02.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Historische Sichtweise

18.06.2015
Der Umschlag eines Buches über die Geschichte von Taiwans Hirschfellhandel, von Tsao Yung-ho 1951 verfasst und 2011 erschienen, zeigt Fotografien von Tsao als jungem Mann, handschriftliche Notizen und alte Aufnahmen von Taiwan. (Foto: Chin Hung-hao)

Im September letzten Jahres verlor Taiwan mit dem Ableben von Tsao Yung-ho (1920-2014) einen seiner ursprünglichsten und einflussreichsten Historiker. Tsao wurde zu Lebzeiten als einer der führenden Forscher über die Kolonialherrschaft der Holländer und Spanier im 17. Jahrhundert bekannt, außerdem bildete er jüngere Historiker aus und förderte internationale akademische Zusammenarbeit. Einen großen Teil seines Lebens war er in der Bibliothek der National Taiwan University (NTU) in Taipeh tätig. Dieser Arbeitsplatz stillte seinen enormen Lesehunger und ermöglichte ihm Zugang zu Materialien in anderen Sprachen, wodurch er gute Sprachkenntnisse in Niederländisch und Englisch erwarb und sich überdies mit Deutsch, Latein und Französisch vertraut machte. Tsao führte historische Forschung in all diesen Sprachen durch wie auch auf Japanisch, eine seiner Muttersprachen. Ma Ying-jeou, Staatspräsident der Republik China, pries in einer Lobrede für den Geschichtswissenschaftler diese Errungenschaften und mehr. Tsao war zudem die erste und einzige Person ohne Hochschulabschluss, die von der Academia Sinica, Taiwans renommiertestem Forschungsinstitut, in den Rang eines Akademiemitglieds erhoben wurde. Und im Jahr 1999 finanzierte er persönlich die Gründung der „Tsao Yung-ho-Stiftung für Kultur und Bildung“ in Taipeh, um Forschung über die Geschichte von maritimen Aktivitäten in Ostasien und der Insel Taiwan zu ermuntern. Tsaos drei Söhne gehören ebenfalls der Stiftung an, und viele der jüngeren Bevollmächtigten sind seine ehemaligen Schüler.

Tsao wuchs während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) in Taipeh auf. Im Jahr 1939 schloss er die Zweite Mittelschule der Präfektur Taihoku ab, die heute Taipei Municipal Chenggong Senior High School heißt. Nachdem er bei der College-Aufnahmeprüfung durchgefallen war, fand er Arbeit in einem Bauernverband. Im Jahr 1947 schlug er einen neuen Weg ein und begann, in der NTU-Bibliothek zu arbeiten, wo er fast vier Jahrzehnte blieb. Im Jahr 1984 — ein Jahr, bevor er als NTU-Bibliothekar in den Ruhestand trat — wurde Tsao als außerordentlicher Forschungsmitarbeiter in Meeresgeschichte vom heutigen Forschungszentrum für Geistes– und Sozialwissenschaften der Academia Sinica eingestellt, wodurch er den Status eines Professors erlangte. Dies wiederum erlaubte ihm, an der Geschichtsabteilung der NTU zu unterrichten.

Die Arbeit in der Bibliothek war ein Wendepunkt in Tsaos Leben, bemerkt Chan Su-chuan, Forscherin am Institut für taiwanische Geschichte (Institute of Taiwan History, ITH) der Academia Sinica und Bevollmächtigte in Tsaos Stiftung. „In der Bibliothek konnte er zahllose Bücher in einem weiten Spektrum von Themen lesen“, weiß Chan. Durch diesen Erwerb breiten Wissens entwickelte Tsao nach ihren Worten eine langfristige Sichtweise von Taiwans Geschichte, welche die Auswirkungen gesellschaftlicher Strukturen und die Rolle der Insel beim Überseehandel in Ostasien mit einbezog. Seine Ansichten über „Taiwan-Inselgeschichte“ präsentierte er in einem Interview, das von Chan und einem Kollegen mitgeschrieben und im Juni 1990 in einem Artikel im Newsletter of Taiwan History Field Research (zu Deutsch: Mitteilungen zu Primärforschung über Taiwan-Geschichte) veröffentlicht wurde. Im Jahr 2010 gab das ITH ein Buch mit Mitschriften mehrerer Interviews heraus, die Chan und zwei weitere von Tsaos Schülern mit ihrem Mentor geführt hatten.

Im Vorwort zu der Ausgabe von 2010 zählt ITH-Forscher Hsu Hsueh-chi Tsaos Hauptleistungen auf, darunter seine Fremdsprachenkenntnisse, seine Lehrtätigkeit an der NTU zwischen 1984 und 2010, aus welcher die Tsao-Historikerschule hervorging, und seine Bemühungen, bei der Gründung des ITH mitzuwirken. Das Institut entstand zunächst 1993 als Vorbereitungsbüro, bevor es schließlich im Jahr 2004 als ITH förmlich ins Leben gerufen wurde. Während dieses Zeitraums wuchs in Taiwans Gesellschaft das Interesse an der Kultur und Geschichte der Insel, und Tsaos Ansichten zu historischer Forschung über Taiwan gewannen unter Gelehrten an Boden. „Anstatt Taiwans Geschichte einem chinesischen oder japanischen Rahmen unterzuordnen, dreht sich sein Ansatz um die Insel Taiwan, um eine abgegrenzte akademische Disziplin historischer Studien aufzubauen, welche strukturelle Integrität, Gesamtheit und globale Relevanz aufweist“, erläutert Hsu. „Dieses Denkmuster hat einen weiten Weg in Richtung Aufbau einer neuen Sichtweise auf Taiwans Geschichte zurückgelegt.“

Ansatz mit Taiwan im Mittelpunkt

Nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 und der anschließenden Lokalisierungsbewegung in Taiwan (also Besinnung auf taiwanische Werte auf allen Ebenen) verschob sich Tsaos Forschungsschwerpunkt von Han-chinesischen Zuwanderern auf die Aktivitäten aller ethnischen Gruppen auf der Insel. „Frühere Studien zu taiwanischer Geschichte legten zu viel Gewicht auf die Betrachtungsweisen und die politischen Veränderungen der Han-Chinesen, ohne die Insel Taiwan als eigenständiges Stadium der Geschichte zu enthüllen“, geißelte er in einem der Interviews im Jahr 2010. Für Tsao ist Geschichte das Ergebnis der Verflechtung von Menschen, Orten und Zeit, und nach seinen Worten sollte man den geografischen Merkmalen Taiwans und der regionalen Bedeutung sowie all den Menschen, „die in Taiwan lebten und Beziehungen mit Taiwan unterhielten“, mehr Aufmerksamkeit schenken. In den Interviews äußerte er, Gedanken über Taiwans Geschichte sollten sich von politisierten historischen Interpretationen abheben, und sie sollten „die Grundlage legen, eine maritime kulturelle Perspektive der Insel zu entwickeln“.

Einen Teil der Inspiration für diese Ideen bezog Tsao von der französischen Annales-Schule, welche Geschichte aufgrund der sozialen Strukturen einer Region in langen Zeiträumen beurteilt. Eine weitere wichtige Quelle ähnlicher Einsichten kam von japanischen Professoren, die nach 1945 als Dozenten der NTU in Taiwan blieben, oder aus Forschungsergebnissen, die er in der Bibliothek der Lehranstalt entdeckte. Er besuchte die Kurse von Rokura Kuwata (1894-1987), der sich auf die Geschichte von Meeres-Transportwegen in Südostasien spezialisiert hatte, und las die Aufsätze über südostasiatische Geschichte von Seiichi Iwao (1900-1988). Der junge Bibliothekar bemühte sich zudem um Resonanz von Iwao auf seine Schriften über Taiwans Geschichte.

Von Mai 1965 bis April 1966 betrieb Tsao Forschungen an der Toyo Bunko, einer Forschungsbibliothek für Asienstudien in Tokyo. Möglich wurde dies durch ein Stipendium von der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, UNESCO)innerhalb des „Bedeutenden Projekts für gegenseitige Wertschätzung von östlichen und westlichen Kulturwerten“, einem zehnjährigen Programm, das die UNESCO Ende der fünfziger Jahre in Gang gesetzt hatte. Tsaos Beteiligung an dem Stipendienprogramm war größtenteils Iwao zu verdanken, der das UNESCO-Projekt beaufsichtigte. Der japanische Akademiker lehrte damals als Professor an der Hosei University in Tokyo und ging jede Woche zur Toyo Bunko, um seinem taiwanischen Schüler Niederländisch beizubringen. „Meine Reise nach Toyo Bunko im Jahr 1965 hatte tiefe und weitreichende Auswirkungen auf meine akademische Laufbahn“, gab Tsao in der Interview-Aufzeichnung zu Protokoll.

Im Jahr 1978 wurde Tsao von der Universität Leiden in Holland eingeladen, um bei der Zusammenstellung und Bearbeitung einer Sammlung mit dem Titel „De Dagregisters van het Kasteel Zeelandia“ (zu Deutsch: Die Tagesregister des Fort Zeelandia) zu helfen. Diese Dokumente sind Teil der Akten von der Vereinigten Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC), die im Nationalarchiv der Niederlande in Den Haag aufbewahrt werden. Von Ende der 1620-er Jahre bis 1662 verwaltete die VOC Taiwan und beaufsichtigte Handelsangelegenheiten im Südchinesischen Meer von Fort Zeelandia aus, einer Festung, deren Überreste heute noch im Bezirk Anping der südtaiwanischen Stadt Tainan stehen. Die mit Taiwan zusammenhängenden VOC-Akten, die eine unüberschaubare Vielfalt von Details über die holländische Niederlassung enthalten, waren das erste Beispiel für systematische Dokumentierung der Geschichte der Insel und bieten unschätzbare Materialien für historische Forschung.

Ähnliche Bemühungen zur Veröffentlichung von Dokumenten über die Geschichte der Seefahrtsaktivitäten von Taiwan und Ostasien wurden mit Hilfe der Tsao-Stiftung durchgeführt. Zum Beispiel stellte Tsao Chang-ping, der jüngste von Tsao Yung-hos drei Söhnen, fest, dass seit kurz nach der Jahrtausendwende die Stiftung ein gemeinsames Projekt der Universität Leiden und der festlandchinesischen Xiamen University finanziert hat, um eine Reihe von VOC-Akten über die Gemeinden von Auslandschinesen in der asiatischen VOC-Kolonialzentrale in Batavia (heute Jakarta, Indonesien) zu veröffentlichen. Unter den anderen taiwanischen Studienprogrammen im In- und Ausland, die regelmäßig finanziell von der Stiftung gefördert werden, sind jene vom Osttaiwanischen Studienverband in der südosttaiwanischen Stadt Taitung zu nennen, und das Taiwanstudienprogramm an der London School of Economics and Political Science. Letzteres entstand aus dem London Taiwan Seminar, das im Jahr 2000 gestartet wurde, und es führt laut Tsao Chang-ping vergleichende Studien über Taiwan und andere Orte wie Hongkong und Irland durch.

„Wir streben danach, eine globale Sichtweise über Taiwans Geschichte zu entwickeln“, charakterisiert er im Hiblick auf das Vermächtnis der Interpretation historischer Ereignisse durch seinen Vater, welches anerkennt, dass unterschiedliche Gruppen von Menschen während verschiedener Zeitabschnitte in Taiwan lebten und welches eine klare Aufrechnung von Taiwans Platz in den Annalen der Zeit darstellt.

—Deutsch von Tilman Aretz
—Quelle: Taiwan Review, 01/01/2015 (Januar 2015, S. 44-47)
—Zuschriften an die Taiwan heute-Redaktion unter taiwanheute@yahoo.com

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