20.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Mehr Vielfalt bei Fremdsprachen

01.03.2013
Die Spanischlehrerin Wu Pei-hua beim Unterricht in der Jingmei-Mädchenoberschule. (Foto: Chang Su-ching)
Im ersten Semester des laufenden Schuljahrs belegten Hsu Je und Chang Shu-wei an der Jingmei-Mädchenoberschule in Taipeh ihren ersten Spanischkurs. Englisch hatten sie schon seit der Grundschulzeit gelernt, und nun freuten die Schülerinnen sich auf die Gelegenheit, eine weltweit verbreitete andere Fremdsprache kennen zu lernen. „Spanisch lernen ist eine praktische Entscheidung, weil so viele Menschen auf der Welt diese Sprache sprechen“, versichert Hsu. Chang möchte mehr über Spanien erfahren, etwa die Meeresfrüchte-Kultur und Stierkampf-Tradition. Zwar fangen beide gerade erst an, sich die Grundlagen der Sprache anzueignen, doch nach Ansicht von Hsu und Chang könnte Spanisch in Zukunft eine Rolle dabei spielen, wenn sie sich für Reiseziele oder Studienorte entscheiden. „Sprachen bieten Schülern eine andere Perspektive in ihrem Alltagsleben“, interpretiert Wu Pei-hua, Spanischlehrerin an der Jingmei-Oberschule. „Sie lernen nicht nur die Sprache, sondern kommen auch mit der Kultur in Kontakt.“

Die 1962 als Provinzschule gegründete Lehranstalt war eine der ersten Schulen im Lande, die nach dem Ende der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) aufgebaut worden war. 1994 führte man in Jingmei Kurse in Französisch, Deutsch und Japanisch als zusätzliche Unterrichtsveranstaltungen ein, Teil der Bemühungen des Bildungsministeriums, das Studium der Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften zu fördern. Die Kurse gehörten zu dem ersten Bildungsprogramm für nicht-englische Fremdsprachen, das an Taiwans Oberschulen ausprobiert wurde. Im Jahr 2001 wurde das Programm, das drei Jahre zuvor um Spanisch ergänzt worden war, ins Pflichtkursprogramm für Zehntklässler von Jingmei übertragen, und sie werden gemäß ihrer gewählten zweiten Fremdsprache in die Kurse eingeteilt. (Die zehnte Klasse ist das erste Jahr in Taiwans Oberschulen; die Grundschule dauert sechs Jahre und die Mittelschule drei Jahre. Red.) 2005 wurde die Auswahl noch um Koreanisch bereichert, und seitdem sind die regulären Kurse im zehnten Schuljahr der Jingmei-Mädchenoberschule in zwei Gruppen für Fremdsprachenunterricht eingeteilt, womit ein wirkungsvolleres Lernen erzielt werden soll. Durch die Regelung erhöhen sich der Bedarf an Lehrern, die Personalkosten und der benötigte Unterrichtsraum, kommentiert Jingmeis Rektorin Lin Li-hwa das anhaltende Engagement ihrer Schule für den Fremdsprachenunterricht. „Es ist jedoch die Mühe wert, denn es könnte langfristige Auswirkungen auf das Leben der Schülerinnen haben.“

Neben Französisch, Deutsch, Japanisch, Spanisch und Koreanisch plant man an der Schule eine noch höhere Vielfalt durch Vietnamesischkurse, die bereits an fünf anderen Oberschulen in Taiwan angeboten werden. Eine davon ist die Internationale Dayuan-Oberschule im nordtaiwanischen Landkreis Taoyuan, wo man derzeit außerhalb der regulären Schulstunden samstags diese Sprache lernen kann. „Eine weitere Sprache zu erlernen bedeutet mehr Farbe und mehr Möglichkeiten“, urteilt Dayuans Rektor Chung Ting-kuo, der auch dem internationalen Bildungszentrum Taoyuan des Landkreises vorsteht.

Das Bildungsministerium fördert die Ausbildung in einer zweiten Fremdsprache seit 1996 und war 2008 bei der Einrichtung des Bildungszentrums für zweite Fremdsprachen an der Fu Jen Catholic University in Hsinchuang (New Taipei City) beteiligt. „Der Fremdsprachenunterricht ist Teil unserer internationalen Ausbildung“, verkündet Chang San-lii, Direktor des Zentrums und Professor an der Abteilung für deutsche Sprache und Kultur von Fu Jen. „Eine globale Perspektive und Wissen sind wesentliche Aspekte für die Fertigkeiten unserer zukünftigen Generationen.“ Die Fu Jen-Uni ist für ihre Fremdsprachenprogramme berühmt und unterhält das Fremdsprachen-College, wo es Abteilungen für Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Japanisch und Spanisch gibt, zusätzlich zu den Instituten für komparative Literatur, kulturübergreifende Studien, Linguistik und Übersetzungsstudien.

In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der taiwanischen Oberschüler, die eine zweite Fremdsprache lernten, von etwa 20 000 an etwas über 100 Schulen im Jahr 2002 auf fast 60 000 an 251 Schulen im ersten Halbjahr des Schuljahres 2012/2013. Die Zahlen repräsentieren die gut 330 akademisch orientierten Oberschulen des Landes ohne die Berufsschulen. Die beliebteste zweite Fremdsprache ist Japanisch, belegt von 66 Prozent dieser Schüler, gefolgt von Französisch (12 Prozent) sowie Deutsch und Spanisch (jeweils 8 Prozent).

Japanischunterricht in der Dayuan-Oberschule. Gut 66 Prozent von Taiwans Oberschülern, die eine zweite Fremdsprache lernen, haben sich für Japanisch entschieden. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Dayuan International Senior High School)

Einen Schwerpunkt finden

Trotz des Minderheitenstatus von Kursen für europäische Sprachen in Taiwan haben sich manche Schulen genau darauf spezialisiert. In der südtaiwanischen Stadt Tainan lernen die meisten der Schüler an der National Peimen Senior High School europäische Sprachen, seit vergangenem Jahr gibt es sogar Italienischkurse. Das Programm für zweite Fremdsprachen an der Taipei Municipal Yongchun Senior High School konzentriert sich fast ausschließlich auf Französischunterricht. An der Yongchun-Oberschule ist das vor allem deshalb möglich, weil Vollzeit-Französischlehrer beschäftigt werden, wogegen es an den meisten anderen Schulen lediglich Teilzeitlehrer gibt. Beispielsweise unterrichtet Wus Spanischlehrerkollegin Chiu Yu-fang abgesehen von der Jingmei-Mädchenoberschule auch noch an mehreren anderen Schulen in New Taipei City.

Zur Zeit bieten Taiwans Oberschulen zudem Unterricht in einigen anderen Sprachen an, darunter Russisch, Latein und Indonesisch, allerdings sind diese Kurse relativ neu und nur an wenigen Schulen im Angebot. Bei den jüngeren Generationen in Taiwan wird überdies Koreanisch wegen der Wirtschaftsleistung und kulturellen Ausstrahlung Südkoreas immer beliebter, und heute gibt es an annähernd 50 Oberschulen im ganzen Land Koreanischkurse.

Zwar können die jungen Schüler unter einem größeren Fremdsprachenangebot wählen, doch mangelt es ihnen zuweilen an Motivation, eine neue Fremdsprache zu erlernen. Nach den Worten von Liu Ling-chun, Japanischlehrerin in Dayuan, interessieren sich zwar viele Schüler wirklich dafür, die Sprache zu lernen, andere entscheiden sich für Japanisch, weil die Sprache in Taiwan im Alltagsleben häufig vorkommt und sie nicht wissen, „welche Sprache sie sonst nehmen sollen“. Liu: „Diese zweite Gruppe verliert leicht die Geduld dabei, wenn sie auf das erste Hindernis stoßen, nämlich die beiden Kana-Silbenalphabete, und die Lehrer müssen ihnen in der Anfangsphase des Lernens mehr Ermutigung geben.“ Im Kontrast dazu legen die Schüler, die Deutsch, Französisch oder Spanisch wählen, meist einen größeren Enthusiasmus an den Tag, obwohl jene Sprachen in Taiwan selten gebraucht werden, wenn überhaupt. Tatsächlich entschied sich Wu Cai-rong, die im zweiten Jahr Deutsch an der Jingmei-Oberschule lernt, für die Sprache, weil anderswo dafür weniger Ressourcen zum Lernen verfügbar sind. „Ich wollte eine Sprache lernen, die man woanders nicht so leicht lernen kann“, begründet sie und ergänzt, Lehrmaterialien für Japanisch oder Englisch könne man problemlos in ganz Taiwan finden. „Viele meiner Schülerinnen kommen in meinen Unterricht, weil sie Deutsch cool finden und meinen, Deutsch werde von vergleichsweise weniger Menschen beherrscht“, erzählt Charlotte Han (韓宜靜), Wu Cai-rongs Lehrerin und Präsidentin des Chinesisch-Deutschen Kultur- und Wirtschaftsverbandes (CDKWV) in Taipeh. Die in den dreißiger Jahren gegründete Organisation fördert den Austausch bei Bildung, Kultur und Kunst sowie Handel zwischen Taiwan und deutschsprachigen Gesellschaften in der Welt.

Während für die Zehntklässlerinnen bei Jingmei das Studium einer zweiten Fremdsprache Pflicht ist, gehört das Programm im Folgejahr nicht mehr zum Lehrplan. Wu Cai-rong und einige ihrer Mitschülerinnen setzten ihre Studien fort, indem sie jeden Samstagmorgen in der Taipei Municipal Zhongshan Girls High School an einem Deutsch-Fortgeschrittenenkurs (Advanced Placement, AP) teilnehmen. Jenes Sprachenprogramm auf College-Niveau für Oberschüler gibt es an mehreren Oberschulen, darunter Dayuan. Laut Chung können die Schüler, die einen AP mit Erfolg abschließen, einen Teilnahmeschein für bestimmte Hochschulen bekommen, oder sie gewinnen einen Wettbewerbsvorteil bei ihren Hochschul-Aufnahmeanträgen. Manche der Schüler machen sich nach Angaben des Dayuan-Rektors auch Sprachprüfungen — entweder die im Inland entwickelten Tests oder solche von internationalen Organisationen — zunutze. Derzeit berücksichtigen über 50 der nicht-englischen Fremdsprachenabteilungen an Taiwans Universitäten oder Colleges bei der Aufnahme von Studierenden solche Ergebnisse.

Die meisten der Dayuan-Oberschüler im zwölften Schuljahr haben die Grundstufenniveau-Tests bestanden, welche das Sprachlehr- und Prüfungszentrum (Language Training and Testing Center, LTTC) für Schüler oder erwachsene Lerner nicht-englischer Fremdsprachen konzipiert hat. Das staatlich unterstützte LTTC, geleitet vom Präsidenten der National Taiwan University (NTU) in Taipeh, hatte 2002 den allgemeinen Test für Englisch-Sprachkenntnisse (General English Proficiency Test, GEPT) ins Leben gerufen, der heute jedes Jahr in allen größeren Städten Taiwans abgenommen wird. Die GEPT-Resultate werden von vielen Oberschulen, Universitäten, Privatunternehmen und Regierungsbehörden anerkannt, und in den jüngsten Jahren überdies von immer mehr ausländischen Universitäten zum Einschätzen der Englischkenntnisse von Bewerbern aus Taiwan. Seit 2011 gibt es Tests in anderen Fremdsprachen wie Deutsch, Französisch, Japanisch und Spanisch.

Ausländische Schüler und ihre einheimischen Mitschüler bei einem Schwätzchen in der Dayuan-Oberschule. Durch das Austauschprogramm können Schüler ihre Sprachkenntnisse in einem muttersprachlichen Umfeld üben. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Dayuan International Senior High School)

Optionen in staatlichen Schulen

Dayuan, eine vergleichsweise neue Schule, begann ihren Lehrbetrieb im Jahr 2010. Nach Chungs Auskunft war die Schule gegründet worden, um für Schüler im Landkreis Taoyuan mehr Optionen für staatliche Schulen zu schaffen. Vor der Eröffnung von Dayuan hatten gut 77 Prozent teurere Privatschulen besucht. Die Schule wurde so konzipiert, dass sie auf den Unterricht von Englisch und anderen Fremdsprachen spezialisiert ist, und für die Schüler ist es Pflicht, während der gesamten drei Jahre an dieser Oberschule eine zweite Fremdsprache zu belegen, im ersten Jahr fünf Kurse die Woche, im zweiten Jahr drei Kurse die Woche und zwei Kurse im dritten Jahr. Abgesehen von der größeren Zahl der Schulstunden, die überwiegend von Vollzeitlehrern unterrichtet werden, unterscheidet Dayuan sich von anderen Schulen insofern, als zweite Fremdsprachen genauso wie Englisch, Mathematik und Wissenschaftskunde als Standardfach zum regulären Lehrplan gehören. „Das bedeutet, die Lernergebnisse der zweiten Fremdsprachen bilden einen zentralen Bestandteil der Noten unserer Schüler“, erläutert Chung. Dieser zusätzliche Druck soll die Schülerinnen und Schüler dazu bringen, die Sprachkurse ernst zu nehmen und sich deswegen um bessere Ergebnisse zu bemühen. Die Schule organisiert für die Schüler Bildungsreisen ins Ausland, außerdem werden jedes Jahr rund 10 Austauschschüler aus verschiedenen Ländern für Aufenthalte bis zu einem Jahr eingeladen, und sie können während der Austauschzeit bei Dayuan im Schülerwohnheim mit einheimischen Schülern Quartier beziehen. Solcher Austausch mit Muttersprachlern anderer Sprachen kann den einheimischen Schülern helfen, ihre Sprachkenntnisse in einem natürlicheren Umfeld zu verbessern, als wenn sie in den Pausen oder nach Schulschluss miteinander schwatzen, urteilt der Rektor.

Einheimische Schulen können zudem auf institutionelle Hilfe ihrer Sprachenprogramme von ausländischen Regierungen oder Organisationen zurückgreifen. Jingmei zum Beispiel hat sich der Partnerschulinitiative (Pasch) der deutschen Regierung angeschlossen, die Lehrmaterial und Lesestoff bietet und daneben laut Lin unter anderem deutsche Sprachtests bezuschusst, um die Sprache in der ganzen Welt zu fördern.

Raum machen

Nach Auskunft der Jingmei-Rektorin ist das Lehrprogramm für nicht-englische Sprachen trotz beträchtlicher Begeisterung unter den Schülerinnen auf den Widerstand von vielen Eltern gestoßen, die nicht wollen, dass ihre Kinder zu viel Zeit für ein Fach aufwenden, das nicht Bestandteil der nationalen Hochschul-Aufnahmeprüfungen ist. Eine gute Nachricht wiederum ist, dass Taiwans Bildungspolitik und Aufnahmestandards sich davon entfernen, das meiste Gewicht auf die Hochschulaufnahmeprüfung zu legen, und sich vielfältigen Zugangsmethoden nähern, die ein breiteres Spektrum von Fähigkeiten anerkennen. Außerdem wurden Maßnahmen ergriffen, die Rolle der Aufnahmeprüfungen für Oberschulen zu vermindern, und landesweit sollen bis 2014 neue Zugangsmodelle umgesetzt werden. Die Veränderungen werden größere Möglichkeiten mit sich bringen, Lernen über traditionelle akademische Fächer hinaus auszudehnen, wirbt Chang San-lii.

Bis dahin ist der Leitung der Dayuan-Oberschule bewusst, dass bei den diesjährigen Universitäts-Aufnahmeprüfungen — der ersten seit der Gründung der Schule — eine Menge vom Abschneiden ihrer Schüler abhängt, denn die Ergebnisse werden das Engagement der Schule für den Unterricht in mehreren Fremdsprachen widerspiegeln.

Egal wie es ausgehen wird, Chang von der Fu Jen-Uni weist darauf hin, dass man, wenn man das Studium von mehr Fremdsprachen und von anderen Kulturen in Sekundarschulen vorantreibt, engere Verbindungen zwischen Taiwan und den aufstrebenden Volkswirtschaften in Südostasien aufbauen könnte, die häufig von den Taiwanern bei Gesprächen über andere Länder vernachlässigt werden. „Manche Eltern fragen sich, warum ihre Kinder die Sprachen von unseren Gastarbeitern lernen sollen“, schnaubt der Professor. Wenn er solche Einwände hört, hält er dagegen, dass die sich entwickelnden Märkte in den südostasiatischen Ländern sich für Taiwans Wirtschaft in Zukunft als unschätzbar erweisen könnten. „Für die nationale Entwicklung sollte Taiwan seine geografische und kulturelle Nähe und auch die persönlichen Verbindungen durch Eheschließungen mit Bürgern aus Ländern wie Vietnam nutzen, anstatt solche Beziehungen als soziale Last zu betrachten“, rät Chang.

Im Einklang mit diesem Ansatz plant die Dayuan-Oberschule, die sich in einer Region befindet, wo ein hoher Anteil von Zuwanderern aus Vietnam, Thailand und anderen Ländern lebt, ihren Schülern zu empfehlen, Kurse in ihren Sprachen zu belegen. „Das ist unser nächstes größeres Experiment“, verkündet Dayuan-Rektor Chung. „Und ich denke, es ist eins, das sich sehr lohnen wird.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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