20.05.2024

Taiwan Today

Kultur

Kreative Betonköpfe

01.03.2014
Yu sieht seine Aufgabe als Designer nicht darin, Betrachter von der Brillanz seiner Entwürfe zu überzeugen, sondern eher die Vielfalt von Ideen vorzuführen. (Foto: Huang Chung-hsin)
Belastbar, beständig und preiswert — Beton ist das verbreitetste Baumaterial der modernen Zeit. Er kommt beim Bau von Gebäuden, Dämmen und Straßen so häufig zum Einsatz, dass man gar nicht mehr genauer hinschaut. Der Designer Sean Yu (游聲堯) dagegen erregt neugierige Blicke, indem er das Material auf neuartige Weise verarbeitet. Der 31-Jährige entwirft keine architektonischen Bauten, sondern gestaltet in seinem Atelier namens 22 Design Studio in Taipeh mit Beton Ringe, Stifte, Uhren und anderes Accessoire. „Ich lebe und arbeite in dieser Stadt“, bemerkt er. „Für mich vermittelt Beton ein kaltes und doch mitunter warmes Gefühl und reflektiert das Konzept des Lebens in einem Betondschungel.“

Nach dem Examen an einer der besten Oberschulen der Stadt schnitt Yu bei seiner Universitäts-Aufnahmeprüfung gut genug ab, dass er an der Geografieabteilung der renommierten National Taiwan University (NTU) in Taipeh zugelassen wurde. Im Laufe seines ersten Semesters wurde ihm jedoch klar, dass er sich nicht im Geringsten für Geografie interessierte. Im Jahr darauf nahm er abermals an der Universitäts-Aufnahmeprüfung teil und schrieb sich dann an der Abteilung für industrielles Design der National Cheng Kung University (NCKU) in der südtaiwanischen Stadt Tainan ein. „Eigentlich war ich damals nicht sicher, worum es bei industriellem Design überhaupt ging, doch es schien, als ob es viel mehr Spaß machen würde als Geografie“, rekapituliert Yu.

Yu verbrachte vier angenehme Jahre an der NCKU, doch nach und nach erkannte er, dass er, während den meisten seiner Mitschüler vorschwebte, als industrielle Designer für ein große Firma zu arbeiten, lieber ein Atelier eröffnen wollte. Er besprach seine Vorstellungen mit seinen Eltern und gründete mit ihrer Erlaubnis das 22 Design Studio. Yu erläutert, dass „22“ in einer Diskussion mit Kommilitonen während der Studienzeit vorkam. „Wir hatten den Gedanken, ein Atelier aufzubauen und einen Design-Markennamen zu etablieren, wenn wir 22 wurden und die Uni abschlossen“, berichtet er. Yu und Cheng Yi-ting, eine Mitschülerin von der Uni, die zuerst seine Freundin und dann seine Ehefrau wurde, gründeten das Atelier im Jahr 2005. Zu jener Zeit war es allerdings nur dem Namen nach ein Atelier, denn Cheng arbeitete für eine Designfirma in Tainan und Yu schickte sich an, seinen Pflichtwehrdienst anzutreten.

Im Herbst 2006 hatte Yu seine Verpflichtungen für das Militär erfüllt und unternahm eine Reise nach Japan, wo er offengelegte Betonstrukturen sah, entworfen vom japanischen Architekten Ando Tadao (安藤忠雄), der für seine Hervorhebung von leerem Raum und Simplizität bekannt ist. „Es war das erste Mal, dass ich mir dieses Baumaterial genauer ansah“, bekennt Yu. „Die graue Oberfläche war schlicht, sauber und glatt, hatte aber ein einzigartiges Wesen und Temperament, wovon ich meine Augen nicht abwenden konnte.“

Yu war inspiriert und begann darüber nachzudenken, das Material für andere Zwecke als die Errichtung architektonischer Strukturen zu verwenden. So kam ihm die Idee, damit Schmuck zu schaffen. „Ich mag Ringe, Ohrringe und solche Sachen“, begründet er. „Doch denen, welche ich sah, schien stets etwas zu fehlen, deswegen beschloss ich, meinen eigenen Schmuck zu machen. Außerdem dachte ich, es würde Spaß machen, die anderen Möglichkeiten eines Materials zu erkunden, das ausschließlich zum Bauen benutzt wurde.“

Formen-Skizzenbleistifte zählten zu den ersten Nicht-Schmuckartikeln, für die 22 Design Studio Beton verarbeitete. (Foto mit freundlicher Genehmigung von 22 Design Studio)

Nach seiner Rückkehr nach Taiwan kaufte Yu etwas Zement und begann in seiner Wohnung im Bezirk Xindian (New Taipei City) zu experimentieren. Anfangs dachte er, Designs aus Beton zu kreieren wäre wohl so einfach wie Wasser und Zement zu mischen. Überdies wähnte er, die Chancen für Profit stünden gut, weil das Rohmaterial billig war.

Nach reichlich Fehlschlägen wurde Yu gewahr, dass die Herstellung von Schmuck aus Beton erheblich komplizierter war, als er erwartet hatte, denn seine Produkte waren entweder zu bröckelig oder hielten überhaupt nicht zusammen. „Man muss jedes Detail ganz genau richtig hinkriegen, damit ein Betonring herauskommt — wieviel Wasser man nimmt, wieviel Zement, wie man die Mischung anrührt, um Luftblasen zu vermeiden, die zu Aushöhlungen und Löchern werden“, verrät er. Um über solche Details mehr zu lernen, begann Yu, mit Architekten, Zementlieferanten und Maurern zu sprechen, doch diese Gespräche halfen ihm nicht sehr. „Das Problem war, dass diese Fachleute wissen, wie man Beton für Bauprojekte mischt, doch sie haben keine Ahnung, wie man Beton für Ringe anrühren muss.“

Also kehrte Yu zu seinem „Laboratorium“ zurück, machte weiter Experimente und brachte Anfang 2007 endlich seine erste erfolgreiche Fertigungsreihe Ringe hervor. Er war indes unsicher, was er als nächstes tun sollte, denn in seiner Design-Ausbildung hatte er nicht viel über Marketing gelernt. Schließlich starteten er und Cheng ihr Geschäft an einem kalten Winterabend auf dem Trottoir vor einer Eslite-Buchladenfiliale im Osten von Taipeh, wo sie jeden Ring in einer besonderen, von Cheng entworfenen Schachtel präsentierten. „Die grauen Ringe sahen unter der düsteren Straßenbeleuchtung nicht besonders attraktiv aus, und es half auch nicht gerade, dass wir immer vor den Bullen weglaufen mussten, wenn diese von Zeit zu Zeit vorbeikamen, um illegale Straßenhändler zu verscheuchen“, erinnert sich Yu. „An diesem ersten Abend verkauften wir gar nichts.“

Die folgenden Abende brachten gleichfalls keine Wende zum Besseren. Erst als Yu und Cheng drauf und dran waren, die Flinte ins Korn zu werfen, erfuhren sie, dass ihre Betonringe für die Aufnahme in den Kreativmarkt von Eslite ausgewählt worden waren, der Designer ermuntert, ihre „Kreativität in einem Koffer vorzuführen“. Die Zulassung zu dem Markt bedeutete, dass das Paar seine Ware zwei Mal im Monat in einem Koffer auf dem Trottoir vor Eslites Hauptgeschäft an der Dunhua South Road in Taipeh zur Schau stellen konnte, nun aber legal.

Bevor Yu und Cheng ihre Sachen auf dem Markt präsentierten, wandten sie sich um Rat an Wang Shih-chun, Yus ehemaligen Uniprofessor. Wang gab ihnen aufmunternden Zuspruch zu der in den Ringen erkennbaren Kreativität, riet ihnen jedoch, das Design an der Innenseite um einen Metallring zu ergänzen, um den Wert zu steigern und die Möglichkeit einer allergischen Reaktion zu vermeiden, die durch längeren Kontakt der Haut mit Beton hervorgerufen werden könnte. „Wir setzten uns daraufhin mit Metallbetrieben in Verbindung, um Innenringe für die Betonringe, die wir bereits gemacht hatten, zu bestellen“, sagt Yu. „Wir stellten dann aber fest, dass die Größe der Innenringe, die wir brauchten, ungewöhnlich war, weswegen wir sie besonders anfertigen lassen mussten. Das war ein Problem, denn die Mindestmenge für eine Bestellung von Ring-Sonderanfertigungen war eine Tonne.“ Da sie noch nicht einmal annähernd diese Menge benötigten, entschieden Yu und Cheng sich dafür, Innenringe aus rostfreiem Stahl in Standardgröße zu kaufen und sie als Grundlage zu verwenden, auf der sie neue Außenringe aus Beton formten.

Pläne für neue Designs von Yu. Auf der Uni wurden seine Designfertigkeiten geschult, doch lernte er dort nichts über Marketing oder Verwaltungskenntnisse, die man für die Leitung einer Firma braucht. (Foto: Huang Chung-hsin)

Das Geschäft auf dem Kreativmarkt lief gut, und das Paar konnte dort jeden Tag mehrere Dutzend Ringe zum Stückpreis von 500 NT$ (12 Euro) verkaufen. „Wir hatten einige positive Kundenreaktionen“, freut sich Yu. „Eins war noch wichtiger — ich konnte mit dem Verkauf meinen Eltern zeigen, dass die ganze Idee praktikabel war. Sie stimmten zu und ließen mich weitermachen.“

An zwei Tagen im Monat auf dem Kreativmarkt Ringe zu verkaufen reichte freilich nicht, um den Betrieb in Gang zu halten. Auf dem Markt stellten sie fest, dass die meisten Käufe an Architekten gingen, die eine Schwäche für Beton hatten, und an Designer, die bereit waren, etwas Neues auszuprobieren. Yu: „Das war im Grunde genommen unser gesamter Markt in Taiwan, und selbst für unsere winzige Firma schien das zum Überleben zu wenig zu sein.“

Yu begann, über die Designmessen nachzudenken, die er im Ausland besucht hatte, woraus die Vermutung entstand, es könne mehr Verkaufsmöglichkeiten im Ausland geben. Im Jahr 2007 beteiligte 22 Design Studio sich erstmals an einer internationalen Messe, Designboom Mart in Tokyo. Seitdem hat das Atelier seine Kreationen auf Messen in Eindhoven, Frankfurt, London und New York ausgestellt. Auf den Messen erregte Yus innovativer Gebrauch von Beton das Interesse ausländischer Käufer und der Medien.

Licht und Schatten

Während der ersten vier Produktionsjahre konzentrierte 22 Design Studio sich auf Schmuck und schuf etwa ein Dutzend Ring- und Ohrring-Designs, jedes mit einem eigenen typischen Konzept. Der siebeneckige „7 DAYS Ring“ zum Beispiel steht für die sieben Tage der Woche, und der „Rock Ring“ hebt die Wechselwirkung zwischen Licht und Schatten hervor. Die Ringe „Module“ und „Tatami“ orientieren sich nach den Konzepten und Merkmalen von Andos Betongebäuden, indem einfache Geometrie betont wird und die bei der Beton-Formarbeit entstandenen Löcher erhalten bleiben.

Anstatt andere Materialien in Betracht zu ziehen, entwickelte Yu eine immer größere Hingabe für die Verarbeitung von Beton. „Interessant an diesen Ringen ist, dass sich das Material Beton mit der Zeit verändert“, enthüllt Yu. „Sie werden jeden Tag etwas dunkler und glatter, sie hinterlassen Spuren der Zeit.“

Mit dem Windungsring will Yu zeigen, dass Komplexität und Schlichtheit, Ruhe und Erregung miteinander zusammenhängen. (Foto mit freundlicher Genehmigung von 22 Design Studio)

Während Yu sich über die zeitlichen Eigenschaften seiner Betonringe freute, versuchte er stets, seine Formel zu verbessern. Er verbrachte viel Zeit damit, Zement und Wasser mit anderen Bestandteilen zu mischen, um das Material stärker zu machen. „Die früheren Versionen brachen, wenn sie vom Tisch fielen, doch nun sind sie recht stoßfest“, behauptet er und wirft einen Ring auf den Zementboden, wo er unbeschädigt liegen bleibt. Die Verbesserung der Zusammensetzung trug überdies dazu bei, die Erfolgsquote beim Produktionsablauf von 40 auf 80 Prozent zu steigern.

Nachdem er ein paar Jahre ausschließlich damit zugebracht hatte, Betonringe zu gestalten und anzufertigen, kam bei Yu jedoch eine gewisse Langeweile auf. 2010 überließ er den Betrieb des 22 Design Studio einem Partner, der sich 2008 dem Unternehmen angeschlossen hatte, und nahm eine 11-monatige Auszeit in London. Cheng hielt sich seit 2008 in London auf und studierte Produktdesign am Royal College of Art. Während Cheng in der Schule war, absolvierte Yu Sprachkurse und besuchte Museen und Galerien.

Die Auszeit half Yu dabei, seinen Design-Horizont zu erweitern. „Viele internationale Marken wie Mont Blanc und Georg Jensen haben ihr Produktsortiment diversifiziert, anstatt sich auf ihr ursprüngliches Schreibgerät und Silberschmuck zu beschränken“, erläutert er. „Also fragte ich mich, ,wieso kann ich Beton nicht für andere Designs als Accessoires benutzen?‘“

Nach seiner Rückkehr nach Taiwan im Jahr 2010 trumpfte Yu mit seinen ersten Nichtschmuck-Designs auf, nämlich Skizzenbleistiften und Kugelschreibern mit Betongehäuse. Die ergonomischen und stilvollen Schreibwerkzeuge verkauften sich gut. Sein nächstes Design — eine Wanduhr, die aus wenig mehr bestand als aus einer Betonplatte mit Zeigern — erwies sich hingegen auf dem Markt als nicht sonderlich beliebt. „Wir wissen nicht genau warum“, wundert sich Yu und ergänzt lächelnd: „Vielleicht wollen sich die Leute einfach kein Betonstück an die Wand hängen.“

Mit der „4th Dimension Clock“ aus seinem Atelier verhielt es sich anders. Die Uhr hat ein Zifferblatt, das wie eine Wendeltreppe geformt ist und auf der die Zeiger mit dem Verstreichen der Zeit ohne Unterlass treppauf klettern. Das Design spielt mit Licht und Schatten, Zeit und Raum, und es wurde vom Markt gut angenommen, im August 2011 erschien es sogar in einem Bericht der New York Times. Yu wandelte das Design später ab und machte daraus eine Tischuhr, die sich zu einer der beliebtesten Kreationen des Ateliers mauserte, außerdem gibt es eine Version als Armbanduhr mit Kupferkrone, Wendeltreppen-Betonzifferblatt und Gehäuse aus rostfreiem Stahl. Eines seiner aktuellen Experimente besteht darin, dem Beton, der das Zifferblatt bildet, Farbstoff beizufügen.

Yus jüngstes Design, das „Tangram City Sculpture Puzzle“, wurde von Andos Architektur sowie dem alten chinesischen Legespiel Tangram angeregt. Anstelle von sieben flachen Plättchen mit unterschiedlichen geometrischen Formen setzt Yus Puzzle sich aus sieben Miniatur-Stadtlandschaften zusammen — ein Apartment, eine Fabrik, ein Haus, ein Museum, ein Bürogebäude, ein Park und ein Lagerhaus. Das Betonpuzzle dient auch als dekoratives Objekt.

Yu verbrachte viel Zeit damit, mit Beton-Rezepturen zu experimentieren, um die Produktionserfolgsrate seines Ateliers zu steigern. (Foto: Huang Chung-hsin)

Während seinem Entwicklungsprozess vom Betonring zu Tangram hatte das 22 Design Studio auf der Betonstraße etliche Schlaglöcher zu meistern. Rückblickend kommentiert Yu, viele dieser Probleme ergaben sich durch mangelndes Wissen und zu wenig Erfahrung. „Designer wissen in der Regel nicht viel über Vermarktungsstrategien, Verkaufskanäle, Firmenfinanzen und Management, weil sie in den Designabteilungen von Universitäten keinen Unterricht in diesen Fächern erhalten“, meint er. „Nichts über diese Dinge zu wissen geht in Ordnung, wenn man in der Designabteilung einer großen Firma tätig ist, doch wenn man ein eigenes Geschäft betreibt, bekommt man das schon schmerzhaft zu spüren.“

Um seine Erfahrung mit anderen Künstlern zu teilen und Gedanken auszutauschen, gründete Yu im Jahr 2011 Lianyun Underground, eine Allianz aus acht unabhängigen Designateliers, die in verschiedenen Bereichen arbeiten. Die Allianz richtet regelmäßig Veranstaltungen, Ausstellungen und Seminare aus, die dabei behandelten Themen reichen von Kunst bis Finanzverwaltung. „Unser Ziel ist, Menschen, die Design mögen, mit solchen in Verbindung zu bringen, die schöne Dinge lieben“, definiert Yu.

Im größeren Zusammenhang glaubt Yu, dass Taiwans Designumfeld sich weit genug entwickelt hat, um jungen Designfirmen wie seiner gute Gelegenheiten zu bieten. Gestützt wird diese Einschätzung durch die Inlands-Verkaufszahlen von 22 Design Studio, die von 100 000 NT$ (2439 Euro) im Jahr 2007 auf gegenwärtig 750 000 NT$ (18 292 Euro) zunahmen. Yu schreibt das Wachstum größtenteils mehr Medien-Berichterstattung im Land zu.

Internationales Profil

Das Atelier betreibt zudem einen Online-Laden, der für eine Präsenz auf ausländischen Märkten sorgt, und es gibt mittlerweile Vertriebskanäle in Australien, Japan und Nordamerika. Dieses schärfere internationale Profil erhöhte die Gesamtjahreseinkünfte der Firma von 1 Million NT$ (24 390 Euro) im Jahr 2007 auf derzeit 5 Millionen NT$ (121 951 Euro).

Zwar konnte Yu einen gewissen Erfolg erzielen, doch ihm ist klar, dass seine Entwürfe und auch das von ihm verwendete Material nicht jedermanns Sache sind. Sein Vater etwa hat nie begreifen können, wieso jemand Ringe und Stifte aus Beton machen will, und daneben ist es ihm ein Rätsel, warum das jemand kaufen möchte. Yu akzeptiert diese Art von Reaktion philosophisch und sagt, jeder habe das Recht, ein Design zu mögen oder nicht zu mögen. Sein Credo dazu: „Meine Verantwortung als Designer besteht nicht darin, jeden davon zu überzeugen, wie toll meine Entwürfe sind, sondern eher den Menschen die Vielfalt von Ideen vorzuführen.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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