05.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Schöne neue Generation

01.09.2014
Die jüngeren Generationen von Taiwan widerlegen die Auffassung, sie seien egozentrisch und es falle ihnen schwer, Probleme zu konfrontieren. (Foto: Huang Chung-hsin)
Nach 1980 geborene junge Taiwaner werden schon seit einiger Zeit von der älteren Generation als egozentrisch verunglimpft, und gleichfalls wird ihnen nachgesagt, es falle ihnen schwer, Probleme zu konfrontieren. Im März und April dieses Jahres widerlegten Tausende von Studierenden diese Ansicht, als sie drei entbehrungsreiche Wochen lang mit Protesten die Stadt Taipeh in Atem hielten. Anlass dafür war die Art und Weise, wie der Legislativ-Yuan (立法院), also das Parlament der Republik China, die Ratifizierung eines Dienstleistungshandelsabkommens zwischen Taiwan und Festlandchina bearbeitete, doch es war der Umstand, dass Angehörige der jungen Generation endlich aufstanden und sich Gehör verschafften, der ihnen in der Öffentlichkeit wirkliche Aufmerksamkeit bescherte.

Nach dem unerwarteten Aufstand sind die Sichtweisen und das Potenzial von Taiwans Jugend ein heißes Gesprächsthema geworden. Im Mai dieses Jahres erwähnte Staatspräsident Ma Ying-jeou (馬英九) diesen Trend, als er vor Studierenden der Medizin in der zentraltaiwanischen Stadt Taichung eine Rede mit dem Titel „Der Jugend zuhören, Gerechtigkeit zwischen den Generationen verwirklichen“ hielt. Zwar äußerte Ma Zweifel an der Gesetzmäßigkeit der Proteste, aber er lobte die Studierenden dafür, dass sie „eine große Kraft für sozialen Wandel“ darstellten und eine „Bereitschaft zum Handeln“ vorführten. Daneben pries er das Interesse der jungen Demonstranten für öffentliche Angelegenheiten und versprach: „Ich werde bestimmt weiterhin den Stimmen und Träumen der Jugend Gehör schenken. Ich hoffe außerdem, dass sie ihre Beteiligung an Politik verstärken und dazu beitragen, einen Konsens bei Fortschritt und Reformen zu bilden.“

In nicht geringem Maße ist das neue Selbstbewusstsein, das Taiwans Jugend an den Tag legte, das Ergebnis von zwei Jahrzehnten Bildungsreform, analysiert Shen Chen-lan, Schriftsteller und Arzt am Psychiatrischen Zentrum Tsaotun, das vom Ministerium für Gesundheit und Soziales (Ministry of Health and Welfare, MOHW) im zentraltaiwanischen Landkreis Nantou betrieben wird. 1994 arbeitete Shen als Praktikant in der Universitätsklinik der National Taiwan University (NTU) in Taipeh. Im April jenes Jahres nahm er mit der Humanistischen Bildungsstiftung und anderen Nichtregierungsorganisationen (Nongovernmental Organization, NGO) an einer großen Straßendemo teil, bei der gefordert wurde, Taiwans elitäres, prüfungsorientiertes Bildungsmodell durch ein pluralistischeres Modell zu ersetzen. „Trotz unserer hohen Arbeitsbelastung gingen mehrere meiner Kommilitonen und ich in jenem Frühling in Taipeh auf die Straße“, erinnert er sich. „Wir schlossen uns Gruppen anderer Leute an, die für eine Bildungsreform in Taiwan eintraten.“

Im Jahr 1998 führte der Exekutiv-Yuan (行政院), also das Regierungskabinett oder Ministerrat der Republik China, den Trend in Richtung gesellschaftliche Liberalisierung fort, der in den achtziger Jahren begonnen hatte, indem die neuen Richtlinien der Kommission für Bildungsreform über Diversifizierung der Schul-Lehrpläne und Zulassungskanäle gebilligt wurden. Shen weist darauf hin, dass dank der „revolutionären Veränderungen“ durch diese Reformen einheimische Schüler und Studierende sich nun eines weniger stressigen, offeneren und stärker fördernden Lernumfeldes erfreuen können. „Die Klassengrößen wurden verkleinert, wodurch die Kinder von den Lehrern mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung erfahren können“, argumentiert er. „Das hilft ihnen, gesündere Persönlichkeiten aufzubauen. Die Abschaffung von Körperstrafen ist zudem ein Faktor bei der Verhütung geistiger Krankheiten bei Schülern.“

Weitere Reformen kamen im Jahr darauf mit der Verabschiedung des Gesetzes über grundlegende Erziehung, in dem es laut Shen klar heißt, Zweck von Bildung sei, persönliche und universale Werte zu vermitteln, mit welchen man Persönlichkeiten heranbildet, die sich für die Dinge vor Ort interessieren und eine globale Sichtweise haben. In Shens Augen brachte diese breitere Sichtweise die tapfere neue Generation hervor, welche von den studentischen Demonstranten im Legislativ-Yuan repräsentiert wurde. „Ihre Leidenschaft, Courage, Sichtweise und Kreativität sind das Ergebnis von 20 Jahren Reformen im Bildungswesen“, interpretiert er. „Lehrer und Eltern, die für die Reformen sind, können stolz sein und sollten diese Bemühungen in den kommenden 20 Jahren fortsetzen.“

Die Bildungsreform geht weiter, und in diesem Jahr startete Taiwan offiziell das neue Programm mit 12-jähriger Schulpflicht. Gemäß den älteren Vorschriften mussten die Kinder neun Jahre zur Schule gehen, sechs Jahre Grundschule und drei Jahre Mittelschule. Das neue System macht drei weitere Jahre in der Oberschule obligatorisch. Durch das Programm wird die Aufnahme in eine Oberschule für Schüler und ihre Familien weniger belastend, denn die Rolle der landesweiten gemeinsamen Aufnahmeprüfungen wurde stark reduziert, und für die Oberschulen fällt größtenteils kein Schulgeld an.

Liu Yu-chen ist einer der jungen Leute, die das reformierte Bildungssystem durchlaufen haben. Liu absolvierte die Oberschule Kaohsiung Senior High School in der südtaiwanischen Hafenmetropole und wurde dann an der Geschichtsabteilung der NTU zugelassen. Er und viele seiner Mitschüler entschieden sich dafür, am neuen Universitäts-Aufnahmeantragsverfahren teilzunehmen anstatt an der gemeinsamen Aufnahmeprüfung. Der Beschluss war für Liu eindeutig günstig, denn die NTU gilt weithin als eine der besten Universitäten Taiwans.

Im März und April dieses Jahres verfolgte er die Studentenproteste aufmerksam und nahm mit seinen Kommilitonen und Lehrern an damit zusammenhängenden Veranstaltungen teil. Seiner Einschätzung nach repräsentierte die Bewegung „das Erwachen unserer Generation hinsichtlich der Bedeutung, die eigenen Gedanken und Entschlossenheit zu entwickeln“.

Hochschul-Studierende bei einem App-Entwicklungskurs in Taipeh. Firmen wie Studios für mobile Apps aufzubauen ist ein Anzeichen für die jugendliche unternehmerische Energie Taiwans. (Foto: Huang Chung-hsin)

Die Kreativität der Jugend

In seiner Ansprache unterstrich Präsident Ma zudem die zunehmende Beteiligung junger Leute an Wirtschaftsfragen. Im Hinblick auf jugendliches Unternehmer-Können lobte er die Kreativität und den innovativen Geist, den junge Menschen an den Tag legten, und pries die Unternehmungen, die sie in Bereichen wie Zeichentrickprodukte und Mobil-Apps gestartet hätten. Das Staatsoberhaupt verwies auf die Entwicklung der Whoscall-App, einen mobilen Service, der den Nutzer mit Informationen über empfangene Anrufe und Nachrichten versorgt. Die App war von drei jungen taiwanischen Hochschulabsolventen geschaffen worden, deren Firma unlängst vom Online-Telefonbetrieb LINE für 529 Millionen NT$ (13,2 Millionen Euro) gekauft wurde, ein Betrag, der über 100-mal höher war als der ursprüngliche Kapitalaufwand.

In ähnlicher Weise äußerte sich Premierminister Jiang Yi-huah (江宜樺) im Juni dieses Jahres auf einer Konferenz mit dem Chinesischen Nationalverband Taiwan für Industrie und Handel (Chinese National Association of Industry and Commerce, Taiwan, CNAIC) mit den Worten, er sei beeindruckt von den idealistischen, risikofreudigen jungen Geschäftsleuten, mit denen er im Land gesprochen habe. Sie repräsentierten die Zukunft und Hoffnung des Landes, versicherte Jiang.

Statistiken vom Wirtschaftsministerium zeigen, dass Taiwans junge Leute eine größere Rolle in der Geschäftswelt einnehmen, denn über 47 Prozent der Taiwaner unter 34 Jahren verfügen über Erfahrung der einen oder anderen Art beim Aufbau eines eigenen Geschäfts. In dieser Hinsicht folgen die jungen Unternehmer dem Beispiel der Älteren, denn kleine und mittelständische Firmen gedeihen in Taiwan seit langem. Der Globale Unternehmer- und Entwicklungsindex 2014, veröffentlicht vom Globalen Unternehmer- und Entwicklungsinstitut in Washington D. C. (USA), stufte etwa Taiwan bei allgemeiner Unternehmereinstellung und –potenzial auf Rang 1 in Asien und auf Rang 7 weltweit ein. Die Regierung bemüht sich, diesen Trend für die Zukunft fortzuführen, und im März dieses Jahres startete der Exekutiv-Yuan ein Programm, das Jungunternehmern dabei helfen soll, binnen drei Jahren über 2400 kleine und mittelständische Unternehmen aufzubauen.

In einer jüngst gehaltenen Rede über Jugendkultur lenkte Liu I-cheng, ein bekannter Finanzfachmann und Zeitschriftenkolumnist, die Aufmerksamkeit auf die Neigung junger Taiwaner, vergleichsweise kleine geschäftliche Unternehmungen zu starten wie App-Designstudios oder Cafés. Er schrieb diesen Trend der Sehnsucht der jüngeren Generation nach einem „Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben“ und einer „Kombination aus persönlichem Interesse und Entwicklung der beruflichen Laufbahn“ zu.

Junge Inhaber kleiner und mittelständischer Unternehmen profitieren offenbar davon, über ein gutes Verständnis darüber zu verfügen, was ihre Gleichgesinnten wollen und brauchen. „Junge Konsumenten haben ihren eigenen Geschmack und eigene Interessen entwickelt“, sagte Liu I-cheng und bezog sich damit darauf, dass die jüngeren Generationen im Internet zum Verkauf angebotene nachgeahmte Markenware ablehnen, was man von ihren Eltern nicht immer sagen kann. „Sie interessieren sich mehr für Produkte, die Qualität und Wert vereinen.“ Er beschrieb diese Aufrechterhaltung eines klaren Wertesystems als „kleine Renaissance“, die für innovative Unternehmer vielversprechend sei.

Viele junge Menschen fühlen sich auch zu dem Konzept hingezogen, ein soziales Unternehmen zu betreiben, das Einkommen anstrebt, indem soziale Probleme benachteiligter Gruppen gelöst werden. In seiner Ansprache erörterte Präsident Ma die bevorstehende Einrichtung eines Forums durch die Regierung, mit dem junge soziale Unternehmer ihren Geschäftssinn entwickeln, relevante Ressourcen sammeln und Erfahrungen miteinander teilen können.

Dank der Förderung durch ein fortschrittliches und unterstützendes Bildungssystem werden Taiwans junge Leute in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft immer bestimmender. Shen ist der Auffassung, dass die offene Einstellung und die Fähigkeit zu unabhängigem Denken, die bei den jüngeren Generationen verbreitet sind, für Taiwans langfristige Entwicklung hilfreich sein werden. Shen: „Ihre Ideen und Träume über die Welt, die Zukunft und sich selbst gehen über jene von früheren Generationen weit hinaus.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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