29.04.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Mega-in: Reisen plus arbeiten

01.03.2013
Während eines zwanglosen Treffens in Taiwans Vertretung (TECO) in Canberra posieren Arbeitsurlauber aus Taiwan 2012 mit Chang Siao-yue (Mitte), Taiwans Repräsentantin in Australien. (Foto: Courtesy TECO Australia)
Nachdem die 25-jährige Cheng I-ching nach ihrem Abschluss der Oberschule im nordtaiwanischen Landkreis Hsinchu mehrere Jahre in Taiwan gearbeitet hatte, reiste sie im April 2010 nach Australien ab und kehrte zwei Jahre nicht nach Hause zurück. Anders als die vielen Taiwaner, die zum Studium nach Australien gehen, passierte Cheng die Grenzkontrollen mit einem Arbeitsferien-Visum, so dass sie während ihres langen Aufenthaltes bezahlte Jobs annehmen konnte. Auf diese Weise kam Cheng finanziell über die Runden und sammelte gleichzeitig Erfahrungen in einem anderen Land, was möglich wurde durch ein 2004 geschlossenes Abkommen zwischen Taiwan und Australien, das es jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren gestattet, bis zu 24 Monate Arbeitsferien im Partnerland zu verbringen.

„Viele junge Leute in Taiwan denken daran, zum Studium ins Ausland zu gehen, doch sie wissen, dass das für ihre Familien teuer werden kann“, begründet Cheng. „Das hält sie davon ab, Auslandserfahrung anzustreben. Deswegen dachte ich, als ich von der Gelegenheit hörte, für mindestens ein Jahr im Ausland Arbeitsferien zu machen, das wäre zu schön, um wahr zu sein.“

Bis September 2012 hatten nach Auskunft von Taiwans Außenministerium über 65 800 junge Taiwaner Arbeitsferien im Ausland gemacht. Taiwans erste Arbeitsferien-Partnerschaft wurde im April 2004 mit der Unterzeichnung eines Abkommens mit Neuseeland besiegelt. Der Pakt, der im Juni jenes Jahres in Kraft trat, gestattet maximal 600 Taiwanern und Neuseeländern zwischen 18 und 30 Jahren den Besuch im Partnerland für bis zu 12 Monate.

Seit November 2004 haben über 51 700 junge Taiwaner ein ähnliches Abkommen mit Australien genutzt. Der Kontinent auf der Südhalbkugel erwies sich als beliebtes Reiseziel, weil dort keine Obergrenze für die Personenzahl von Arbeitsurlaubern aus Taiwan verfügt wurde und reichlich Jobangebote mit vergleichsweise guter Bezahlung winken.

2009 unterzeichnete Taiwan ein Arbeitsferien-Abkommen mit Kanada, 2010 mit Deutschland und Südkorea und 2011 eines mit Großbritannien. Als neuntes und bisher letztes Abkommen dieser Art wurde im März dieses Jahres ein Vertrag mit Belgien unter Dach und Fach gebracht, der am 29. März in Kraft treten wird, mit einer Quote von jeweils 200 jungen Arbeitsurlaubern pro Jahr.

Es könnten noch weitere Arbeitsferien-Abkommen folgen, denn Taiwans Außenministerium führt Verhandlungen mit mehreren potenziellen Partnerländern. Vertreter aus Taiwan und Frankreich zum Beispiel sprechen seit Jahren mit Unterbrechungen über die Möglichkeit eines solchen Abkommens. Cheng, die in der Oberschule einen Leistungskurs in Speise- und Getränkeservice belegt hatte, würde gerne für Arbeitsferien nach Frankreich gehen, obwohl sie erst unlängst von einem Aufenthalt dieser Art in Australien zurückgekehrt ist. „Ich könnte in meinem Berufsfeld eine Menge von Frankreichs Expertise lernen“, meint sie.

Scott Fraser, damaliger geschäftsführender Direktor von Kanadas Vertretungsbüro in Taiwan, im Juli 2010 mit Antragsformularen von Taiwanern für ein Arbeitsferien-Visum in seinem Land. Taiwans aktuelles Abkommen mit Kanada gestattet jedes Jahr jeweils 1000 jungen Leuten einen Aufenthalt für Arbeitsferien im Land des Vertragspartners. (Foto: Central News Agency)

Die Welt erkunden

Die Kang Wen Kultur- und Bildungsstiftung war 1988 mit der Hauptzielsetzung gegründet worden, internationale Kulturaustauschprogramme zu organisieren und Jugendreisen zu fördern. Im September 2012 veröffentlichte Kang Wen die Ergebnisse einer Umfrage unter 226 jungen Leuten aus Taiwan, die seit 2009 mindestens sechs Monate mit Arbeitsferien im Ausland verbracht hatten. Die Befragten zählten als Hauptmotive für solche Arbeitsferien auf, dass sie die Welt erkunden, Sprachkenntnisse pflegen und Unabhängigkeit entwickeln wollten.

Auf die Frage, welches Land sie für weitere Arbeitsferien wählen würden, gaben die meisten Kang Wen gegenüber als Antwort „Kanada“. Laut der Zusammenfassung der Umfrage war Kanada wahrscheinlich deswegen das beliebteste Wunschziel, „weil das Land die einzige Option in Nordamerika ist und Arbeitsferien für Menschen bis 35 Jahre erlaubt“. Im Hinblick auf die drei begehrtesten Länder, für die man sich neue Arbeitsferien-Partnerschaften wünschen würde, nannten die Befragten mehrheitlich nacheinander Italien, Frankreich und die Niederlande.

2009 veröffentlichte eine Gruppe von Akademikern am National Institute of Labour Studies der Flinders University im australischen Adelaide eine Studie mit dem Titel Evaluation of Australia’s Working Holiday Maker (WHM) Program, die Statistiken enthält über Arbeitsurlauber, die Australien besuchten. Durch einen Vergleich der Studie von Flinders mit ihrer eigenen Umfrage entdeckte die Kang Wen-Stiftung, dass die taiwanischen Arbeitsurlauber mit 26 Jahren im Schnitt älter waren als ihre Kollegen aus anderen Ländern, einen höheren Bildungshintergrund aufwiesen (meist mit Bachelordiplom oder einem höheren akademischen Grad) und mehr Einkommen verdienten.

Annähernd 70 Prozent der taiwanischen Arbeitsurlauber der jüngsten Zeit waren gemäß der Kang Wen-Studie Frauen, ein ähnlicher Anteil wie in Japan, aber deutlich höher als bei den Arbeitsurlaubern aus anderen Ländern. In der Zusammenfassung der Studie schrieb man die niedrige Beteiligungsquote junger Männer zum Teil Taiwans Pflichtwehrdienst zu, der jungen Männern Auslandsreisen verbietet, bevor sie in den Streitkräften gedient haben.

Während ihres Aufenthaltes in Australien übte Cheng eine Reihe von Jobs aus, darunter sechs Monate als Technikerin in einem Labor für Pflanzen-Gewebekulturen und eine Tätigkeit in der Reinigungskolonne eines Hotels. Jeden dieser Jobs behielt sie für sechs Monate, denn das war das Maximum, welches Australien Besuchern mit Arbeitsferien-Visum für Beschäftigungsverhältnisse beim gleichen Arbeitgeber gestattet. Cheng nahm auch kurzfristigere Jobs an, unter anderem zum Pflücken von Erdbeeren, Pilzen und Kohl sowie als Hilfskraft in einem Restaurant zum Verpacken von Hühnchen und Küchenhilfe.

Geldverdienen war eines von Chengs Motiven für ihren Besuch in Australien, doch daneben ging es ihr um weit mehr. „Wenn ein Job zu Ende ging oder ich woandershin zog, verbrachte ich ein, zwei Wochen damit, die Städtchen unterwegs zu erkunden“, erzählt sie. „Es dauert eine Weile, bis man ein Gefühl dafür entwickelt, wie das Alltagsleben in einem anderen Land ist.“ Kang Wens Studie zeigte, dass Chengs Methode recht typisch für taiwanische Arbeitsurlauber im Ausland war, die 45,2 Prozent ihrer Zeit der Arbeit widmeten und 38,3 Prozent mit Tourismus zubrachten. Im Schnitt verdienten die Befragten während eines Arbeitsferien-Aufenthaltes 360 000 NT$ (9230 Euro) und gaben gleichzeitig 230 000 NT$ (5897 Euro) aus.

„Es geht nicht nur ums Geldverdienen“, weiß Jean Chang, Präsidentin von Kang Wen und des Reisebüros Golden Formosa Travel Services Corp. in Taipeh. „Viel wichtiger ist, den Wert der Unabhängigkeit kennen zu lernen und die Perspektiven und Weltsicht der jungen Leute zu entwickeln.“

Cheng stimmt der Ansicht zu, dass Arbeitsferien die Entwicklung der Persönlichkeit beschleunigen können, und sagt, es hätte ihren Horizont erweitert, in einem anderen Land zu leben und zu arbeiten, weil sie dort mit anderen Denk- und Verhaltensweisen in Berührung gekommen wäre: „In der Vergangenheit lief ich eher Gefahr, in einer bestimmte Denkweise gefangen zu sein. Jetzt kann ich auch alternative Möglichkeiten in Erwägung ziehen.“

Das Außenministerium treibt Abkommen über Arbeitsferien im Rahmen der Anstrengungen voran, Taiwans internationale Präsenz durch flexible Außenpolitik zu erweitern. Nach den Worten von Kang Wens geschäftsführender Direktorin Wang Hsueh-mei ist die Unterzeichnung von Arbeitsferien-Abkommen mit Partnerländern für taiwanische Reisende ein großer Segen. „Arbeitsferien-Abkommen und die anderen Ergebnisse unserer flexiblen Außenpolitik, darunter visafreie Einreise in zahlreichen Ländern rund um den Erdball, stellen für unsere Bürger eine enorme Hilfe dar“, versichert Wang.

Eine Kandidatin für einen Arbeitsferien-Job auf der nordjapanischen Insel Hokkaido unterzieht sich einem Test über ihre Kälteresistenz. (Foto: Courtesy Rich Marketing and Communication)

2008 wurde der Internationale Arbeitsferien-Verband Taiwan gegründet, um Informationen über Gelegenheiten in Partnerländern bereitzustellen und Taiwaner, die sich auf Arbeitsferien im Ausland vorbereiteten, über das Leben im Gastland aufzuklären. Nach Auskunft von James Chang, der in den neunziger Jahren Jura in Australien studiert hatte und heute die Funktion des Verbandspräsidenten bekleidet, sind Arbeitsferien gut für Taiwans junge Leute und auch fürs nationale Interesse. „In neun Ländern sind unsere Arbeitsurlauber heute willkommen“, freut er sich. „Wenn unsere jungen Leute, darunter vielleicht viele unserer zukünftigen Führer, ins Ausland gehen, entwickeln sie dort wirklich ihre eigenen Fähigkeiten, wovon Taiwan nach ihrer Rückkehr profitiert. Überdies fungieren sie als unsere inoffiziellen Botschafter und tragen somit zu unserer sanften Macht und nationalen Stärke bei.“

Lin Yen-chieh zählte 28 Lenze, als er im Oktober 2010 für Arbeitsferien in Kanada Taiwan verließ. Vor seiner Abreise hatte er Filmwissenschaften an einer Hochschule in Taipeh studiert und als Regisseur und Produzent für Werbefilme und andere Videos gearbeitet. Rückblickend beurteilt er seine Erfahrung in Nordamerika als einen Höhepunkt in seinem Leben, mit lebhaften Erinnerungen an die Menschen, denen er dort begegnete, und an Erfahrungen und Orte, die er besuchte. Den größten Teil seines Aufenthaltes verbrachte er in Vancouver, und er arbeitete in Japan- und Hongkong-Restaurants als Kellner, außerdem war er Kameramann bei einer Fernsehstation und Assistenz-Designer bei einem Schildermacher. „Meine Englischkenntnisse verbesserten sich rasch, und ich sog neue Dinge auf wie ein Schwamm“, behauptet er. „Anders als in Taiwan kam ich mir nicht so vor, als ob ich ,arbeitete‘. Es war eigentlich eher so, als ob ich neue Dinge erfuhr, fast wie ein Spiel, und ich wurde noch dafür bezahlt.“

Lin arbeitet momentan an einem Dokumentarfilm über vier Taiwaner, die für Arbeitsferien nach Kanada gehen wollen, und er rechnet damit, dass der Streifen, der in Taiwan und Kanada gedreht wird, Anfang 2014 fertig sein wird. Lin hielt nach Vielfältigkeit Ausschau, als er die vier Protagonisten des Films — einen Krankenhaus-Physiotherapeuten, einen Filmproduzenten, einen angehenden Profimusiker und einen Theatergruppenverwalter — aus einem Pool von rund 50 Kandidaten auswählte. „Sie sind entweder ziemlich jung oder schon einen Tag älter, frischgebackene Hochschulabsolventen oder Leute, die bereits eine Weile berufstätig waren, Menschen mit hohem Einkommen oder Typen, die nur mit Mühe über die Runden kommen“, beschreibt er die von ihm ausgewählten Kandidaten. Gemeinsam sei den Vier, dass sie alle ehrgeizige Ziele hätten und sich dafür interessieren, Möglichkeiten über ihr vertrautes Alltagsleben in Taiwan hinaus zu erkunden.

Natürlich geben Taiwans Arbeitsferien-Abkommen auch den Bürgern aus den Partnerländern die gleichen Möglichkeiten für Leben und Arbeiten auf der Insel. Woo Min-young, ein 26-jähriger Hochschulstudent aus Südkorea, hält sich derzeit für ein Jahr Arbeitsferien in Taiwan auf und will bis Mai dieses Jahres bleiben. Woo hat als Kellner in einem Restaurant gearbeitet, doch für seine Zeit hier hat er noch ein anderes Ziel. „Ich möchte Mandarin-Chinesisch lernen“, verkündet der Wirtschaftsstudent und fügt hinzu, er halte es für bedeutsam, die Sprache neben Englisch und Japanisch zu beherrschen.

Woo, der 2010 Arbeitsferien in Australien verbracht hatte, macht seine Zeit in Taiwan Spaß. „Mir gefällt Taiwan besser als die meisten anderen Orte, die ich besucht habe“, erklärt er. „Ich habe Taiwan als sehr gastfreundlich erlebt, die Menschen hier sind immer nett und lächeln.“ Bekannte aus Australien, Kanada und Japan, die in der gleichen Jugendherberge im Osten von Taipeh wie er logieren, haben sich ähnlich geäußert.

Ungleicher Austausch

Während über 330 Taiwaner zwischen Januar 2011 und August 2012 für Arbeitsferien Südkorea besuchten, ist Woo einer der ersten Südkoreaner, die seit dem Inkrafttreten des Abkommens zwischen beiden Ländern mit einem Arbeitsferien-Visum einreisten. Südkorea ist nicht Taiwans einziger Arbeitsferien-Partner, der viele junge Taiwaner anlockt, von wo demgegenüber vergleichsweise wenige Bürger zu Arbeitsferien nach Taiwan kommen. „Pro Jahr gehen über 10 000 junge Taiwaner zu Arbeitsferien ins Ausland, es kommen aber nicht so viele Ausländer zu diesem Zweck nach Taiwan“, enthüllt Jean Chang. Um mehr Ausländer herzulocken, sollte die Regierung für die Vorteile werben, die man hat, wenn man in Taiwan arbeitet und herumreist und gleichzeitig Chinesisch lernt, rät sie.

James Chang wiederum schreibt die geringe Zahl von Ausländern, die für Arbeitsferien nach Taiwan kommen, der relativ niedrigen Bezahlung im Land zu. Er forderte die Regierung auf, eine Behörde einzurichten, die mit dem Rat für Arbeitnehmerfragen (Council of Labour Affairs, CLA), dem Bildungsministerium, dem Außenministerium und dem Tourismusamt zusammenarbeitet, um sich dieses Problems anzunehmen.

Taiwan profitiert eindeutig von den Erfahrungen, welche seine Bürger durch Arbeit im Ausland gewinnen, gleichfalls nützlich sind die positiven Berichte von Ausländern, die zum Arbeiten und Herumreisen nach Taiwan kommen. Die Regierung ist emsig bestrebt, mehr Arbeitsferien-Abkommen mit Partnerländern zu schließen, und der Nutzen für alle Beteiligten sollte sich weiter erhöhen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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