07.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Kehraus am Meeresufer

01.01.2014
Eine Strandreinigung 2012 im osttaiwanischen Hualien, organisiert von der Kuroshio-Ozeanbildungsstiftung. (Foto: Courtesy Kuroshui Ocean Education Foundation)
Am Morgen eines Wochentages im September vergangenen Jahres war im Büro der Wildnis-Gesellschaft (Society of Wilderness, SOW) im nordtaiwanischen Hsinchu mehr Betrieb als üblich. Gut 30 Leute, durchweg Freiwillige, hatten sich in der örtlichen Niederlassung der Nichtregierungsorganisation (NGO), deren Zentrale sich in Taipeh befindet, versammelt und bereiteten sich auf die Internationale Küstenreinigung (International Coastal Cleanup, ICC) vor, eine Müllsammelaktion am Strand, die zwei Wochen später am 28. September durchgeführt werden sollte. Die Mitglieder der Ortsgruppe planten, Abfall von einem Strandabschnitt unweit Hsinchus Fischereihafen Nanliao zu entfernen. „Es könnte an dem Tag recht windig sein, deswegen bringt bitte eure Sonnenbrillen und Schals mit“, empfahl Yvonne Cheng, eine erfahrene Freiwilligen-Führerin und Öko-Pädagogin der Hsinchu-Ortsgruppe. „Und wir werden nur Müll auflesen. Keine natürlichen Dinge aufheben wie Treibholz oder leere Muscheln, weil dort möglicherweise kleine Tiere Schutz suchen.“

Die ICC geht zurück auf eine Strandreinigung im Jahr 1986, die von Angehörigen der Ocean Conservacy organisiert worden war, einer gemeinnützigen Umweltschutzorganisation in Washington DC. Damals hatte man Müll an einem Uferabschnitt von Texas aufgesammelt. Mit dem Start von ICC breitete sich die Bewegung über den gesamten Erdball aus.

Abfall auflesen ist indes lediglich ein Teil der Arbeit, welche ICC-Freiwillige durchführen, denn es obliegt ihnen auch, über jedes aufgehobene Abfallstück Buch zu führen. Im Einklang mit den ICC-Bestimmungen wird jedes Stück in einer von fünf Herkunftskategorien verzeichnet: Abfall, medizinischer und persönlicher Hygienebedarf, Ozean- und Wasserweg-Aktivität, Ufer- und Freizeit-Aktivität, Rauchen. Nach dem Müllsammeln werden die Statistiken zur Auswertung an Ocean Conservancy geschickt.

Ocean Conservancy sammelt die bei Müllsammelaktionen angefallenen Daten und erstellt dann einen jährlichen Bericht über die Menge und Art von Abfall, der an Stränden auf der ganzen Welt gesammelt wurde. Die Organisation benutzt die Berichte, um zum Gebrauch von biologisch abbaubaren und wiederverwendbaren Behältern und Produkten aufzurufen, Kampagnen zur Steigerung des Verschmutzungsbewusstseins zu starten und Gesetzgebung zum Schutz der Meere zu fördern.

In den jüngsten Jahren fand der ICC-Tag immer am dritten Samstag im September statt. Während die Veranstaltung an dem festgelegten Tag weltweit Interesse der Medien erregt, sind bei Ocean Conservancy auch Daten willkommen, die bei Säuberungsaktionen an einem beliebigen Tag im September oder Oktober zusammengetragen wurden. Seit Beginn der Bewegung 1989 haben fast 9 Millionen Freiwillige rund 65,8 Millionen Kilo Müll an Tausenden von Stellen in aller Welt gesammelt.

Die Daten von ICC zeigen, dass fast 76 Prozent des gesamten Abfalls, der 2012 an Taiwans Stränden aufgesammelt wurde, durch Ufer- und Freizeit-Aktivität erzeugt worden war, die größte Einzelkategorie. Die Kategorie Ozean- und Wasserweg-Aktivität, zu der Fischerei gehört, kam mit 14 Prozent des Abfalls auf Rang zwei. „Man möchte meinen, dass Menschen, die auf dem Meer ihren Lebensunterhalt verdienen, das Meer am meisten lieben, doch die Zahlen zeigen, dass das eindeutig nicht stimmt“, urteilt Cheng.

Die Strandreinigungsbewegung begann in Taiwan im Jahr 2000, als die Kuroshio-Ozeanbildungsstiftung (Kuroshio Ocean Education Foundation, KOEF), die ihren Sitz im osttaiwanischen Hualien hat, mit dem Einsammeln von Unrat an örtlichen Ufern begann. „Die KOEF führte damals Säuberungen durch, vor allem in der Region Hualien“, rekapituliert Lai Wei-jen, Manager der Organisation. „Wir hoben aber nur den Müll auf und hielten keine Daten nach der ICC-Methode fest. Das konnte nicht zu wirklichen Lösungen der Meeresverschmutzung führen.“ Die KOEF war 1998 mit den Hauptzielen gegründet worden, Wale und auch allgemein Taiwans Meeresökologie zu schützen. „Damals stimmten wir uns nicht mit ICC ab, weil es außer uns in Taiwan nicht viele Leute gab, die Strände reinigten“, erzählt Lai. „Selbst wenn wir Daten festgehalten hätten, wäre daraus kein sehr genaues Bild der Lage entstanden.“

2004 begann KOEF, mit ICC zu koordinieren und Reinigungsdaten an Ocean Conservancy zu schicken. Angeregt durch die Führung von KOEF begannen zu jener Zeit andere Umwelt-NGOs, ihr Augenmerk auf Meeresverschmutzung zu richten. Der nächste Schritt kam mit der Bildung der Ozeansäuberungsallianz Taiwan im Jahr 2010, einer Gruppe, zu der KOEF, die elf einheimischen SOW-Ortsgruppen, der Umwelt-Informationsverband Taiwan (Taiwan Environmental Information Association, TEIA) in Taipeh, das Nationalmuseum für Meereswissenschaften und –technologie im nordtaiwanischen Keelung und die Tainan Community University in Südtaiwan gehören.

Seitdem sind Strandreinigungen in Taiwan richtig in Schwung gekommen. Im September und Oktober 2012 zum Beispiel nahmen sich fast 7000 Freiwillige die Ufer des Landes vor. „Es sind mehr Menschen bereit, ihren Teil in der Bewegung zu leisten, als ich erwartet hätte“, wundert sich die TEIA-Führungskraft Sun Hsiu-ju. Im April dieses Jahres beschloss Suns Verband, den Schwerpunkt der Säuberungsbemühungen auf einen Strand in Nordtaiwan zu verlegen, wo Freiwillige seitdem jeden Monat Meeres-Unrat aufsammeln und verzeichnen. Die NGO hatte ursprünglich geplant, eine Gruppe von 30 Freiwilligen zu organisieren, um den Strand im Oktober vergangenen Jahres zu säubern, erhöhte die Obergrenze dann aber auf 50, nachdem so viele Bewerber ihr Interesse bekundeten.

„Ich denke, die Bewegung gewinnt deswegen an Beliebtheit, weil so ziemlich jeder die Qualifikation besitzt, ein Strandreiniger zu sein“, sinniert Lai. „Man braucht kein Fachwissen oder professionelle Kenntnisse, um diese Aufgabe zu erfüllen. Außerdem ist die Landschaft am Strand meistens schön.“

„Ich liebe das Meer, deswegen bin ich hergekommen, um mitzuhelfen“, verkündet Stan Hsiao, ein Student im Landkreis Miaoli, der an Hsinchu grenzt, als Erklärung für seinen Wunsch, bei der Reinigung des vergangenen Jahres am Fischereihafen Nanliao mitzumachen. Hsiao hatte zuvor noch nie an solchen Umweltaktivitäten teilgenommen, doch nun will er immer dabei sein, wenn Freiwillige gebraucht werden. „Die Erfahrung öffnete mir die Augen, weil ich vorher nie von ICC und dem globalen Verbund gehört hatte“, fährt er fort.

Pädagogische Bemühungen wie Filmvorführungen spielten eine maßgebliche Rolle dabei, das Bewusstsein für die Meeresökologie in Taiwan zu erhöhen. Nachdem sie etwa Dokumentarfilme wie Plastic Shores von dem in London lebenden freischaffenden Filmemacher Edward Scott-Clarke gesehen hatten, beschlossen viele der Zuschauer, sich freiwillig zu Strandreinigungen zu melden, freut sich Cheng. Scott-Clarkes 80-minütiger Film war im März 2012 angelaufen und zeigte schockierende Beispiele von Meeresverschmutzung, die durch Plastik-Unrat hervorgerufen worden war. Gleichzeitig hat ein dreiminütiger Film des US-amerikanischen Umweltschützers Wayne Sentman über Albatrosse auf dem Midway-Atoll im Pazifik eine ernüchternde Wirkung auf die Zuschauer, wenn sie erfahren, dass die Vögel im Meer treibenden Abfall wie Plastikflaschendeckel, Feuerzeuge und so weiter zu sich genommen haben. Beide Filme werden häufig bei Anlässen wie Versammlungen von der SOW-Ortsgruppe Hsinchu von örtlichen Meeresschutzgruppen gezeigt und besprochen.

Im Herbst 2012 organisierte die südtaiwanische Tainan Community University eine Strandreinigung in Tainan. (Foto: Courtesy Tainan Community University)

Sich wandelndes Verhalten

„Wenn wir mit Freiwilligen arbeiten, um Strände zu säubern und den Abfall zu kategorisieren, versuchen wir, ihnen beizubringen, dass wir unser Verhalten ändern müssen, damit wir die Meere retten“, sagt Lai. Cheng von SOW nennt das Beispiel von Plastik-Einkaufstüten, um seine Botschaft zu übermitteln. „Sie verwenden eine Plastiktüte nur für vielleicht 20 Minuten, also die Zeit, die man vom Lebensmittelgeschäft bis nach Hause braucht, und schmeißen sie dann weg“, führt sie aus. „Es kann aber 20 Jahre dauern, bis die Tüte von der Umwelt zersetzt ist.“

Tatsächlich haben die Reinigungsaktionen kreative Ideen für Produkte inspiriert, welche die Meeresverschmutzung vermindern können. Eine Methode, die große Zahl weggeworfener Plastikstrohhalme, die auf vielen Stränden in Taiwan herumliegen, zu senken, wäre zum Beispiel, die Massenproduktion und Verwendung wiederverwendbarer Strohhalme aus rostfreiem Stahl zu fördern, regt Sun an.

Zusammen mit Kampagnen zur Erziehung der Öffentlichkeit haben Veränderungen bei der Firmen- und Staatspolitik dazu beigetragen, die in Taiwan erzeugte Müllmenge zu reduzieren, was sich auch auf die Menge des Abfalls auswirkt, die man bei den Strandsäuberungen findet. Eine der jüngsten Veränderungen ist der Versuch, den Menschen den Gebrauch von Einweg-Trinkbehältern auszureden. Seit dem Jahr 2011 zum Beispiel sind Getränkeläden aufgrund von Bestimmungen, welche die Umweltschutzverwaltung (Environmental Protection Administration, EPA) — eine Behörde in Ministeriumsrang — verfügt hatte, verpflichtet, Kunden, die ihre eigenen Becher oder Behälter mitbringen, niedrigere Preise zu bieten, so Lai. Heute kostet eine kleine Tasse Kaffee in einem rund um die Uhr geöffneten Kleinsupermarkt 25 NT$ (62 Cents), wenn der Becher vom Laden kommt, wogegen Kunden mit eigenem Behälter für die gleiche Menge Kaffee nur 22 NT$ (55 Cents) bezahlen.

Natürlich gehen die langfristigen Bemühungen der Zentralregierung, Recycling zu fördern, weit über Kaffeebecher hinaus, und diese früheren Programme halfen zudem indirekt dabei, die Menge von Müll, der Taiwans Ufer verunziert, zu vermindern. Im Jahr 2002 zum Beispiel verhängte EPA Beschränkungen über die kostenfreien Plastiktüten, welche Geschäfte den Kunden für ihren Einkauf bieten dürfen. Seit 2006 müssen alle Haushalte in Taiwan ihren Abfall in Wiederverwertbares, Küchenabfälle und allgemeinen Müll trennen, und seit 2007 sind in allen Regierungsbehörden und Schulen Einweggeschirr, -besteck und Pappbecher verboten.

Lokalverwaltungen streben gleichfalls danach, ihren Teil zu leisten, und haben in den jüngsten Jahren Strandreinigungen organisiert, doch nach Lais Ansicht sind solche Kampagnen gelegentlich fehlgeleitet. „Die Verwaltungen versuchen in der Regel, mehr Teilnehmer zu ihren Aktionen anzulocken, indem sie kleine Belohnungen wie T-Shirts oder Mützen bieten, doch diese Belohnungen verletzen den Geist der Freiwilligkeit“, tadelt er. Gleichzeitig hat sich erwiesen, dass die Freiwilligen bei Aktionen von Lokalverwaltungen die Klassifizierungsformulare schlampig ausfüllen, fügt er hinzu. Noch schlimmer ist, dass solche Aktionen manchmal mehr Müll erzeugen, als eingesammelt wird, geißelt Lai.

Ein weiteres Problem ist, dass staatlich organisierte Säuberungen häufig das Gesamtgewicht des gesammelten Abfalls hervorheben, doch solche Zahlen kann man leicht steigern, indem man zum Beispiel einfach einen einzelnen alten Reifen dazunimmt. Die Berechnung des Gewichts anstelle der Aufzeichnung der Stückzahl von Abfall, die durch spezifische Handlungskategorien entstanden, liefert nicht die Daten, die man braucht, um Trends im Verbraucherverhalten zu ermitteln und anzupacken. Wenn Gewicht die einzige Erwägung wäre, dann wäre das Problem der durch Einweggeschirr verursachten Verschmutzung augenscheinlich unwesentlich, da solche Artikel meist aus Pappe oder Styropor bestehen. Im Jahr 2012 jedoch übertraf die Zahl von Einweg-Schalen, Bechern und Tellern, die an Taiwans Stränden aufgesammelt wurden, laut KOEF Gegenstände aller anderen Kategorien. Durch diesen Trend alarmiert, haben NGOs begonnen, die Wege zu untersuchen, wie Verbraucher solches Geschirr benutzen und wegschmeißen, und daneben werden mögliche Maßnahmen geprüft, ihren Gebrauch zu reduzieren. „Wegen solcher Umstände versuche ich, Lokalverwaltung dazu zu bewegen, keine Strandreinigungsaktivitäten zu organisieren, die meiner Ansicht nach am besten von NGOs ausgeführt werden“, begründet Lai.

Schwierige Entsorgung

Während Strandsäuberungen an Beliebtheit gewonnen haben, ist das Problem, wo der gesammelte Unrat hin soll, noch schlimmer geworden. Nach Lais Angaben ist der an Stränden aufgelesene Abfall häufig von Seewasser getränkt und daher für Recycling ungeeignet, deswegen muss er im Einklang mit den Vorschriften der Lokalverwaltung entsorgt werden. Freiwillige bringen den Unrat gewöhnlich zu einer Verladezone in der Nähe der Säuberungsstätte, wo er von Fahrzeugen der Müllabfuhr abgeholt wird, welche vom örtlichen Gemeindebüro geschickt wurden. Die steigende Zahl von Strandreinigungen bedeutet, dass mehr Müll gesammelt wird, und das wird laut Lai für die Beschäftigten der städtischen Müllabfuhren zunehmend zur Belastung.

Trotz solcher Probleme hat die Strandsäuberungsbewegung eine weiterhin steigende Zugkraft, und NGOs nutzen diesen Schwung, um das Bewusstsein dafür zu erhöhen, dass die Meeresökologie behütet werden muss. Im Jahr 2012 zum Beispiel startete TEIA ein 10-jähriges Feldforschungsprojekt, das die Küstenzonen in ganz Taiwan schützen soll, teilt Sun mit.

Es wurden auch Zweifel laut, ob das TEIA-Projekt im dicht bevölkerten Westteil Taiwans im Rahmen seiner Forschungsziele überhaupt gesunde Strände finden könnte. „Viele Menschen halten Taiwans Strände an der Westküste bereits für tot, weil die Gegend hochgradig industrialisiert ist“, kolportiert Sun. „Man kann auf Stränden hier aber immer noch viele Tiere in freier Wildbahn beobachten. Und die meisten Menschen denken, die Ostküste wäre anders, weil sie nicht so dicht besiedelt ist, doch auch dort gibt es Druck durch die Fremdenverkehrsentwicklung und den Bau von Ferienhotels.“

Mitte September vergangenen Jahres, kurz vor dem Internationalen Küstenreinigungstag, gab TEIA die Ergebnisse der ersten Phase seines Projektes bekannt, eine einjährige Studie, welche die Gesundheit der Küstengebiete einschätzen sollte. Die Ergebnisse ermittelten neun Gebiete, die vergleichsweise einzigartig und unberührt sind, jedoch von Entwicklungsprojekten bedroht sind oder nicht gut verwaltet werden. Natürlich enthielt die Studie auch mehrere Strände, die durch Unrat, Entwicklung und unpassende Wellenbrecher-Konstruktionen in Mitleidenschaft gezogen wurden, und die NGO plante, gegen Ende 2013 eine Liste mit einigen der am schwersten beschädigten Stätten vorzustellen. „Indem die Menschen einen Blick auf die hässlichere Seite von Taiwans Meeresufern werfen können, hoffen wir, die Regierung und die Öffentlichkeit dazu zu bringen, das Problem ernster zu nehmen“, betont Sun.

Solche Aktionen sind notwendig, weil die Probleme von Meeresabfall und beschädigten Uferzonen nicht dadurch verschwinden, dass man sie ignoriert. Es ist nicht zu leugnen, dass die Gesundheit mancher Strände in Taiwan bei weitem nicht ideal ist, doch die Anstrengungen von engagierten Umweltschützern liefern Grund genug, in Zukunft auf sauberere Küsten hoffen zu dürfen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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