02.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Bessere Verhältnisse im Ruhestand

01.09.2014
Der Film Go Grandriders förderte in Taiwan das Bewusstsein dafür, dass der Lebensabend kein Abstellgleis ist und man auch im Ruhestand noch Träume haben und Zielen nacheifern kann. (Foto: Jens Kastner)
Taiwans Gesellschaft altert so schnell, dass Behörden und zivile Institutionen reagieren müssen. Während in diesem Jahr schon 11,7 Prozent der Bevölkerung auf der Insel über 65 Jahre alt sind, werden es in vier Jahren 14 Prozent sein, so eine Prognose des Ministeriums für Gesundheit und Soziales (Ministry of Health and Welfare, MOHW) in Taipeh. Doch dass sich dadurch zwangsläufig die Last für die arbeitende junge Generation proportional erhöhen wird, ist ein voreiliger Trugschluss. Da gebrechliche und kranke Senioren, untergebracht in Pflegeheimen und Krankenhäusern, dem Sozialsystem viel höhere Kosten verursachen als jene, die gesund und munter lange in den eigenen vier Wänden wohnen, setzt Taiwan auf das vielversprechende Konzept „zu Hause alt werden/aktiv alt werden“. Im Zentrum dieser Idee steht ein immer dichter werdendes Netz von „Pflegebasen“, in denen die Alten nicht nur zusammen lernen, Spaß haben und gesundheitlich betreut werden, sondern von denen aus den Senioren auch zu Hause geholfen werden kann.

„Nach dem Eintritt ins Rentenalter darf nicht gleich Krankheit und das Pflegeheim kommen“, sagt Chen Su-chun (陳素春), stellvertretende Direktorin der Abteilung für Soziales und Familie im MOHW. „Weil Studien zeigen, dass Freizeitaktivitäten mit anderen Senioren und das Leben im gewohnten sozialen Umfeld den Eintritt in die Pflegebedürftigkeit hinausschieben, überziehen wir ganz Taiwan mit Pflegebasen; denn dort können sich die Alten miteinander austauschen, sich den Blutdruck messen lassen, und von dort aus werden die Senioren zu Hause angerufen und mitunter auch besucht, einfach um zu erfahren, wie es ihnen geht.“

Chen fügt hinzu, dass im Gegensatz zu der Versorgung in der eigenen Wohnung die Unterbringung in Pflegeheimen viele Senioren effektiv von ihren Angehörigen trennt, da die Institutionen meist recht weit abseits vom eigentlichen Stadtgebiet liegen.

Den von Chen präsentierten Unterlagen zufolge gibt es mittlerweile 1885 Pflegebasen in Taiwan, und es kommen pro Jahr zirka 100 neue dazu, entsprechend dem Ziel, dass es in Zukunft in Taiwans Ballungsräumen alle hundert Meter eins geben soll. Sie erläutert, dass diese Pflegebasen entweder in einem der 377 staatlichen größeren Aktivitätszentren untergebracht sein können oder in kleineren Gemeindehäusern, Tempeln und Kirchen. Frau Chen sagt weiterhin, dass jede Pflegebasis als Anlaufpunkt für einige Dutzend in der Nachbarschaft lebende Senioren fungiert und vom MOHW jährlich mit etwa 150 000 NT$ (3750 Euro) subventioniert wird. Die Gesamtausgaben des Staates für diese Einrichtungen würden sich in diesem Jahr auf 298 Millionen NT$ (7,45 Millionen Euro) belaufen. „Die Dimension dieses Etats ist politisch nicht kontrovers“, betont sie. „Unser Legislativ-Yuan (立法院), also Taiwans Parlament, ist sich der Wichtigkeit sehr bewusst, so dass bestimmt nichts gekürzt werden wird.“

Huang Yi-jung (黃薏蓉), Leiterin der Unterabteilung für Seniorenwohlfahrt der Abteilung für Soziales der Stadtverwaltung Taipeh, bestätigt aus eigener Erfahrung, dass Bürger, die sich nach ihrer Pensionierung verstärkt in der Gruppe engagieren, wesentlich länger gesund und dadurch unabhängig bleiben. Ein ganz wichtiges Element in der Altenwohlfahrt in der Stadt Taipeh, die ihr zufolge 360 000 Bürger im Alter über 65 Jahre hat, sei das gelegentliche gemeinsame Kochen und Essen, was sehr gut durch die Pflegebasen gefördert werden könne, so Huang.

„Wir bezuschussen den gemeinsamen Einkauf auf dem Gemüsemarkt, und ein anderer ganz starker Punkt der Pflegebasen ist, dass den freiwilligen Helfern und Sozialarbeitern dort schnell zu Ohren kommt, wenn etwa ein älterer Bürger einsam zu Hause auf dem Sofa hockt und dadurch den Lebensmut verliert“, sagt sie. „Denn dann klingeln die Helfer an der Türe und sagen: ,Hey, komm und verbring doch den Nachmittag in der Pflegebasis um die Ecke!‘“

Huang erläutert ferner, dass solche Hausbesuche einen weiteren wichtigen Zweck erfüllen — einmal in der Wohnung, erkenne das Pflegebasis-Personal leicht Gefahrenpunkte wie etwa hohe Stufen oder rutschige Fliesen im Badezimmer. Dann, so fährt sie fort, kämen die Handwerker binnen einer Woche, um das Problem zu beheben, und das für Senioren bis zu einer Handwerkerrechnung von stattlichen 80 000 NT$ (2000 Euro) sogar kostenlos.

Indem man Senioren bei Alltagsbesorgungen in ihrer gewohnten Umgebung wie Einkaufen hilft, trägt man dazu bei, dass sie ihren Lebensmut nicht verlieren und so länger gesund bleiben. (Foto: Jens Kastner)

„Wir haben dieses Programm seit Oktober 2013, und es ist bisher einmalig in Taiwan“, sagt Huang. „Da Knochenbrüche im Alter sehr oft zu anderen medizinischen Komplikationen führen, ist Unfallprävention ein wichtiger Aspekt in unserem Bestreben, den Alten das Leben in den eigenen vier Wänden länger zu ermöglichen.“ Sie stellt weiterhin klar, dass, obwohl wohlhabende Senioren von dem Programm ausgenommen sind, bislang eine Mehrzahl der Anträge genehmigt wurde.

Für die Abteilung für Soziales der Stadtverwaltung Taipeh ist neben den Pflegebasen die gute Einbindung von Vereinen und anderen Nichtregierungsorganisationen (Nongovernmental Organization, NGO) ein anderes sehr wirksames Instrument. Seit Huangs Abteilung Ausschreibungen zu subventionierten Förderungsprogrammen für die Seniorenwohlfahrt veröffentlicht, können sich interessierte Vereine und NGOs bewerben, vorausgesetzt, sie sind behördlich registriert. Da die Zielgruppen von sozialen Aktivitäten sich oft überschneiden, zum Beispiel wenn Senioren am Nachmittag Kleinkinder betreuen oder Grundschülern bei den Hausaufgaben helfen, ist die Bandbreite der sich bewerbenden Gruppen recht weit, so Huang.

„Das geht von Taekwondo bis zu Kalligraphie, und die Aktivitäten können entweder in den eigenen Vereinsräumen angeboten werden oder in unseren Aktivitätszentren und Pflegebasen“, erklärt sie. „Oft sieht das so aus, dass ein Verein mit einem von uns vergüteten Lehrer eine wöchentliche Unterrichtsstunde abhält, bei der vorher oder nachher zusammen gegessen wird und quasi nebenbei ein Auge auf den Gesundheitszustand der Teilnehmer geworfen werden kann.“

Huang fügt hinzu, dass der jährliche Gesamtzuschuss pro Verein oder NGO auf 600 000 NT$ (15 000 Euro) begrenzt sei. Die Abteilung für Soziales beobachtet und bewertet die erbrachten Leistungen und macht gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge oder schließt sogar den Verein oder die NGO von zukünftigen Zuschussprogrammen ganz aus.

„Wir müssen beispielsweise durchsetzen, dass der Anteil der Alten in den geförderten Kursen entsprechend hoch ist und die älteren Teilnehmer den Kurs auch mögen“, erklärt sie. „Wir erscheinen unangemeldet und überprüfen Anwesenheitslisten, Rechnungen und andere Unterlagen, und wenn es nicht geht, drehen wir den Geldhahn zu.“

Doch andererseits gibt es natürlich auch Belohnungen. Wenn die Überprüfungen durch Huangs Leute beständig positiv ausfallen, könne der Verein oder die NGO in Zukunft durchaus höhere Zuschüsse erwarten, sagt sie. Ferner übernehme Huangs Abteilung überdies die Ausgaben der Senioren für die Nutzung von Museen, Zoos und der öffentlichen Verkehrsmittel, um deren Mobilität zu fördern. Bis zu sechzig Mal im Jahr können Busse und U-Bahnen umsonst benutzt werden, sagt sie. Auch Huang ist der Meinung, dass der politische Rückhalt für all diese Förderungsmaßnahmen stark sei.

„Unser Etat ist in den vergangenen Jahren immer erhöht worden, denn die Politik ist sich der demografischen Trends sehr bewusst“, sagt sie. „In diesem Jahr sind es zum Beispiel 20 Millionen NT$ (500 000 Euro) für unsere Einrichtungen und 3 Millionen NT$ (75 000 Euro) für die präventiven Handwerksarbeiten in den Wohnungen der Senioren.“

Für eine bessere Perspektive

Wohl eine der am meisten respektierten NGOs in Taiwan im Bereich Seniorenwohlfahrt ist die Seniorenwohlfahrtsstiftung Hondao. Zwar wurde Hondao international recht bekannt durch ihren Film Go Grandriders, der die Geschichte von taiwanischen Senioren erzählt, die trotz altersbedingter Gebrechen mit Motorrädern die Insel umrunden, doch im normalen Alltag engagiert Hondao sich in insgesamt 178 taiwanischen Pflegebasen. Von ihrem Hauptsitz in Taipeh, der durch gut ein Dutzend hauptamtlicher Mitglieder betrieben wird, kontrolliert Hondao eine Armee von 1500 unbezahlten Freiwilligen in allen Teilen Taiwans.

„Wir blicken zurück auf neunzehn Jahre Erfahrung in Seniorenwohlfahrt, und deshalb kommen viele Gemeinden und fragen uns um Rat“, sagt Doris Lin (林依瑩), Hondaos Generaldirektorin. „Die haben viele meist ältere weibliche Bürger, die sich für die Alten engagieren wollen, aber nicht genau wissen wie, und genau da kommen unsere gut ausgebildeten Helfer ins Spiel.“

Lin erläutert, dass die Leute von Hondao zum Beispiel vermitteln, wie man Einsatzpläne für Freiwillige erstellt, nach welchem Zeitplan bei Inkontinenz Windeln gewechselt werden, wie man „Essen auf Rädern“ organisiert, oder wie man ein Baseballteam, dessen Durchschnittsalter knapp 80 ist, aufstellt.

„Nach dem ich Go Grandriders sah, fing ich an, von meinem eigenen Baseballteam zu träumen“, berichtet der 75-jährige Chen Teh-ming (陳德銘) aus Tainan. „Obwohl ich den Ball nun nicht mehr weit schlagen kann und meine Beine nicht mehr schnell sind, habe ich noch so viel Leidenschaft für das Spiel, dass ich im vergangenen Jahr begann, ein Großvater-Team zusammenzutrommeln.“ Die Mannschaft ist mittlerweile auf 30 Spieler angewachsen und wird im November am Tournier Asia Baseball Evergreen Cup im südtaiwanischen Chiayi teilnehmen, fügt Chen Teh-ming stolz hinzu.

NGOs, die Veranstaltungen und Aktivitäten für Senioren organisieren wie Sport, Kalligrafie und ähnliches, können bei ihrer zuständigen Stadtverwaltung finanzielle Zuschüsse beantragen. (Foto: Courtesy Department of Social Welfare, Taipei City Government)

Es ist ein besonderes Anliegen sowohl der Behörden als auch Hondaos, dem Trend zu immer mehr südostasiatischen Pflegerinnen, die individuell von Familien angestellt werden und normalerweise im Haushalt der Pflegebedürftigen wohnen, ein Ende zu setzen. Die Zahl dieser zumeist aus Indonesien kommenden Helferinnen, oder „Wailao“, wie sie im Volksmund leicht abfällig genannt werden, ist mittlerweile landesweit schon auf 210 000 angestiegen. Das wiederherum bereitet gesellschaftliche Probleme, zum einen weil die Quote der sich illegal absetzenden Helferinnen recht hoch ist, nämlich etwa 10 Prozent, zum anderen, weil viele der jungen Frauen in ihren taiwanischen Gastfamilien als Arbeitstiere ausgebeutet und einige sogar geschlagen und sexuell missbraucht werden.

Doch Hondao hat eine sehr gute Lösung für das Problem gefunden. „Wir als Organisation stellen seit letztem Jahr selbst Wailaos ein und bringen sie als Gruppe zusammen unter, so dass sie nicht in einem taiwanischen Haushalt ein quasi isoliertes Leben fristen müssen“, erklärt Lin. „Und sie bekommen dann ihre freien Tage in der Woche, wie jeder einheimische Arbeitnehmer auch, und das trägt ebenfalls zur Lösung des Menschenrechtsproblems bei, welches Taiwan sonst mit den Wailaos hat.“

Sie erläutert weiterhin, dass Hondaos insgesamt vierzehn Indonesierinnen nun zwanzig Senioren in deren Wohnungen versorgen, was wiederum bedeutet, dass effektiv sechs ausländische Pflegekräfte eingespart wurden. „Wir sind die erste Organisation, die Wailaos direkt einstellen durfte, und die Behörden sind bislang begeistert von unserem Experiment“, so Lin. „Bei den Hausbesuchen wechseln sich die Indonesierinnen mit einheimischen Pflegern ab, was gut ist für die Alten wegen den kulturellen und sprachlichen Problemen, und es ist auch gut für Taiwans Arbeitslosenquote.“

Dann nachgehakt, ob es in Anbetracht von Taiwans sehr ernstem demografischen Problem noch mehr Gründe zum Optimismus gäbe, antwortet sie mit einem entschiedenem Ja. Lin zufolge sei es nämlich ein sehr gutes Zeichen, dass Hondaos neue Freiwillige in den letzten Jahren im Durchschnitt immer jünger geworden sind. Und das gilt auch für die hauptberuflichen Altenpfleger.

„Die Freiwilligen kommen jetzt mit Anfang zwanzig zu uns, was vielleicht mit unserem berühmten Film Go Grandriders zu tun hat, und vielleicht auch damit, dass unsere 24-köpfige ,The Hip Op-eration Crew‘ mit ihrem Durchschnittsalter von 80 Jahren nun als die älteste Hiphop-Tanztruppe der Welt im Guinness Buch der Rekorde geehrt ist“, sagt sie. „Außerdem werden die hauptberuflichen Altenpfleger in Taiwan jetzt ,Pflegesekretäre‘ genannt — nicht mehr einfach nur Helfer, und das hilft wirklich, den Job in den Augen der jungen Leute attraktiver zu machen.“

Auch ein Blick auf die Daten des MOHW deutet darauf hin, dass sich die Zahl der jungen Taiwaner, die sich um die Alten kümmern wollen, weiter erhöhen wird. Denn demzufolge wurde am 1. Juli dieses Jahres der Mindestlohn für Pflegesekretäre von 180 NT$ (4,50 Euro) auf 200 NT$ (5 Euro) pro Stunde angehoben, was etwa 50 Prozent höher ist als das Einstiegsgehalt eines Universitätsabsolventen.

„Je mehr junge Leute sich in Taiwan für eine Karriere in der Seniorenwohlfahrt entscheiden, desto mehr taiwanische Senioren können lange gesund zu Hause leben und sich an gemeinsamen Aktivitäten erfreuen, statt krank im Pflegeheim zu vegetieren“, argumentiert Lin.

Und es gibt noch ein weiteres sicheres Anzeichen für die wachsende Solidarität der Jungen mit den Alten — die Bereitschaft zu spenden sei merkbar gestiegen, berichtet sie. Denn während der Staat Hondao immer noch stark subventioniert, kamen in den vergangenen Jahren bereits 40 Prozent von Hondaos Etat aus Spendengeldern zusammen. „Diese Tendenz verstärkt sich eindeutig, und nicht zuletzt, weil neuerdings in jedem der 5000 7-ELEVEN Bedarfsartikelläden Taiwans eine Spendenbüchse auf dem Verkaufstresen steht“, freut sich Lin.

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Jens Kastner ist freischaffender Journalist und lebt in Taipeh.
Copyright © 2014 Jens Kastner

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