28.04.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Geschichten vom Land

01.11.2013
Das Erziping-Gebiet im Yangmingshan-Nationalpark vor den Toren von Taipeh. (Foto: Chang Su-ching)
Im vergangenen Jahr begann die Chinesische Gesellschaft für Naturfotografie (Chinese Society of Natural Photography, CSNP) damit, dem Yangmingshan-Nationalpark in den Außenbezirken von Taipeh bei ökologischer Interpretation und Bildungsprojekten zu helfen. „In der Vergangenheit hatten die Taiwaner beim Wissen über ihre Umwelt klaffende Lücken“, enthüllt der CSNP-Vorsitzende Wu Yin-shuei. „Doch man kann die Menschen dazu inspirieren, mehr über ihre Umgebung erfahren zu wollen, sich mehr daran zu erfreuen und sie zu schützen.“ Im Juni dieses Jahres organisierte die CSNP das Schmetterlingsfest auf dem Yangmingshan, ein jährliches Ereignis, das seit 2002 stattfindet und die Massen-Migration Zehntausender von Danainae-Schmetterlingen feiert, die von Wasserdost-Blüten (Eupatorium) im Datun-Naturpark, dem Erziping-Pfad und anderen Flecken im Park angelockt werden. Das Festival umfasst Konzerte, Ausstellungen, Vorträge und geführte Schmetterlings-Beobachtungsexkursionen.

Die Regierung strebt Partnerschaften mit Nichtregierungsorganisationen (Nongovernmental Organization, NGO) aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft an, um in der Gesellschaft das Bewusstsein für Nationalparks zu fördern. Es ist eine Rolle, welche Gruppen wie die CSNP, die 1989 entstand und ihren Sitz in Taipeh hat, nur zu gerne spielen. Taiwan weist eine höhere topografische Vielfalt und einen größeren Artenreichtum auf als die meisten Länder der Welt, betont Wu und ergänzt zum Vergleich: „Man kann in den USA den ganzen Tag lang herumfahren, doch die Naturlandschaft sieht immer ungefähr gleich aus.“ In Taiwan kommen über 400 Schmetterlingsarten vor, fast zehn Mal so viele wie im fünf Mal größeren Großbritannien, und die über 600 Farnarten in Taiwan übertreffen die Farnarten in ganz Europa um das Doppelte, so Wu. Mit solchen Naturschätzen verdienten es Nationalparks, als Konzept und auch als Institution gefördert zu werden, fährt er fort.

Wang Ching-ming, Professor am Graduierteninstitut für Umwelterziehung der Pädagogischen Hochschule Taiwan (National Taiwan Normal University, NTNU) in Taipeh, hält die Beteiligung von NGOs für wichtig, weil der Unterhalt von Nationalparks vom Wesen her interdisziplinär ist. „Die Aufgabe umfasst einen weiten Bereich von Fragen über natürliche Umwelt und kulturelle Umgebung“, unterstreicht er. „Es geht um viel mehr als nur um spezifische Ziele wie zum Beispiel Vogel- oder Fischarten.“ Wangs Forschungsgebiete umfassen unter anderem das Studium des Formosa-Binnenlachses (Oncorhynchus masou formosanus), einer bedrohten Art, die im zentraltaiwanischen Nationalpark Shei-Pa vorkommt. Der Professor ist eines von 45 Mitgliedern der Nationalpark-Planungskommission im Innenministerium und leitet den Nationalparkverband Taiwan, eine halboffizielle gemeinnützige Organisation aus Regierungsvertretern, Gelehrten und Fachleuten unterschiedlicher Bereiche wie Biologie, Botanik, Geologie, Geschichte, Ureinwohnerstudien und Meeresstudien.

Mit über 600 Einwohnern pro Quadratkilometer weist Taiwan eine der höchsten Bevölkerungsdichten auf diesem Planeten auf. Tatsächlich sind die meisten Gemeinden sogar noch deutlich dichter besiedelt, weil der Anteil von Land, das sich für den Bau von Wohnsiedlungen und Ausübung von Landwirtschaft eignet, weniger als ein Drittel von Taiwans Fläche ausmacht. Die rasante Wirtschaftsentwicklung des Landes in den siebziger Jahren führte unvermeidlicherweise zu Landentwicklung in nicht-urbanen Gebieten. Solche Landnutzung war bis zu den achtziger Jahren kaum reguliert, erst nach und nach wurden grundlegende Bestimmungen über Land außerhalb städtischer Rechtsprechung formuliert. 1984 wurde der erste Nationalpark des Landes in Kenting an Taiwans Südspitze eingerichtet, in den zwei Jahren danach folgten drei weitere Nationalparks mit dem Zweck, die natürliche Umgebung und historische Stätten zu schützen sowie Raum für Erholung und Forschung zu bieten. „Die Einrichtung von Nationalparks bedeutet, dass die Regierung die Verwaltung von Land mit natürlichem und sozialem Wert anerkennt und sich langfristig darum kümmert“, interpretiert Wang.

Kniffliges Gleichgewicht

Nach Wus Ansicht haben viele Länder bei der Entwicklung von Nationalparks anfänglich der natürlichen Umgebung Vorrang gegenüber den Bedürfnissen der örtlichen Gemeinden eingeräumt, wie etwa in den USA, die 1872 Yellowstone als ersten Nationalpark der Welt gründeten. In den Jahren seither wurden größere Anstrengungen unternommen, die Kluft zwischen Umweltschützern und Anwohnern zu verkleinern, insbesondere von Ureinwohnern, die in Schutzgebieten leben.

Der Taijiang-Nationalpark in Tainan umfasst ausgedehnte Feuchtgebiete, wo viele Zugvögel während ihrer Reise eine Ruhepause einlegen. (Foto: Chang Su-ching)

Taiwans Nationalpark-Managementsysteme haben sich in ziemlich ähnlicher Weise entwickelt, findet Lin Yih-ren, Dozent für Umweltwissenschaften und Direktor des Graduierteninstituts für Geisteswissenschaften in Medizin an der Taipei Medical University. Taiwan wurde beträchtlich von der Nationalparkverwaltung im US-amerikanischen Stil beeinflusst, die dazu neigt, den „Wildnis“-Aspekt der Parks gegenüber menschlicher Besiedlung oder Landeigentum dort hervorzuheben, verrät er. „Wenn man in Taiwan [vom Fuß eines Berges] hinaufschaut, sieht man bei steigender Höhenlage immer weniger Menschen“, beschreibt er. „Schließlich erreicht man gemäßigte Urwälder ungefähr wie im Yosemite-Nationalpark in den USA.“ Tatsächlich sei Taiwan indes mehr wie Großbritannien, vergleicht Lin, ebenfalls eine Insel mit begrenztem Raum. In Großbritannien befinden sich mehrere Nationalparks auf Land, das vor der Einrichtung der Parks erkennbar besiedelt war und wo man den Verbleib örtlicher Gemeinden gestattete, etwa im Lake District. „Man muss sowohl dem Schutz der Naturschönheit als auch den Gemeinden von Menschen, die dort leben und arbeiten, Aufmerksamkeit schenken“, empfiehlt er.

Lin promovierte an der University of London im Fach Geografie und unterrichtete zwischenzeitlich an der Abteilung für ökologische Geisteswissenschaften an der Providence University im zentraltaiwanischen Taichung, wo er das Forschungszentrum für austronesische Völker der Lehranstalt leitete. Er hat beachtliche Erfahrung bei Arbeit mit NGOs, die sich auf Ureinwohnerrechte oder Umweltschutzarbeit konzentrieren, und er zählt gemeinsam mit Anwohnern örtlicher Ureinwohnergemeinden zu den Vertretern, die von Shei-Pas Zentrale eingeladen wurden, sich an Gesprächen über Verwaltungspraktiken im Park zu beteiligen. NGOs engagieren sich oft für Landschutz und ähnliche Dinge, lange bevor ein Nationalpark offiziell gegründet wird, lobt Lin. Sobald ein Park eingerichtet wird, können nützliche Kenntnisse und Fertigkeiten von den Traditionen und der Weisheit der Anwohner gewonnen werden, fügt er hinzu.

Zur Zeit werden in Taiwan 14 Ureinwohnerstämme austronesischer Herkunft anerkannt, die zusammen ungefähr 2 Prozent von Taiwans Gesamtbevölkerung ausmachen. Viele der traditionellen Dörfer von Ureinwohnergemeinden liegen auf dem Gebiet von Nationalparks in Bergregionen wie Shei-Pa, im Taroko-Nationalpark in Osttaiwan, Yushan-Nationalpark in Zentraltaiwan und im vorgeschlagenen Makauy-Nationalpark in Nordtaiwan.

Parks und Menschen

Nach Lins Überzeugung lautet eine entscheidende Frage für Taiwans Nationalparks, wie sie ihre Beziehungen mit Anwohnern wieder aufbauen können — ein Schritt, mit dem das Kulturerbe, das hierzulande von prähistorischen Zeiten bis zur Herrschaft der Qing-Dynastie (1644-1911, in Taiwan 1683-1895) über die japanische Kolonialzeit (1895-1945) bis zur heutigen Zeit bestand, anerkannt würde. „Es sind nicht einfach nur Parks für Tiere und Pflanzen, sie sind auch voller ,Spuren‘, die viele unterschiedliche Gruppen von Menschen hinterlassen haben“, wirbt er. „Sie sind keine abgeschlossenen Systeme und sollten auf der Grundlage von Nachhaltigkeit für die Umwelt und die Gesellschaft gleichermaßen betrieben werden.“

„Bei Nationalparks im Hochgebirge ist es wesentlich, mit den örtlichen Ureinwohnern zu kommunizieren“, sinniert Wang. „In Nationalparks mit urbanem Umfeld geht es darum, sich mit örtlichen kommerziellen Interessen zu verständigen.“ Nach der Gründung des Yangmingshan-Nationalparks im Jahr 1985 zum Beispiel fielen die Anwohner unters Nationalparkgesetz, welches das Pflücken oder Entfernen jeglicher Vegetation innerhalb eines Nationalparks verbietet. Ortsansässige Bauern hatten etwa jahrzehntelang wilde Bambussprossen geerntet, deswegen traf das Verbot ihren Lebensunterhalt empfindlich. Nach mehreren Jahren wurde eine Einigung zwischen der Nationalparkzentrale und den örtlichen Gemeinden erzielt, gemäß der anerkannten Bauern erlaubt wurde, jedes Jahr in einem Zeitraum von 45 Tagen zwischen April und März Nitida-Bambussprossen zu sammeln. „Das war eine professionelle Lösung, die möglich wurde durch botanische Kenntnisse, welche darauf hindeuteten, dass das Sammeln von Bambussprossen das Wachstum von Nitida-Bambus (Fargesia nitida) nicht in Mitleidenschaft zöge und sogar hilfreich sein könnte“, erläutert Wu.

Studierende und Anwohner in Tainan spielen den Sieg von Koxingas Truppenverbänden gegen die Holländer 1661 nach. (Foto: Courtesy Cai Deng-jin)

Ein anderes Modell für Kooperation könnte der Taijiang-Nationalpark bieten, der 2009 gegründet wurde und damit der jüngste der acht Nationalparks im Taiwangebiet ist. Zu dem Park in der südtaiwanischen Stadt Tainan gehört ein ausgedehntes Feuchtgebiet, das für den bedrohten Schwarzgesichtigen Löffelreiher (Platalea minor) einen der wichtigsten Überwinterungs-Zufluchtsorte der Welt darstellt. In Taijiang befinden sich überdies manche historische Stätten wie Hafenanlagen, die von den vielen Han-chinesischen Einwanderern im 17. Jahrhundert, welche die frühesten nennenswerten Han-Siedlungen Taiwans aufbauten, genutzt worden waren.

Cai Deng-jin lebt in Deer Ear (Hirschohr), einer Gemeinde auf dem Gebiet des Taijiang-Nationalparks, die ihren Namen einer örtlichen Wasserstraße verdankt, welche von weitem wie das Ohr eines Hirsches aussieht, einer Paarhufer-Art, die einst in der Gegend verbreitet war. Cai leitet außerdem den Entwicklungsverband der Gemeinde Deer Ear. Ab Mitte der neunziger Jahre arbeitete die Gruppe an der Wiederentdeckung der Lokalgeschichte von Deer Ear, eines von vielen Gemeinde-Entwicklungsprojekten, die vom Rat für Kulturangelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA: im Mai vergangenen Jahres zum Kulturministerium aufgewertet) im ganzen Land ermuntert wurden. Gerade das Deer Ear-Gewässer ist berühmt als die Stelle, wo die Flotte von Zheng Chenggong (鄭成功, 1624-1662) — auch unter dem Namen „Koxinga“ (國姓爺) bekannt — im Jahr 1661 landete. Koxingas Militärkontingent besiegte die in Tainan lagernden niederländischen Kolonialtruppen und richtete die erste Han-chinesische Verwaltung auf der Insel ein. Tainan blieb das wirtschaftliche und politische Zentrum Taiwans, bis Ende des 19. Jahrhunderts eine Machtverschiebung zur nordtaiwanischen Stadt Taipeh stattfand. Der Ankunft von Koxingas Flotte wird jedes Jahr durch den Deer Ear-Verband feierlich gedacht, und mit aus diesen Aktivitäten ging im Jahr 2002 das Koxinga-Kulturfest der Stadtverwaltung Tainan hervor.

Im April dieses Jahres wurde die Gedenkveranstaltung von Deer Ear anlässlich Koxingas siegreicher Expedition von der Taijiang-Nationalparkzentrale und dem Kulturamt der Stadt Tainan gesponsert. Hochschulstudierende und Anwohner, in traditionelle Militäruniformen gekleidet, spielten die Navigation an der Deer Ear-Mündung nach und marschierten zum ehemaligen holländischen Fort im heutigen Hafen Anping.

Cai betrachtet die Partnerschaft seiner Organisation mit der Nationalparkzentrale als Erweiterung früherer Gemeindeentwicklungsprojekte. In den fast zwei Jahrzehnten seit Beginn der Projekte hat sich der Bereich der vielen Initiativen an der Basis vom anfänglichen Augenmerk auf kulturelle und historische Themen vergrößert und erfasst nun auch Aspekte wie Naturlandschaften und Ökotourismus. Cai: „Die Einrichtung eines Nationalparks bedeutet, dass die Alteingesessenen mehr Beschränkungen hinnehmen müssen, aber wir haben gelernt, besser mit der Taijiang-Zentrale zusammenzuarbeiten, die wiederum gelernt hat, den Austausch mit den örtlichen Gemeinden zu verbessern.“

Wenn Nationalparks, wie Wang es ausdrückt, „die Geschichte von Taiwans Land erzählen“, dann können NGOs dabei helfen, diese Geschichten von einem anderen Blickwinkel aus und mit verschiedenen Stimmen aus der Gesellschaft zu erzählen. „Ein Nationalpark ist wie ein Diamant, der von der Natur, der Ökologie, der Umwelt und Geschichte geschliffen wurde“, versichert Wang. Durch die Bemühungen von NGOs können solche Diamanten daheim und in der internationalen Gemeinschaft noch heller leuchten und funkeln.

(Deutsch von Tilman Aretz)

Meistgelesen

Aktuell