07.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Die Balance neu austarieren

01.01.2014
Staatspräsident Ma Ying-jeou (Mitte) am 8. März vergangenen Jahres bei einer Feier zum internationalen Frauentag im Taiwan-Frauenzentrum in Taipeh. (Foto: Central News Agency)
Am 23. Juli vergangenen Jahres wurden Taiwans Bemühungen, die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern, mit der Einrichtung des Ministeriums für Gesundheit und Soziales (Ministry of Health and Welfare, MOHW) und dessen untergeordneter Behörde, der Verwaltung für Sozial- und Familienangelegenheiten (Social and Family Affairs Administration, SFAA), erweitert. Als Ergebnis des laufenden Umbaus der Zentralregierung entstand MOHW durch die Verschmelzung des früheren Gesundheitsministeriums (Department of Health, DOH) mit der ehemaligen Abteilung für soziale Angelegenheiten im Innenministerium. Die neue SFAA besteht aus fünf Sektionen, welche sich mit dem Wohlergehen von Frauen, Kindern und Jugendlichen, Behinderten, Familien und Senioren befassen.

„Die Regierung ist entschlossen, sich auf integrierte Familiendienstleistungen zu konzentrieren“, versichert Chang Ching-li, Dozentin am Polizeikolleg Taiwan in Taipeh, wo Gleichberechtigungserziehung seit 2007 ein Pflichtkurs ist. Chang begrüßt solche institutionellen Fortschritte, weil in der Vergangenheit „kaum irgendwelche wesentliche Familienpolitik“ von der Regierung verfügt oder umgesetzt worden war. Sie weist darauf hin, dass Frauen, weil tendenziell die Pflege von Kindern und Senioren sowie die Hauptlast der Hausarbeit überwiegend auf ihre Schultern fallen, am meisten davon profitieren, wenn andere Familienmitglieder die erforderliche Unterstützung erhalten können wie Kinderpflege, Beschäftigung und Unterkunft. „Früher war es für Familien schwierig, im Labyrinth verschiedener staatlicher Behörden Hilfe zu suchen, doch heute ist es einfacher, unter dem zusammengefassten Familienfürsorgesystem des neuen Ministeriums Beistand zu erhalten“, lobt Chang.

Früheren Fortschritt für Frauen und Familien hatte es bereits im Januar 2012 gegeben, als die Abteilung für Gleichberechtigung der Geschlechter im Exekutiv-Yuan (行政院), also Taiwans Regierungskabinett oder Ministerrat, eingerichtet wurde und damit die erste offizielle Behörde der Zentralregierung war, die sich ausschließlich mit Geschlechterfragen befasst. Die Abteilung dient als ausführendes Organ des 35-köpfigen Komitees für Gleichberechtigung der Geschlechter (Gender Equality Committee, GEC), das Premierminister Jiang Yi-huah (江宜樺) untersteht. Die Ursprünge von GEC reichen zurück bis 1997, als im Exekutiv-Yuan das Komitee für die Förderung von Frauenrechten gebildet wurde. Wie im Vorgängergremium zählen zu den Mitgliedern von GEC Minister, Akademiker wie Chang und Führer von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Schwerpunkt auf Geschlechterangelegenheiten.

Laut Chang ist neben der Einrichtung eines angemessenen Rahmens mit Gesetzen und Bestimmungen ein weiterer guter Indikator für Gleichberechtigung in einer Gesellschaft die Aufteilung der Haushaltspflichten, denn viele Frauen müssen sich weiterhin daheim im Haushalt um mehr Dinge kümmern als Männer. Wenn Frauen nach wie vor im Haushalt gebunden sind und Familienmitglieder versorgen, von wie vielen von ihnen könne man erwarten, dass sie ihr Potenzial in der Welt erfüllten, fragt Chang und fährt fort: „Viele Studien zeigen, je besser das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern daheim und in der Gesellschaft ist, desto wettbewerbsfähiger und produktiver kann ein Land sein.“

Die Dozentin fungiert auch als Präsidentin der Taiwan-Koalition gegen Gewalt, die zur Zeit aus 32 Gruppen und Dutzenden von Fachleuten und Akademikern besteht. Die Koalition entstand 2004 als Allianz von elf sozialen Gruppen und nahm 2007 ihren heutigen Namen an. Zu ihren Bemühungen im Laufe der Jahre zählen die Überarbeitung von Gesetzen im Zusammenhang mit Serienverbrechen, darunter das Gesetz über die Verhütung von Sexualverbrechen, das 1997 verabschiedet worden war, und das 1998 verkündete Gesetz über die Verhütung häuslicher Gewalt. Die Koalition war zudem eine wichtige Kraft hinter der Verabschiedung des Gesetzes über die Verhütung sexueller Belästigung, das 2006 in Kraft trat.

Heute setzt die Koalition ihre Arbeit fort, bei der Überarbeitung und Umsetzung von Gesetzen zu helfen, um Frauen und Kindern besseren Schutz angedeihen zu lassen, da diese die häufigsten Opfer von sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt sind. „Die Opfer solcher Verbrechen sollten über ihre Rechte informiert und während des Gerichtsverfahrens vor weiterem Leiden geschützt werden“, mahnt Chang. „Das Gesetz sollte überdies Kinder schützen, die zu Zeugen häuslicher Gewalt wurden, was ein psychisches Trauma auslösen kann, mit dem sie Zeit ihres Lebens zu kämpfen haben.“ Im Jahr 2012 wurden in Taiwan etwa 110 000 Fälle häuslicher Gewalt aktenkundig, viele davon wurden von Kindern miterlebt, merkt sie an.

Im März vergangenen Jahres reiste Chiou Shu-ti (邱淑媞), heute Generaldirektorin der Gesundheitsförderungsverwaltung im MOHW, mit Vertretern taiwanischer NGOs nach New York, um an Veranstaltungen teilzunehmen, die parallel mit der jährlichen Konferenz der Frauenrechtskommission (Commission on the Status of Women, CSW) der Vereinten Nationen (United Nations, UN) stattfanden. Chiou war auch eingeladen worden, bei einem Seminar über die Eliminierung und Verhütung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu sprechen, welches das Taipeh-Wirtschafts- und Kulturbüro in New York organisierte, das sich als Schauplatz für einige der Veranstaltungen während der CSW-Konferenzen jenes Jahres zur Verfügung gestellt hatte.

Taiwanische Frauen werden aufgrund ihrer gewachsenen Kenntnisse und Fertigkeiten in vielen Bereichen zu Vorbildern. (Foto: Huang Chung-hsin)

Söhne bevorzugt

In den jüngsten Jahren kämpft die Regierung gegen eine „primäre, nackte Form der Gewalt gegen Frauen“, wie Chiou sich ausdrückt, und sie bezieht sich damit auf die Praxis von Abtreibungen, die nach der Bestimmung des Geschlechts des ungeborenen Kindes vorgenommen wurden. Sie macht darauf aufmerksam, dass Taiwan zwar in Gleichberechtigungsindices weltweit in der Regel auf höheren Plätzen rangiert, der Überschuss neugeborener Jungen gegenüber neugeborenen Mädchen höher ist als der internationale Durchschnitt. (Anmerkung der Redaktion: Am 5. Dezember 2013 gab das Innenministerium der Republik China bekannt, dass die Zahl von Frauen in Taiwan erstmals in über einem Jahrhundert höher sei als die der Männer.) Das Ungleichgewicht ist überwiegend das Ergebnis solcher Abtreibungen in einer Kultur, die traditionell eher Söhne als Töchter wünscht, denn in Han-chinesischen Gesellschaften bleiben Söhne nach der Eheschließung bei ihren Eltern, wogegen die Töchter nach der Heirat ihre Familie verlassen, berichtet sie.

Damit das Geschlechter-Gleichgewicht wiederhergestellt wird, ist es Ärzten in Taiwan seit 2011 verboten, im frühen Stadium einer Schwangerschaft das Geschlecht des ungeborenen Kindes zu bestimmen oder aufgrund des Geschlechts eine Abtreibung vorzunehmen. Daneben wurden soziale und pädagogische Programme gestartet, um die traditionelle Neigung für Söhne abzuschwächen. Durch diese Anstrengungen verbesserte sich Taiwans Geschlechterverhältnis auf 1074 neugeborene Jungen gegenüber 1000 neugeborenen Mädchen im Jahr 2012, wodurch schätzungsweise 1500 weibliche Babys gerettet werden konnten, freut sich Chiou. „Jedes Mädchen sollte als wertvoll gelten“, findet sie. „Bis es soweit ist, kann Taiwan es sich nicht leisten, bei den Bemühungen zum Schutz von Frauenrechten nachzulassen.“

Nach Changs Worten kommen die Versuche, gegen die durch geschlechterbedingte Konflikte ausgelöste Gewalt anzugehen und sie zu reduzieren, einer „kulturellen Revolution“ gegen traditionelle patriarchalische Normen, Sitten und Gebräuche gleich. Sie meint, die Förderung von Frauenrechten sei der Schwerpunkt des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (United Nations Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, CEDAW), das in die taiwanische Gesetzgebung eingegliedert wurde, als Anfang 2012 das Gesetz für die Umsetzung von CEDAW in Kraft trat. Im Einklang mit dem Gesetz beaufsichtigt die Gleichberechtigungsabteilung des Exekutiv-Yuan die Arbeit von Regierungsbehörden, Gesetze und administrative Maßnahmen, die mit durch geschlechterbedingte Konflikte ausgelöster Gewalt zu tun haben, mit den Bestimmungen von CEDAW zu harmonisieren.

In den vergangenen zehn Jahren war es überdies für Frauengruppen wie die Nationalallianz von Frauenverbänden Taiwan, die 2001 gegründet worden war, um die über 70 NGOs mit Schwerpunkt Geschlechterfragen des Landes zu koordinieren, ein wesentliches Ziel, sich für die Umsetzung und Konsolidierung von CEDAW in Taiwan einzusetzen. Mit CEDAW soll unter anderem die Aufmerksamkeit auf die zuweilen verborgene Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in Bereichen wie Kultur, Wirtschaft, Recht, Medien und Politik gelenkt werden. Das Übereinkommen ruft zu multilateralen und umfassenden Reformen auf, um solche Diskriminierung ebenso auszumerzen wie die zugrundeliegenden traditionellen und kulturellen Kräfte, welche den Boden für die Diskriminierung bereiten.

Chang nennt zum Beispiel die Diskriminierung in Taiwans Popkultursektor, und ihrer Beobachtung nach zeigen japanische und südkoreanische Fernsehdramen tendenziell eine erheblich größere Vielfalt bei weiblichen Rollen als die stereotypischen Darstellungen von Frauen, wie sie in Taiwan zu sehen sind. „Im Hinblick auf Geschlechterbewusstsein ist Taiwan tatsächlich eine liberalere Gesellschaft als Japan oder Südkorea, doch dieses Merkmal wird in unseren Fernsehdramen nicht angemessen reflektiert“, rügt sie. „Einheimische Produktionen zeigen nichts als Liebe, eine Art illusorischer Liebe. Sie neigen dazu, traditionelle Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu zementieren, wobei Gewalt manchmal als Ausdruck von Liebe betrachtet wird.“

„Ladies in Action“ Huang Yu-shan (vorne links), Yen Tzu-jung (vorne rechts) und Huang Yun-ting (Zweite von rechts hinten) präsentieren ihre LED-Anzeigetafel. Rechts hinten ihr Ratgeber Run Ray-shine. (Foto: Courtesy Macronix Education Foundation)

Unterhaltungsobjekte

Des Weiteren werden Frauen häufig als Unterhaltungsobjekte vorgeführt anstatt als Personen mit eigener Identität, brandmarkt Yang Fang-chih, Professorin an der Abteilung für Taiwanliteratur der National Cheng Kung University (NCKU) im südtaiwanischen Tainan. Yang ist eine bekannte feministische Forscherin im Bereich Popkultur und spielt eine führende Rolle im Zentrum für Geschlechter- und Frauenstudien der NCKU.

Die Gelehrte weist darauf hin, dass die traditionellen Geschlechterrollen Frauen wenig Raum gewähren, in dem sie als öffentliche Kapazitäten eine Stimme hätten. „In Taiwan ist Weiblichkeit mit Begriffen wie Schönheit und Unschuld definiert, was Frauen eher auf die Stufe von Kindern stellt als auf Erwachsenenniveau“, enthüllt sie in einer Analyse über eine bekannte einheimische Gruppe von Popsängerinnen und fügt hinzu, ein solcher Ablauf „schwächt die Rollen von Frauen in öffentlichen Angelegenheiten und Bürgerschaft“.

In der kommerziellen Welt kritisiert Yang den Valentinstag, weil er die Rolle von Männern als großzügige Beschützer und von Frauen als behütete Prinzessinnen propagiert. Der Anlass benutze romantische Gefühle und Geld, um Liebe in einer Verkleidung zu verpacken, welche die dahinter stehende Geschlechter-Ungleichheit verberge, geißelt die Professorin und fährt fort: „Deswegen lenken viele feministische Aktivisten im In- und Ausland die Aufmerksamkeit auf das Problem der sexuellen Gewalt am Valentinstag.“

Chang zeigt dagegen auf, dass mehr taiwanische Frauen wegen ihres breitgefächerten Wissens und ihrer Fertigkeiten Vorbilder würden, und solche Vorbilder geben anderen Frauen das Selbstvertrauen, in jedem Bereich ihrer Wahl Ziele zu verfolgen. Dieses Selbstvertrauen ist erkennbar an der Gruppe „Ladies in Action“, einer Gruppe von Studentinnen an der Abteilung für Elektrotechnik der National United University (NUU) in der nordtaiwanischen Stadt Miaoli. Die Mitglieder der Gruppe Huang Yu-shan, Huang Yun-ting und Yen Tzu-jung, damals noch in einem Bachelorstudiengang, gewannen für ihr Design einer Lego-artigen tragbaren LED-Schautafel, die sich drahtlos programmieren lässt, im vergangenen Jahr einen Spitzenpreis beim Golden Silicon Awards. Die jährliche Veranstaltung, im Jahr 2000 als Halbleiter-Designwettbewerb für Universitäts-Studierende im ganzen Land ins Leben gerufen, wird von der Bildungsstiftung Macronix Education Foundation organisiert und von Macronix International Co. Ltd., einem führenden Halbleiter-Speicherhersteller mit Sitz im nordtaiwanischen Wissenschaftspark Hsinchu, finanziert. Über 300 Teams von 47 inländischen Hochschulen beteiligten sich am Wettbewerb des Jahres 2013, doch die rein weibliche Gruppe „Ladies in Action“ war für die Preisrichter schon fast ein Schock. „Die Überraschung stand ihnen ins Gesicht geschrieben“, erinnert sich Yen.

Immer noch sehr häufig müssen taiwanische Frauen, die im Bereich Wissenschaft und Technologie ein Studium verfolgen oder eine berufliche Laufbahn anstreben, die Vorbehalte von Eltern und Verwandten überwinden. „Meine Familienmitglieder unterstützen mein Streben nach höherer Bildung, doch mit dem Fach, das ich gewählt habe, sind sie nicht glücklich“, räumt Huang Yu-shan ein. „Traditionelle Konzepte über Geschlechterrollen stellen offenbar die Fähigkeit eines Mädchens beim Kochen über ihre wissenschaftlichen Interessen.“

Huang Yun-ting glaubt indes, dass vielleicht abgesehen vom Bereich der körperlichen Kraft die Fähigkeiten weiblicher Studenten denen ihrer männlichen Kommilitonen in jeder Weise ebenbürtig sind. Diese Ansicht wird geteilt von Run Ray-shine, einem Elektronik-Dozenten an der NUU und Berater von Ladies in Action. Run geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, „die weiblichen Qualitäten von Aufmerksamkeit und Geduld können beim Studium von Wissenschaft und Technik recht vorteilhaft sein“. Yen, Huang Yu-shan und Huang Yun-ting sind offenbar entschlossen zu zeigen, dass ihr Berater Recht hat, denn mittlerweile sind sie alle im NUU-Magisterprogramm eingeschrieben.

Trotz des gesellschaftlichen Drucks, mit dem sie zu kämpfen haben, bleiben die Mitglieder von Ladies in Action bei ihrer Entscheidung für Studienweg und letztendlicher Berufswahl unbeirrbar. Yen: „Auch wenn traditionelle Konzepte für Geschlechterrollen sich halten, denke ich, dass unsere Interessen, Bemühungen und Kompetenz am Ende schwerer wiegen werden.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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