05.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Auf dem Heimweg

01.01.2013
Auf dieser Aufnahme sieht man den Gelehrten Chien Mu, wie er in seinem Wohnzimmer Unterricht erteilt. (Foto: Huang Chung-hsin)
Viele der Menschen, die in der Stadt Taipeh leben oder arbeiten, betrachten die Gegend vom Yangming Mountain (Yangmingshan 陽明山) am Nordostrand der Stadt als riesigen Garten, wo man vor dem Stress des Stadtlebens Zuflucht suchen und sich entspannen kann. Die Bewohner von Taiwans Hauptstadt wissen, dass man nach einer kurzen Fahrt zahlreiche landschaftlich schöne Stellen erreichen kann, heiße Quellen, herausragende Restaurants und den Nationalpark Yangmingshan. Seit vergangenem Jahr gibt die Kulturabteilung der Stadtverwaltung Taipeh an Besucher jedoch auch die Empfehlung aus, man möge neben den Abstechern zu den bekannten Attraktionen ein paar Stunden an vier historischen Gebäuden am oder um dem Yangde Boulevard verbringen, der Hauptstraße zwischen der Stadt und dem Yangmingshan-Gebiet.

Das erste dieser historischen Gebäude ist die Shihlin-Dienstwohnung (士林官邸), welche ein Vierteljahrhundert dem früheren Staatspräsidenten Chiang Kai-shek (蔣介石, 1887-1975) und seiner Familie als Quartier diente, bis Chiang starb. Auf dem Gelände befand sich zuvor eine von Japanern eingerichtete Gartenbau-Experimentierstation; zwischen 1895 und 1945 war Taiwan japanische Kolonie. Nach dem Abzug der Japaner nutzte die Provinzregierung Taiwan mehrere Gebäude auf dem Grundstück, um Gäste unterzubringen. Ende der vierziger Jahre gestaltete der Architekt Yang Cho-cheng (楊卓成) den Komplex als Heimstätte der Präsidentenfamilie neu, und 1950 wurde die Anlage der neuen Bestimmung übergeben. 2005 wurde Chiangs Residenz vom Innenministerium als nationales historisches Monument unter Denkmalschutz gestellt.

Mehr als nur eine Wohnung

Als die Präsidentenfamilie in der Shihlin-Dienstwohnung lebte, war das Grundstück schwer befestigt und für die Öffentlichkeit geschlossen. Die Behausung war allerdings mehr als nur eine Wohnung, denn dort wurden viele wichtige politische Angelegenheiten beschlossen. So heißt es zum Beispiel, dass an diesem Ort 1950 die Entscheidung fiel, die ersten Wahlen auf Kreisebene in Taiwan abzuhalten. Außerdem wurde die Residenz häufig von Regierungsvertretern genutzt, um ausländische Würdenträger zu treffen und unterzubringen.

Der größte Teil der Anlage — darunter der Garten, die Victory-Kapelle (wo die Präsidentenfamilie an religiösen Zeremonien teilnahm), der zum Gedenken an Chiangs Mutter gebaute Ciyun-Pavillon und der Xinlan-Pavillon für Geburtstagsfeiern von Familienmitgliedern — wurde 1996 für die Öffentlichkeit freigegeben, auch wenn das zweigeschossige Hauptgebäude im westlichen Stil damals noch für Besucher gesperrt blieb. Erst 2011, nach fünfjähriger Restaurierung, wurde das Erdgeschoss mit dem Wohnzimmer, dem Speisesaal und dem Freizeitraum freigegeben, im vergangenen Jahr folgte das erste Obergeschoss mit den Schlafgemächern und dem Studierzimmer.

Mit einer Fläche von 9,28 Hektar weist die Shihlin-Dienstwohnung zwei Kernzonen auf — das Hauptgebäude und den Garten. Jedes Jahr Ende Februar findet im Garten ein Rosenfest statt, denn die Rose war die Lieblingsblume von Chiang Kai-sheks Ehefrau Soong May-ling (宋美齡, 1897-2003). Der Rosengarten im europäischen Stil beherbergt über 5000 Rosen von über 200 Arten. Von November bis Dezember findet zudem jedes Jahr eine Chrysanthemenschau (eine der größten in Taiwan) in dem Garten statt.

Von Chiangs Residenz gelangt man nach einer kurzen Fahrt erst zur Soochow University und dann zum Chien Mu House (錢穆故居), dem zweiten von der Stadtverwaltung empfohlenen historischen Gebäude. Chien Mu (錢穆, 1895-1990) gilt als einer der größten chinesischen Historiker, Philosophen und Pädagogen des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich erhielt Chien selbst in Schulen nur wenig Bildung, stattdessen eignete er sich sein Wissen durch traditionelle Unterweisung zu Hause an. Ab den zwanziger Jahren lehrte er in festlandchinesischen Hochschulen und traf 1949 in Hongkong ein, wo er an der Gründung des New Asia College beteiligt war. Später erhielt er sowohl von der Yale University in den USA als auch von der Hong Kong University die Ehrendoktorwürde.

1967 forderte der damalige Staatspräsident Chiang Kai-shek den Gelehrten auf, nach Taiwan umzuziehen, und erhöhte den Anreiz mit einem Geschenk, das später als Chien Mu House bekannt werden würde und damals als Gästehaus konzipiert worden war. Chien nahm das Angebot des Staatsoberhauptes an und arbeitete in Taiwan als freischaffender Akademiker, führte Forschung durch und hielt Vorträge an Hochschulen, bis er 1984 emeritierte.

Chien Mu nannte sein Haus zum Andenken an seine Mutter Sushu Building. (Foto: Huang Chung-hsin)

Chien gab seiner Wohnstätte in Erinnerung an seine Mutter den Namen Sushu Building, da das Gebäude, in dem sie gelebt hatte, die Bezeichnung Sushu-Halle getragen hatte. Die Ahornbäume, die eine Allee vom Tor bis zum Gebäude bilden, und auch die Bambuspflanzen und Teesträucher im Garten wurden samt und sonders von Chien und seiner Frau angepflanzt.

Das zweigeschossige Sushu-Gebäude ist eigentlich nicht besonders groß. Das Wohnzimmer, das den größten Teil des Erdgeschosses einnimmt, diente als häufig genutzter Unterrichtsraum, im ersten Obergeschoss befindet sich ein Schlafzimmer und ein Studierzimmer, wo Chien über 50 Bücher und zahlreiche Artikel über chinesische Klassiker, Geschichte und konfuzianische Philosophie schrieb. Das schlichte Mobiliar im Gebäude spiegelt die disziplinierte Lebensart des Hausherrn wider.

Chien und seine Frau lebten 22 Jahre lang im Sushu-Gebäude, bis die oppositionellen Politiker Chen Shui-bian (陳水扁) und Chou Po-lun (周伯倫) von der Demokratischen Progressiven Partei (DPP) behaupteten, die Residenz stelle eine illegale Besetzung staatlichen Landes dar. Der Aufruhr bewog das betagte Paar im Mai 1990 zum Umzug, der mittlerweile blinde Gelehrte starb Ende August des gleichen Jahres in einem Apartment in Taipehs Innenstadt. Jahrelang blieb das Haus am Yangmingshan unbewohnt und vernachlässigt, erst 1992 wurde die Residenz von der Stadtbücherei Taipeh wiedereröffnet und in eine Gedächtnishalle umgewandelt. Die Stadtverwaltung renovierte danach das Objekt und benannte es 2001 in Chien Mu House um. Zur Zeit wird es von der Pädagogischen Hochschule Taipeh verwaltet.

Der ursprüngliche Bewohner der dritten Wohnstätte am Yangmingshan, die zu besuchen sich lohnt, war der Schriftsteller, Erfinder und Redakteur Lin Yu-tang (林語堂, 1895-1976), der 35 Bücher und zahlreiche Essays auf Chinesisch und Englisch verfasst hat, ein Chinesisch-englisches Wörterbuch erstellte und die erste chinesische Schreibmaschine erfand.

Einen großen Teil seines Lebens reiste Lin im Ausland umher. „Niemandem ist klar, wie schön Reisen ist, bis man heimkehrt und sein Haupt aufs alte, vertraute Kopfkissen bettet“, schrieb er. In seinem achten Lebensjahrzehnt beschloss Lin, in Taiwan nach diesem alten, vertrauten Kopfkissen zu suchen. Er kam 1966 zurück und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens auf der Insel.

Das Lin Yu-tang-Haus (林語堂故居) war von Lin selbst entworfen worden und verbindet chinesische Architekturprinzipien mit westlicher Ästhetik, mit auffallenden Merkmalen wie blauen Dachziegeln, weißen Mauern, Bögen und gewundenen Korridoren. In seiner Beschreibung des Hauses schrieb Lin: „In dieser Wohnstätte gibt es einen Garten, im Garten steht ein Haus, im Haus gibt es einen Innenhof, im Innenhof steht ein Baum, über dem Baum ist der Himmel, im Himmel ist der Mond, was für ein glückliches Leben!“

Nach Lins Hinscheiden vermachte seine Witwe das Haus zusammen mit der Büchersammlung des Gelehrten, Originalmanuskripten und einigen anderen Dingen der Stadtverwaltung Taipeh, die auf dem Anwesen 1985 die Lin Yu-tang-Gedächtnisbibliothek ins Leben rief. Ein Teil der Residenz wurde danach als Ausstellungsraum und als Café genutzt. 2002 wurde die Stätte als Lin Yu-tang-Haus wiedereröffnet.

Nicht versäumen darf man den Raum, wo Modelle, Fotos und frühe Pläne von einigen Erfindungen Lins gezeigt werden. Die eindrucksvollste Erfindung in der Dauerausstellung ist wahrscheinlich Lins Prototyp einer chinesischen Schreibmaschine, von ihm selbst „Fast Typewriter“ (schnelle Schreibmaschine) genannt. Mit dem von Lin ersonnenen Sofortindex-System konnte der Benutzer nach minimaler Schulung bis zu 50 Wörter pro Minute tippen. Nach der Herstellung des Prototyps im Jahre 1947 wurde das Gerät allerdings ein Opfer des chinesischen Bürgerkrieges, denn kein Hersteller war bereit, die Maschine in so unsicheren Zeiten zu fabrizieren. Später wurde das patentierte Tastaturdesign der Schreibmaschine, die mit 64 Tasten 90 000 chinesische Schriftzeichen „buchstabiert“, von IBM in den USA und Itek Corp. für elektronische Übersetzer benutzt. Nach Lins Tod gestaltete das taiwanische Unternehmen MiTAC Inc. eine Eingabemethode für chinesische Schriftzeichen (簡易輸入法), die auf Lins Sofortindex-System beruht und heute eine der am häufigsten benutzten chinesischen Eingabemethoden für Computer in der ganzen Welt ist.

Lin Yu-tang mit einem Prototyp seiner chinesischen Schreibmaschine. (Foto: Huang Chung-hsin)

Verschiedene Lebensphilosophien

Nachdem Lin Yu-tang und Chien Mu nach Taiwan zogen und sich am Yangmingshan niederließen, wurden sie gute Freunde. Allerdings hatten die beiden recht unterschiedliche Einstellungen gegenüber dem Leben. Während Chien ein sehr diszipliniertes Dasein fristete, bevorzugte Lin eine lockerere Lebensweise, die in einem seiner Zitate reflektiert wird: „Wenn du einen vollkommen nutzlosen Nachmittag in einer vollkommen nutzlosen Weise verbringen kannst, dann hast du gelernt zu leben.“

Die vierte Residenz, die man am Yangmingshan besuchen sollte, befindet sich weiter oben am Yangde Boulevard unweit des Hauptparkplatzes vom Yangmingshan-Nationalpark. Eine kleine Nebenstraße führt vom Parkplatz zum Grass Mountain Chateau (草山行館), das 1920 von der Taiwan Sugar Corp. gebaut worden war, um den damaligen japanischen Kronprinzen Michinomiya Hirohito (迪宮裕仁, 1901-1989), der 1926 japanischer Kaiser werden sollte, während seines Aufenthaltes in Taiwan unterzubringen. Als sich 1949 die von der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) geführte Regierung der Republik China nach ihrer Niederlage gegen die chinesischen Kommunisten vom Festland nach Taiwan zurückzog, wurde das Grass Mountain Chateau die erste präsidiale Residenz, und die Chiang-Familie lebte dort für mehrere Monate. Nach dem Umzug der Präsidentenfamilie zur Shihlin-Dienstwohnung nutzte Chiang das Grass Mountain Chateau, das auf einem strategischen hohen Punkt gelegen ist, als Sommerzuflucht.

Das Hauptgebäude des Chateau ist ein Bau im japanischen Stil, vier Nebengebäude wurden als Unterkünfte für Wachpersonal konzipiert. Wie die Shihlin-Dienstwohnung war das Grass Mountain Chateau nach Chiang Kai-sheks Tod im April 1975 mehrere Jahre lang unbewohnt. 2002 erklärte die Stadtverwaltung Taipeh das Anwesen zum historischen Gebäude und restaurierte es, bevor es im Jahr darauf für die Öffentlichkeit freigegeben wurde. Ein großer Teil des Hauptgebäudes, darunter die Gästezimmer, der Wohnraum, der Empfangssaal und die Studierstube, wurden im ursprünglichen Zustand bewahrt, die vier Nebengebäude stellte man Künstlern als Ausstellungsflächen zur Verfügung.

Leider fielen der größte Teil der Originalstruktur des Hauptgebäudes und viele der Exponate am 7. April 2007 einem Brand zum Opfer. Um die ursprüngliche Erscheinung des alten Chateaus wiederherzustellen, bat die Stadtverwaltung eine Gruppe von Akademikern, die auf die Bewahrung historischer Bauten spezialisiert waren, und Fachleute für japanische Architektur, einen Restaurierungsplan zu skizzieren. 2011 wurde das Chateau als historische Stätte wiedereröffnet, freilich sind wegen der Feuersbrunst alle Exponate — darunter Kleider, Bilder und Dokumente — heute Nachbildungen. Neben Geschichte stehen im Grass Mountain Chateau Kunst, Kultur und Ökologie im Vordergrund, und in einem Café auf dem Grundstück werden Tee, Kaffee und einige von Chiangs Lieblingsgerichten serviert.

Sei es durch Zufall oder wegen der Anziehungskraft der hügeligen, bewaldeten Gegend — drei bedeutende Gestalten in Taiwans Geschichte wählten das Gebiet am Yangde Boulevard als ihre Heimat. Ein Abstecher zu ihren alten Wohnstätten, wo wichtige politische Entscheidungen gefällt wurden, gelehrte Diskussionen stattfanden und Zehntausende von Wörtern geschrieben wurden, bereichert jeden Ausflug ins Berggebiet vom Yangmingshan um das einzigartige Flair der Geschichte.

(Deutsch von Tilman Aretz)

Meistgelesen

Aktuell