06.05.2024

Taiwan Today

Kultur

Ein weitschweifiger Diskurs

01.05.2014
Losing You in Winter (2013). Öl auf Leinwand, 182 x 227 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chiu Chien-jen)
An einem Tag gegen Jahresende 2013 bat der Künstler Chiu Chien-jen (邱建仁) die Besucher im Kuandu Museum of Fine Arts, einen genaueren Blick auf sein im Jahr 2012 entstandenes Ölgemälde Zeichen des Südens zu werfen. Das Bild war Teil seiner Ausstellung mit dem Titel „Der Verfall des Engels“, welcher dem letzten Roman des japanischen Schriftstellers Yukio Mishima (1925-1970) nachempfunden ist. Das Kuandu Museum of Fine Arts befindet sich auf dem Campus der Kunsthochschule Taipei National University of the Arts (TNUA) im Bezirk Beitou im Norden der Stadt. Auf dem Bild sieht man ein vertrautes Bild, wie zwei Touristen für ein Foto posieren, in diesem Fall vor dem Leuchtturm von Kap Eluanbi an Taiwans Südspitze. Allerdings ist das Gemälde keine typische realistische Darstellung, sondern ist stattdessen voller unregelmäßiger Spritzer, Tropfen und Farbstreifen.

„Meine Arbeiten zeigen häufig beträchtliche Fließzustände oder Unsicherheit“, beschreibt Chiu seinen Malstil. „Ich versuche, einen fesselnden Anblick zu schaffen, der ein Arrangement von fließenden und dabei kontrollierten Elementen enthält.“ Die von der Nationalen Kunst- und Kulturstiftung finanzierte Ausstellung in Kuandu war vom Taiwan-Verband für zeitgenössische Malerei organisiert worden, der im vergangenen Jahr gegründet wurde und überwiegend aus TNUA-Absolventen wie Chiu besteht, welcher heute der etwa 30-köpfigen Künstlergruppe vorsteht.

Chiu strebt danach, mit einem individuellen und anregenden künstlerischen Stil zu malen. Während seines dritten Studienjahres an der TNUA-Kunstabteilung im Jahr 2004 gewann er den ersten Preis beim Kunstwettbewerb Taipei Arts Awards, der seit dem Jahr 2001 vom Taipei Fine Arts Museum (TFAM) ausgerichtet wird, um Kunstwerke anzuerkennen, welche einen einzigartigen Stil haben und die moderne Kultur widerspiegeln. „Ich möchte, dass meine Werke den Betrachtern größere visuelle Stimulation bieten“, sagt Chiu in Bezug auf den preisgekrönten Beginn seiner Laufbahn. „Ein Wettbewerbsteilnehmer muss zumindest wissen, wie man den Blick der Preisrichter auf sich lenkt.“ Der 1981 im südtaiwanischen Landkreis Pingtung geborene Chiu war einer der ersten Studenten, der in der staatlichen Feng-hsin-Oberschule im südtaiwanischen Kaohsiung (Pingtungs Nachbarkreis) Kurse belegte, die ausschließlich Schülern mit Hauptfach Kunst vorbehalten waren.

Das Ringen der Künstlerseele

Im Rückblick auf seine prägende Zeit meint Chiu, junge Schüler könnten ihre Fertigkeiten entwickeln, indem sie durch regulären Unterricht üblicher Kunstfächer wie Zeichnen, Wasserfarben und Kalligrafie ihr Können verbessern, bevor sie an Hochschulen zu höherem Lernniveau übergehen. Aufgrund der ungleichmäßigen Qualität der Kunstausbildung könne es indes vorkommen, dass Oberschul-Kunstschüler „von Anfang an falsch unterrichtet werden könnten“, wie er bemängelt. Andererseits erhalten manche Schüler nie intensiven Kunstunterricht und machen dennoch Fortschritte, ohne sich von verfestigten Lehrmeinungen erholen zu müssen, merkt er an. Nach seiner Aufnahme in die TNUA, als sich für ihn auf einmal ein neuer Horizont auftat, gelang es Chiu, den Einfluss seiner vorherigen Kunstausbildung abzuschütteln. „Ich konzentrierte mich darauf, in den ersten drei Jahren an der Uni meine Ausbildung sausen gehen zu lassen“, rekapituliert er. „Ich durchlief einen Ablauf, mich von der Vergangenheit zu befreien, und das ist keine einfache Sache.“

Bevor er ins Magisterprogramm der TNUA aufgenommen wurde, erlebte Chiu den Niedergang des taiwanischen Kunstmarktes, als zahlreiche Galerien, die während des Höhenfluges von Taiwans Börse in den neunziger Jahren gut gelaufen waren, schließen mussten. In jüngster Zeit hatte jedoch der boomende Kunstmarkt auf dem chinesischen Festland Auswirkungen auf die taiwanische Kunstszene, und einheimische Künstler konnten einen allgemeinen Trend zunehmender Wertschätzung für Kunst verzeichnen.

Eine Kunst-Agentur namens Lin & Lin Gallery in Taipeh richtete ein Büro und einen Ausstellungsraum in Beijing ein. „Die Präsenz der Galerie auf dem chinesischen Festland ist einer der Gründe dafür, warum ich mich dafür entschieden habe, ein Geschäftsbeziehung mit ihr einzugehen“, erklärt Chiu. Seine Werke wurden auf mehreren Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen im In- und Ausland gezeigt, unter anderem in Frankreich und Südkorea, und sie finden Eingang in bedeutende Kunstsammlungen wie TFAM und das National Taiwan Museum of Fine Arts in der zentraltaiwanischen Stadt Taichung.

Sign of the South (2012).
Öl auf Leinwand, 162 x 227 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chiu Chien-jen)

Bewusstseinsstrom

Chius Aufstieg als Ölmaler deutet darauf hin, dass eine jüngere Künstlergeneration in der seit langem etablierten Kunstform neue Möglichkeiten erkundet. Ein Beispiel ist Chius unkonventionelle Präsentation einer Reihe von Gemälden in der Form eines Film-Storyboards für die Ausstellung „Life Goes On!“, die 2007 im TFAM stattfand — dabei wurde eine Reihe von 40 Bildern, die von insgesamt 70 bis 80 Werken ausgewählt worden waren, auf einer Wand gezeigt.

Als Grundlage für seine Arbeiten verwendet Chiu häufig Fotografien, die er im Alltag oder auf Reisen knipste. „Meine Werke stellen normalerweise nicht nur Landschaften dar, sondern menschliche Charaktere, die eine Geschichte zu erzählen scheinen“, beschreibt Chiu, eine Geschichte, die nur indirekt angedeutet wird und den Betrachter zu einer Reaktion auffordert. „Ich gebe keine Hinweise, von was oder wem das Bild und die Geschichte dahinter handeln, Dinge, die mir vielleicht passiert sind oder die erfunden sein könnten“, bemerkt der Künstler. „Der springende Punkt ist, dass ein Gemälde die Betrachter dazu bringt, durch eine Projektion ihrer Lebenserfahrungen darauf eigene Geschichten zu erzählen.“ Mit anderen Worten, nicht der Maler, sondern das Gemälde erzählt eine Geschichte für alle, die sie erfahren mögen. „Trotz unseres unterschiedlichen Hintergrunds haben wir als Menschen alle etwas gemeinsam“, philosophiert er.

Der Kunstkritiker Wang Chia-chi kommentiert Chius verschiedene Bilderreihen, indem er auf den Einsatz einer vieldeutigen, nicht-fortlaufenden Erzählstruktur durch den Maler hinweist. „Obwohl die Bilder als Teil einer Reihe gezeigt werden, ist jedes seiner Werke ein eigenständiges Stück und steht durch eine Neu-Kombinierung mit den zufälligen Schichten des Lebens in einer freien Verbindung mit anderen Stücken“, schnarrt Wang. „Anstatt einem klaren zeitlichen Ablauf zu folgen, sind sie eher wie eine Mischung von Erinnerungsbruchstücken oder ein Bewusstseinsstrom ohne lineares oder kausales Verhältnis innerhalb der Bilderreihe oder zwischen ihren Komponenten.“ Überdies werden die menschlichen Charaktere in Chius Gemälden gewöhnlich als undeutliche Gestalten gezeigt, was es dem Betrachter erschwert, einen Gemütszustand oder den Zusammenhang des Bildes zu erkunden. Infolgedessen mag selbst eine Alltagsszene vertraut aussehen, und doch ist sie gleichzeitig weit entfernt und unzugänglich, analysiert der Kritiker. Er macht darauf aufmerksam, dass Chius menschliche Darstellungen sogar noch verschwommener und abgehoben erscheinen, wenn sie vor einem ausgedehnten, „beklemmenden“ Hintergrund tropfender weißer Ölfarbe stehen.

Chius Innovation als moderner Maler ist daraus ersichtlich, wie er Gemälde mit Ölfarbe erzeugt, dass sie über die Leinwand läuft. „Im Großen und Ganzen geschieht das aufs Geratewohl, und selbst ich kann den exakt gleichen Effekt nicht reproduzieren“, behauptet der Künstler. „Das Ergebnis ist dann eine absolut einzigartige Arbeit.“ Nach Wangs Ausführungen entsteht Chius typischer Stil, indem der Ölfarbe leichtflüchtige Lösungsmittel beigefügt wurden und Chiu die Farbe über die Leinwand laufen lässt, während er die Fließrichtung kontrolliert, wodurch verschiedene „kontrollierte und dabei offenbar unvorhergesehene Spuren“ hervorgerufen werden.

Laut Chiu haben seine rauen Pinselstriche nicht den Zweck, akkurate Darstellungen eines Objektes zu erzeugen. „Es gibt viele Definitionen dafür, was realistisch ist“, verkündet er. „Wenn man sie auf lange Sicht betrachtet, mögen meine Werke am Ende als realistischer gelten als die von vielen anderen.“

Chius Reihe mit dem Titel Life Goes On! wurde 2007 im Taipei Fine Arts Museum ausgestellt. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chiu Chien-jen)

Willkürliche Instabilität

In erster Linie versucht der Künstler, in seinen Bildern eine zeitliche Dimension zu erzeugen, indem er „instabile“ Elemente verwendet wie den scharfen Kontrast zwischen Licht und Schatten und eine spontane Anhäufung von Flecken oder Punkten einfacher Farben, aber meistens lediglich Schwarz und Weiß. Er glaubt, dass solche Elemente ein Glanzstück moderner Malerei sind und mit der traditionellen Darstellung in einem Stillleben oder Porträt kontrastieren, die eher in einem bestimmten Moment existieren. „Tatsächlich besitzt Ölmalerei an sich in dem notwendigen Ablauf, Farbschichten aufzutragen, eine zeitliche Qualität“, sinniert Chiu. Wang glaubt, dass Chius abstrakte Pinselstriche, das Tröpfeln von Farbe und wiederholtes grobes Pinseln dem ursprünglich statischen Bild eine Tiefe verleihen, die mit dem Verstreichen von Zeit und Erinnerungen assoziiert wird. Die Spuren auf der Leinwand übermitteln eine „hochgradig sentimentale, bedrückte“ Note, urteilt der Kritiker und bezieht sich damit auf die Tendenz des Malers, Leichtsinn und Unsicherheit im Leben zu beklagen.

Im Grunde genommen repräsentiert Chius künstlerisches Trachten ein kühnes Unterfangen, die Gültigkeit oder Wirksamkeit der Malerei als Kunstform unter den verschiedenen Kunstmedien und visuellem Ausdruck in der modernen Gesellschaft neu zu bewerten und erneut aufzubauen, interpretiert Lin Hong-john, Kunstkritiker und Dozent an der TNUA. Dieser Gedankengang offenbart sich in der Ausstellung „Weak Painting“ des Jahres 2009, die zuerst im Museum in Kuandu stattfand und anschließend in einer Privatgalerie in Taichung fortgeführt wurde. „Weak Painting“ galt weithin als eines der besten Ereignisse seiner Art der jüngsten Jahre und zeigte Werke von Chiu und 14 anderen jungen taiwanischen und ausländischen Malern. Die Ausstellung stellte den Begriff „schwach“ in den Mittelpunkt, indem das Gefühl übermittelt wurde, dass Malerei nicht länger eine Hauptströmungs-Kunstform in großen Kunstausstellungen sei und das Wesen von Malerei an sich durch die innovativen Werke junger Künstler in Frage oder auf den Prüfstand gestellt würde.

Lin sagt, Chius Stil erinnere mit seinem etymologischen Wesen von „Kratzen“ und „Schreiben“ an Graffitikunst. Der Professor hält Chius Arbeiten für eine weitschweifige Rede und eine Herausforderung traditioneller repräsentativer Logik. Durch Chius Antwort auf Malerei in der modernen Welt kann man sehen, dass „Malerei nicht tot ist, dass sie mit einem andersartigen Gesicht wiederauferstanden ist“, versichert Lin und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Aufkommen einer neuen Ästhetik und einen vielversprechenden Ansatz zu moderner Kunstproduktion. Es ist dieses Potenzial, das Chiu und seine Künstlerkollegen durch den im vergangenen Jahr gegründeten Verband mit größerer Fülle realisieren möchten.

„In der Vergangenheit arbeiteten Künstler in der Regel allein“, findet Chiu. „Heute wollen wir ein Forum schaffen, auf dem wir gemeinsame Anstrengungen unternehmen.“ Mit dem Talent und der Vision junger Künstler wie Chiu kann die wiederbelebte Kunst der Malerei dem zeitgenössischen Leben und der heutigen Gesellschaft besser Vitalität verleihen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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