03.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Die Wissenschaft der Chirurgie

01.01.2013
Wei ist bekannt für seine Pionierarbeit beim Gebrauch von Wadenbeingewebe mit Blutgefäßen für die Rekonstruktion von Kieferknochen. (Medizinische Illustrationen von Lee Lee-min)
Bis Juli vergangenen Jahres umfassten die Mitglieder der Versammlung der Academia Sinica, Taiwans renommiertester Forschungsorganisation, über 270 Wissenschaftler aus den Bereichen Geisteswissenschaften, Biologie, Mathematik, Physik und Sozialwissenschaften, aber nicht einen Chirurgen. Das änderte sich, als die Akademiker der Institution am 5. Juli 2012 den Mikrochirurgie-Pionier Wei Fu-chan (魏福全) in ihre Mitte wählten. Diese gewissermaßen verspätete Aufnahme eines Aufschneiders in die Academia Sinica war wohl ein Symptom einer verbreiteten Auffassung, die sogar von manchen Akademikern geteilt wird, nämlich dass Chirurgie eher eine Technik als ein wissenschaftlicher Bereich sei. Mit ihrem Votum zeigten die Gelehrten der Academia Sinica, dass in ihren Augen Weis jahrzehntelange Laufbahn als innovativer Chirurg, Krankenhausverwalter, Professor und Forscher solche stereotypen Unterscheidungen bedeutungslos machte.

Wu Cheng-wen, biomedizinischer Wissenschaftler und Mitglied im Rat der Academia Sinica (dem Führungsgremium der Organisation), kommentierte Weis Auswahl mit den Worten, da man tiefe Kenntnisse in wissenschaftlichen Disziplinen wie Anatomie, Körpermechanik, Zellkunde und Histologie benötige, um innovative chirurgische Verfahren durchzuführen, sei Wei eindeutig qualifiziert, in die Academia Sinica aufgenommen zu werden. Die Academia-Mitglieder und medizinischen Experten Lai Ming-chiao und Chen Pei-jer erklärten, Weis Auswahl widerlege zudem die falsche Auffassung, Chirurgen würden keine Forschung durchführen.

Weis Aufnahme in den erlesenen Kreis der Academia Sinica war lediglich die jüngste Ergänzung auf einer langen Liste von Ehrungen, die ihm im In- und Ausland zuteil wurden. Im Jahr 2008 zum Beispiel verlieh ihm der Exekutiv-Yuan der Republik China (行政院), also Taiwans Regierungskabinett oder Ministerrat, den Preis für herausragende Beiträge zu Wissenschaft und Technologie, und 2006 hatte ihn die Amerikanische Gesellschaft von Fachärzten für plastische Chirurgie als einen der 20 bedeutendsten Innovatoren in der Geschichte der plastischen Chirurgie benannt. Im gleichen Jahr berief die Amerikanische Gesellschaft für rekonstruktive Mikrochirurgie Wei zu ihrem Harry J. Buncke-Dozenten, eine der höchsten Ehren in dem Bereich.

Wei hatte 1972 an der School of Medicine des Medizinkollegs Kaohsiung in der südtaiwanischen Hafenmetropole Examen gemacht; die Schule wurde 1999 in Kaohsiung Medical University umbenannt. Aufgrund seiner herausragenden Leistungen als Medizinstudent konnte er sich in Chirurgie spezialisieren, doch er räumt ein, sich für diesen Fachbereich auch deswegen entschieden zu haben, weil die Professoren so charismatische Führungspersönlichkeiten waren.

Während seiner anschließenden chirurgischen Weiterbildung am Mackay Memorial Hospital und Schulung in plastischer Chirurgie am Chang Gung Memorial Hospital — beide in Taipeh gelegen — wurde Wei in großem Maße von der medizinischen und philanthropischen Hingabe des US-amerikanischen Arztes für plastische Chirurgie Samuel Noordhoff inspiriert, den Wei als seinen „Lehrer, Mentor und Chef“ an beiden Krankenhäusern bezeichnet. Der 1927 in Iowa geborene Noordhoff war 1959 als medizinischer Missionar nach Taiwan gekommen, wurde 1960 Superintendent von Mackay und diente 16 Jahre auf diesem Posten. 1976 wechselte Noordhoff zum neu eröffneten Chang Gung-Krankenhaus, wo er der erste Superintendent der Klinik wurde und im gleichen Jahr deren Abteilung für plastische Chirurgie gründete. Der amerikanische Heilkünstler wurde zudem dadurch bekannt, dass er 1989 in Taiwan die Noordhoff-Gesichtsschädelstiftung aufbaute, um Kindern mit angeborenen Gesichtsmissbildungen wie Oberlippenspalte oder Wolfsrachen zu helfen.

Sehr kleine Strukturen

In den späten siebziger Jahren begab Wei sich ins Ausland, um eine Postgraduiertenschulung an der kanadischen University of Toronto als Stipendiat für plastische Mikrochirurgie und dann an der University of Louisville in den USA als Stipendiat für Hand-Mikrochirurgie zu verfolgen. Wie der Name schon darauf hindeutet, geht es bei Mikrochirurgie um den Einsatz von Mikroskopen und Spezialinstrumenten, mit denen man an sehr kleinen Strukturen wie Blutgefäßen und Nerven operiert. Dass man diese chirurgische Technik brauchte, wurde in Taiwan in den siebziger Jahren immer offensichtlicher, als das Land eine rasante industrielle Entwicklung durchmachte, während der die Regierung die Menschen mit Slogans wie „das Wohnzimmer als Fabrik“ ermunterte, zu Hause leichte Fabrikation durchzuführen. Zwar boomte die Wirtschaft, doch der Betrieb von Produktionsmaschinen daheim ohne Bestimmungen, Sicherheitsvorkehrungen und erfahrene Aufsicht hatte häufige Handverletzungen zur Folge, darunter den Verlust von Fingern. Andere Faktoren, welche den Bedarf an modernen Chirurgietechniken in Taiwan erhöhten, waren die Häufigkeit von Motorrad- und Rollerunfällen sowie die verbreitete Unsitte des Betelnuss-Kauens, die zu Mundhöhlenkrebs führen kann. „Sehr häufig sind große menschliche Schmerzen der Grund für medizinischen Fortschritt“, philosophiert Wei.

1981 kehrte Wei nach Taiwan zurück und schloss sich dem Lehrkörper im Chang Gung Memorial Hospital an, wo er bei der Gründung der Abteilung für rekonstruktive Mikrochirurgie mitwirkte. Die Verfahren in der rekonstruktiven Mikrochirurgie drehen sich um Verpflanzen gesunden Gewebes von einem Teil des Patienten zu einem anderen Teil, der beschädigt wurde. Während die Chirurgen durch ein Mikroskop blicken, schließen sie Blutgefäße und manchmal Nerven vom verpflanzten Gewebe an Stellen der beschädigten Zone an. „Wir können abgetrennte Finger wieder an die Hand annähen“, berichtet Wei. „Wenn ein Finger zerquetscht ist, kann man ihn durch einen [eigenen] Zeh [des Patienten] ersetzen.“

Wei erschien auf Werbematerial für die Fernsehsendung Taiwans Medizinwunder, die 2012 ausgestrahlt wurde und vom National Geographic Channel und Taiwans Gesundheitsministerium gemeinsam produziert worden war. (Foto mit freundlicher Genehmigung des Chang Gung Memorial Hospital)

1990 wurde Wei Professor am Chang Gung Medical College, das 1987 im nordtaiwanischen Landkreis Taoyuan gegründet worden war und 1997 in Chang Gung University umbenannt wurde. In der Klinik bekleidete er von 1994 bis 2000 den Posten des Vorsitzenden der Abteilung für plastische und rekonstruktive Chirurgie und diente von 1997 bis 2003 als Vize-Superintendent.

Im Operationssaal entwickelte sich Weis Ruf, als er komplizierte chirurgische Verfahren durchführte wie Verpflanzungen von Zehen auf Hände und mit Innovationen auf den Plan trat wie der Verwendung von Wadenbeingewebe mit Blutgefäßen zur Rekonstruktion von Knochen des Kiefers oder der Gließmaßen. Im Jahr 2001 war sein weithin anerkanntes Können als versierter Chirurg ein Hauptfaktor dafür, dass die Weltgesellschaft für rekonstruktive Mikrochirurgie (World Society for Reconstructive Microsurgery, WSRM) sich dafür entschied, ihren ersten Kongress in Taipeh abzuhalten. Die WSRM war 1999 durch die Vereinigung von der Internationalen Gesellschaft für rekonstruktive Mikrochirurgie mit der Internationalen mikrochirurgischen Gesellschaft entstanden. Für die Jahre 2002 und 2003 wurde Wei zum WSRM-Präsidenten gewählt.

2003 übernahm Wei das Amt des Dekans des Chang Gung-Medizinkollegs und gab jenes Amt 2011 auf, ist aber weiterhin als Chirurg und Dozent tätig. „Die größte ,Kerngruppe‘ von Schülern hier besteht aus ,Fellows‘, also Absolventen eines Medizinstudiums, die jahrelang in plastischer Chirurgie ausgebildet wurden und sich anschließend in Mikrochirurgie spezialisieren wollen“, erläutert er. Der Ruf des Chang Gung Memorial Hospital, eines der aktivsten mikrochirurgischen Zentren der Erde zu besitzen, trägt dazu bei, solche Interessenten aus der ganzen Welt anzulocken. Jedes Jahr behandelt Weis Einheit gut 1000 mikrochirurgische Fälle mit einer Erfolgsrate von über 96 Prozent, teilt die Klinik mit. 2009 verwies die erste Ausgabe des WSRM-Newsletter auf die Führungsrolle von Chang Gung in dem Bereich und nannte es „eines der geschäftigsten mikrochirurgischen Zentren der Welt“.

Die hohe Zahl behandelter Fälle ist einer der Faktoren, der Chirurgen aus dem In- und Ausland anlockt. Seit Mitte der achtziger Jahre hat die Abteilung für plastische Chirurgie des Krankenhauses über 1200 Ärzte und Gelehrte aus 68 Ländern ausgebildet, darunter aus Deutschland, Festlandchina, Großbritannien, Japan, Südkorea und den USA.

In- und ausländische „Fellows“ begleiten Wei und sein Team den ganzen Tag über. Ein Mitglied von Weis Gefolge der jüngsten Zeit war ein syrischer Arzt, der in den USA ausgebildet worden war, bevor er nach Taiwan kam. „Seine Geschichte berührte mich, denn er wollte heimkehren, um seinen verwundeten Landsleuten zu dienen und seinem Land bei der Erholung vom Krieg zu helfen“, bekennt Wei.

Die meisten Bewerber, die bei Chang Gung als Fellows angenommen werden, kommen allerdings immer noch aus entwickelten Ländern, da dieses Verfahren wegen der Kosten für Bau und Betrieb von Mikrochirurgie-Einrichtungen sowie der Mikrochirurgie selbst in Entwicklungsländern selten ist. In einem unlängst von einer einheimischen Fernsehanstalt ausgestrahlten Interview sagte die deutsche Ärztin Leila Kolios von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Ludwigshafen, ihr sei klar geworden, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, sich um Weiterbildung in Chang Gung zu bemühen, als sie feststellte, dass Wei manchmal fünf Mal am Tag komplizierte „freie Lappen“-Fälle (engl.: free flap) behandelte. Bei solchen Verfahren übertragen die Ärzte Gewebe mit intakten Blutgefäßen von einem Körperteil auf einen anderen, wo man mit Mikrochirurgie die Blutgefäße neu verbindet. Wei ist stolz auf die Erfolge, die seine ausländischen Mikrochirurgie-Fellows nach der Rückkehr in ihre Heimatländer haben. „Viele von ihnen wurden später in ihren Ländern Professoren oder Leiter ihrer Abteilungen“, freut er sich.

Laut Wei ist das Chung Gung Memorial Hospital dank der Erfahrungen und des Knowhows bei Mikrochirurgie, die im Laufe der Jahre angesammelt wurden, heute in dem Bereich mit führend. „Unsere frühen Anstrengungen dabei, diesen Bereich von Expertise zu entwickeln, erwiesen sich für unsere aktuelle Wettbewerbsfähigkeit in der Welt als entscheidend“, unterstreicht er. „In diesem Bereich sind wir international weit vorn, und zwar bei den erfassten Aspekten, der Zahl der behandelten Fälle und bei Innovation.“ Derzeit dringt Weis Team in die Verpflanzung von komplexem Gewebe zwischen Individuen vor, ein Zweig der Chirurgie, der unter der Bezeichnung „Allotransplantation“ bekannt ist und zu dem auch Organspenden gehören.

Eine Belobigung von der „Operation Smile“, die Wei für seine Beiträge zu den medizinischen Missionen dieser NGO dankte. (Foto mit freundlicher Genehmigung des Chang Gung Memorial Hospital)

Wei und andere Mediziner haben überdies ihre Kompetenz und Erfahrung eingebracht, um Taiwans Bemühungen bei medizinischer Diplomatie zu fördern. Der Internationale Kooperations- und Entwicklungsfonds (International Cooperation and Development Fund, ICDF) zum Beispiel wurde 1996 von der Regierung der Republik China gegründet, um die Ressourcen des Landes für Hilfsprogramme im Ausland zu koordinieren. Seit 2006 arbeitet der ICDF mit über 20 taiwanischen privaten medizinischen Organisationen zusammen, um eine internationale Allianz zu bilden, die den diplomatischen Verbündeten der Republik China medizinische Hilfe bietet. Als Chung Gungs Medizinkolleg Gründungsmitglied der Allianz wurde, war Wei Dekan der Lehranstalt.

Nach Mitteilung des Chirurgen hat die Republik China sich in der Vergangenheit an internationalen Bemühungen zu medizinischer Hilfe beteiligt, um die Beziehungen zu den diplomatischen Partnern zu stärken und Unterstützung von den Partnerländern für eine größere Präsenz auf der Weltbühne zu gewinnen. Für eine aktivere medizinische Außenpolitik rät Wei, dass die Regierung Partnerschaften mit internationalen Nichtregierungsorganisationen (Nongovernmental Organization, NGO) aufbaut wie Operation Smile, die sich dafür einsetzt, Kindern, die an Oberlippenspalten, Wolfsrachen oder anderen Missbildungen im Gesicht leiden, chirurgische Eingriffe zu bieten. Durch regelmäßige Finanzbeiträge und Entsendung von Personal, damit NGOs bestimmte medizinische Einsätze erfüllen könnten, würde Taiwan eine deutlichere Rolle für sich selbst auf der Weltbühne schaffen, als man das erreichen könnte, indem man lediglich Geld an internationale NGOs spendet, wie es gegenwärtig manchmal der Fall ist, so Wei.

Taiwan könnte außerdem mehr tun, Patienten zu helfen, die im Ausland leben und eine Gesichtsschädel-Operation oder Leber- oder Herztransplantation brauchen, empfiehlt Wei. Eine Möglichkeit dazu wäre, dass die staatlichen Auslandsbüros Menschen ermitteln, die solche Behandlung brauchen, und diese dann an medizinische Zentren in Taiwan vermitteln. Medizinische Dienstleistungen für ausländische Patienten könnten dazu beitragen, das Bewusstsein zu verbreiten, dass Taiwan über ein starkes Gesundheitswesen verfügt und bereit ist, durch Behandlung von aus dem Ausland verwiesenen schweren Fällen Hilfe zu bieten, wirbt er.

Nicht zu bescheiden!

Angesichts der beachtlichen Expertise, die Taiwan angesammelt hat, glaubt Wei, es sei Zeit für das Land, bei internationaler Medizin sein Licht nicht weiter unter den Scheffel zu stellen. Taiwans Durchbrüche bei der Hepatitis-Forschung und mikrochirurgischer Rekonstruktion zum Beispiel machten das Land in diesen Bereichen weltweit mit führend. Anstatt einfach nur medizinische Hilfe zu bieten, könnte Taiwan anderen modernen Ländern als Vorbild dienen, wenn sie ihre eigenen entsprechenden Programme entwickeln, führt er aus.

Nach Weis Einschätzung wäre ein Weg für Taiwan, seine Führung bei internationaler Gesundheitsfürsorge zu festigen, eine bessere Nutzung der Stärken bei Forschung und Lehre in den maßgeblichen medizinischen Zentren des Landes. Die Regierung könnte diese Bemühungen unterstützen, indem sie Forschungsstipendien für ausländische Ärzte in ausgewählten Bereichen sponsert, etwa Mikrochirurgie und Behandlung von Hepatitis B. Um das Wissen, das Taiwan in diesen Bereichen angesammelt hat, gleichmäßiger zu verbreiten, wäre es am besten, ausländische Ärzte aus allen Ecken dieses Planeten einzuladen, regt er an, nicht nur aus Ländern, die mit der Republik China offizielle diplomatische Beziehungen unterhalten.

Wei ist ein energischer Fürsprecher für staatliche Finanzierung solcher Stipendien. „Es wäre nicht schwer, private Sponsoren zu finden, doch Förderung durch die Regierung hätte eine andere Bedeutung“, versichert er. „Sie wird im Namen des Volkes vergeben. Wenn diese Ärzte in ihre Heimat zurückkehren, wären sie uns gegenüber dankbar, und diese emotionale Bindung würde lange halten.“

Wei, der selbst in Kanada und den USA Forschungsstipendien absolvierte, ist überzeugt, es sei Zeit für Taiwan, sich für die Hilfe erkenntlich zu zeigen. Wei: „In der Vergangenheit waren wir stolz auf die Kompetenz, die wir gewannen, indem wir aus dem Westen eingeführte Medizin praktizierten. Jetzt können wir aber unsere eigenen medizinischen Techniken in westliche Länder exportieren. Eines Tages könnten unsere Techniken der internationale Standard werden.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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