrsmarkt und den Export nach Japan zu entwickeln, führte die Kolonialverwaltung Lacksumach-Bäume (Rhus verniciflua) ein, baute Schulungseinrichtungen auf und schickte sogar einige Taiwaner zu Handwerksschulen in Japan, um ihnen die Techniken beizubringen. Taiwanische Handwerksmeister wie Lai Kao-shan (賴高山, 1924–2004) und Wang Qing-shuang (王清霜, geb. 1922) zum Beispiel eigneten sich die Handwerkskunst in Japan an. Taiwans Lackwarenhersteller machten damals gute Geschäfte, als sie zwischen den sechziger Jahren und Ende der achtziger Jahre Alltagsgegenstände wie Schalen, Essstäbchen oder Tassen auf den japanischen Markt exportierten, doch seit Ende der japanischen Kolonialzeit ist Austausch zwischen Kunsthandwerkern und Künstlern aus den beiden Ländern selten.

Da Lackwaren zumeist arbeitsintensiv sind und sich nur schwer in Massenproduktion herstellen lassen, begann das Gewerbe in Taiwan und Festlandchina zu schrumpfen, als moderne Maschinen eine immer größere Rolle im Herstellungsverfahren einnahmen. In Japan dagegen wurde die Handwerkskunst sorgsam bewahrt und entwickelt, seit sie während der Tang-Dynastie aus China eingeführt worden war. Lackierte Erzeugnisse sind nach wie vor ein geschätzter Teil der kulinarischen Tradition in Japan, wo solche Gegenstände seit langem dazu benutzt werden, die Präsentation von Kochkunst zu akzentuieren. Tatsächlich werden in manchen japanischen Familien seit über 30 Generationen Lackwaren gefertigt.

Die Unterschiede hervorheben

Um die Handwerkskunst in Taiwan wiederzubeleben, begann Peng über Wege nachzudenken, den Kontakt zwischen taiwanischen und japanischen Lackkünstlern zu fördern. Schließlich stieß er auf die Idee, Ausstellungen mit Werken zu organisieren, auf denen Lackwaren aus beiden Ländern gezeigt wurden, da man dabei nicht nur die Unterschiede in der Entwicklung der Handwerkskunst vorführen konnte, sondern damit auch eine großartige Gelegenheit für Kulturaustausch schuf. Er nutzte seine Verbindungen in beiden Ländern und hat bislang zur Organisation von drei Taiwan-Japan-Lackwarenausstellungen beigetragen — eine 1997 in Hsinchu, eine 2004 in Taichung und 2011 noch eine in Hsinchu.

Bei den Ausstellungen werden nicht nur Werke verschiedener Generationen von Kunsthandwerkern beider Nationen präsentiert, sie bieten auch Lerngelegenheiten für taiwanische Künstler. Zum Beispiel stellte eine der Veranstaltungen einen japanischen Meister vor, der die Handwerkskunst des maki-e (蒔繪) vorführte, eine japanische Technik, bei der mit Beschichten und Auftragen von Metallpulver und Lack flache Motive und Figuren mehr Volumen und Textur gewinnen. „Für die Japaner gelten viele der Techniken als Handwerksgeheimnisse, die nur von Vätern an Söhne oder von Meistern an Lehrlinge weitergegeben werden“, enthüllt Peng. „Einem dieser Handwerksmeister dabei zuzuschauen, wie er in einem anderen Land eine öffentliche Darbietung gibt, bot Außenstehenden eine seltene Gelegenheit, einige der Techniken aufzuschnappen.“

Sicherlich freute es Peng, den Kulturaustausch zwischen Handwerkskünstlern zu erleichtern, doch größere Genugtuung zieht er aus dem Umstand, dass die Zahl neugieriger Besucher, Lehrer und Schüler bei jeder Ausstellung im Inland zunahm. „Das bedeutet nicht, dass auch nur einer von ihnen Lackkünstler werden wird“, interpretiert er. „Doch es ist sicherlich ein Anzeichen dafür, dass mehr Menschen Lackwaren wahrnehmen und vielleicht Gefallen daran finden. Das ist eine gute Nachricht für eine traditionelle Handwerkskunst, die recht lange vernachlässigt wurde.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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