06.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Die geistige Gesundheit verbessern

01.03.2014
Ein Behandlungsraum im Vereinigten Psychologischen Dienst in Taipeh, eine der ersten unabhängigen Praxen in Taiwan, welche Behandlung durch geprüfte Beratungspsychologen bietet. (Foto: Chang Su-ching)
Als 2005 in Taipeh der Vereinigte Psychologische Dienst eingerichtet wurde, war er eine der ersten Praxen in Taiwan, welche Behandlung für geistige Gesundheit durch geprüfte Beratungspsychologen anbot. Chen Shu-yi, Chefpsychologin vom Vereinigten Psychologischen Dienst, war an der Gründung beteiligt, nachdem sie jahrelang in psychologischen Beratungszentren von Hochschulen und von Lokalverwaltungen in Gemeinden betriebenen Gesundheitseinrichtungen gearbeitet hatte. „Wenn früher Menschen psychologische Störungen empfanden, suchten sie eher das Gespräch mit Familienmitgliedern oder Freunden, wenn sie überhaupt mit jemandem darüber redeten“, stellt Chen dar. „Andere suchten Trost in der Religion oder versuchten es mit alternativen Heilungsoptionen wie Energietherapie oder Hypnotherapie. Heute jedoch haben die Menschen die Option, mit Beratungspsychologen zu sprechen. Uns gefällt der Gedanke, dass wir ebenso wirksam, vielleicht sogar noch mehr, dabei sind, Menschen zu helfen, wie diese anderen Optionen.“

Chen ist eine von über 2300 taiwanischen Psychologen, die über eine Lizenz gemäß dem 2001 verkündeten Psychologengesetz verfügen. Der Vereinigte Psychologische Dienst wiederum ist eine von über 40 Praxen im Inland, die Psychologen beschäftigen, aber nicht an größere medizinische Institutionen oder gemeinnützige Organisationen angeschlossen sind.

Shyu Shi-sen ist Psychologe im Betreuungszentrum für Studierende der National Kaohsiung Normal University in Südtaiwan sowie Professor am Graduierteninstitut für Psychologie und Reha-Psychologie jener Lehranstalt und Präsident der Psychologenunion Taiwan (Taiwan Counseling Psychologist Union, TCPU). Klinische Psychologen können Bewertungen durchführen und Störungen behandeln wie geminderte geistige Funktionen, legt er dar, während Psychologen in Praxen ansonsten gesunden Personen helfen, mit Verhaltens-, Wahrnehmungs-, Gefühls- und Sozialanpassungs-Schwierigkeiten in Umfeldern wie Firmen, Gemeinden, Schulen und Universitäten fertig zu werden.

Chen Shu-yi war jahrelang in Beratungszentren von Universitäten und Gemeinden tätig, bevor sie Chefpsychologin im Vereinigten Psychologischen Dienst wurde. (Foto: Chang Su-ching)

Psychologen in Praxen und Krankenhäusern können zudem unter Anleitung von Psychiatern Neurosen behandeln, oder in Zusammenarbeit mit Normalmedizin-Ärzten, welche geistige Störungen diagnostizieren und behandeln. Nur Psychiater sind berechtigt, Arzneien zu verschreiben, doch in Chens Augen ist das kein Problem. „Schlaflosigkeit zum Beispiel kann durch körperliche Störungen oder psychologische Probleme verursacht werden, bei letzterem können wir helfen“, sagt sie. „Und manche körperliche Probleme wie Magenbeschwerden, Übelkeit, Beklemmungsgefühl in der Brust und Herzrasen haben psychologische Ursachen.“ In Fällen, bei denen die Verabreichung von Medikamenten vermieden werden sollte, etwa während einer Schwangerschaft, wird psychologische Betreuung für gewöhnlich als beste Option empfohlen, fügt die Psychologin hinzu.

Chen verweist mit dem Beispiel Depression auf das vorbeugende Wesen der Arbeit, welche Psychologen verrichten. „Wir versuchen, denen zu helfen, die unter Traurigkeit leiden, bevor sich das zu einer depressiven Störung entwickelt“, berichtet sie. „Wir versuchen, positive Gefühle einer Person oder Empfindungen von Glücklichkeit aufzubauen, bevor die Traurigkeit diese kritische Grenze überquert.“

Die Nachfrage nach den Diensten von ambulanten Psychologen nimmt in Taiwan zu. Ein Faktor dabei ist schlicht ein wachsendes Augenmerk auf geistige Gesundheit im staatlichen und privaten Sektor. Ein offenkundiges Beispiel für diese Verschiebung ist erkennbar in der Gründung der Abteilung für geistige und orale Gesundheit im Ministerium für Gesundheit und Soziales (Ministry of Health and Welfare, MOHW) im Juli 2013. Andere Faktoren für den steigenden Bedarf an psychologischer Beratung sind die nachklingenden Folgen der globalen Finanzkrise von 2008, politische Spannungen und Arbeitslosigkeit, die allesamt dazu beitrugen, das Angstniveau zu erhöhen, führt Chen aus und ergänzt, der Rückgang der unterstützenden Funktion der Familie habe mentale Instabilität gleichfalls intensiviert.

Shyu glaubt, dass Entfremdung und ein ungesunder Schwerpunkt auf Individualität ein immer weiter verbreitetes Gefühl der Unsicherheit ausgelöst haben. „Viele Menschen neigen dazu, zwischen exzessivem Egoismus und einem heftigen Gefühl der Hilflosigkeit zu schwanken, und das kann zu suizidalen Neigungen führen“, warnt der Professor.

Beratungspsychologen bei einem Schulungsprogramm, das der Beratungs- und Seelsorgeverband Taiwan (TGCA) organisierte. (Foto: Courtesy Taiwan Counseling Psychologist Union)

Die TCPU war 2010 in Taipeh gegründet worden und besteht zur Zeit aus elf Regionalverbänden, die im Dienst von über 1500 praktizierenden Psychologen im ganzen Land stehen. Da über 65 Prozent solcher Psychologen in Grundschulen, sekundären Schulen und Universitäten arbeiten, leitet Shyu auch den Beratungs- und Seelsorgeverband Taiwan (Taiwan Guidance and Counseling Association, TGCA), dessen Vorläufer 1958 in Taipeh gegründet worden war. Die meisten TGCA-Mitglieder sind Akademiker und psychologische Berater in Schulen auf unterschiedlichen Ebenen.

Um ein geprüfter klinischer oder niedergelassener Psychologe zu werden, braucht man mindestens ein Magisterdiplom in Psychologie. Auch Grundschulen und sekundäre Schulen beschäftigen psychologische Berater, diese müssen einen Bachelor-Abschluss vorweisen und daneben eine vorgeschriebene Zahl von Bildungskursen absolviert haben und eine Lehrerlaubnis vom Bildungsministerium besitzen. Eine Überarbeitung des Grund- und Mittelschulgesetzes von 2011 sieht vor, dass jede Grundschule mit mindestens 24 Klassen einen psychologischen Berater haben muss, ein zweiter ist vorgeschrieben für größere Grundschulen mit 45 Klassen oder mehr. Alle Mittelschulen müssen mindestens einen psychologischen Berater einstellen. „Das bedeutet, dass Grund- und Mittelschulen am Schluss insgesamt über 2000 hauptamtliche psychologische Berater beschäftigen werden“, kalkuliert Shyu.

In der Vergangenheit wurde in Primar- und Sekundarschulen psychologische Beratung normalerweise von qualifizierten Lehrern als zusätzliche Aufgabe übernommen. Heute gibt es zwar immer noch mehr psychologische Berater in Universitäten als in Primar- und Sekundarschulen, doch die Zahl derer, die jüngeren Schülern entsprechende Hilfe angedeihen lassen, nimmt zu. Hsieh Iou-zen zum Beispiel ist ein hauptamtlicher psychologischer Berater an der städtischen Grundschule Taipei Municipal Dongmen Elementary School und bekleidet daneben das Amt des Generalsekretärs des Psychologieverbandes Taiwan Counseling Psychology Association. „Psychologische Berater in Schulen brauchen keine Psychologenlizenz, doch geprüfte Psychologen, welche diese Tätigkeit ausüben, haben ein besseres berufliches Image“, weiß Hsieh. „Es wird derzeit darauf gedrängt, die Expertise von Beratungsseelsorgern, psychologischen Beratern und Sozialarbeitern im Primar- und Sekundar-Bildungssystem zusammenzufassen, was bedeutet, dass psychologische Berater, die Betreuungsarbeit leisten, einen Vorsprung haben.“

Zwar wird in Taiwan ein wachsendes Augenmerk auf geistige Gesundheit gelegt, doch Psychologen glauben, dass Entfremdung und Egoismus zu einem sich ausweitenden Gefühl der Unsicherheit beitragen. (Foto: Chang Su-ching)

Ein wenig Beistand

Psychologische Berater, die in Schulen arbeiten, behandeln Schüler in der Regel nicht wie Patienten, sondern eher wie Individuen, die ein wenig Hilfe brauchen. „Wir betrachten sie vom Blickwinkel aus, ihre geistige Gesundheit zu verbessern, und nicht so sehr mit der Perspektive, eine Krankheit zu kurieren“, stellt Shyu klar. Eine Gruppe junger Menschen, die heutzutage solche Hilfe brauchen könnte, sind nach Chens Worten Jene, die übermäßig viel Zeit im Internet zubringen. „Die sind so viel online, dass es ihnen an Zuversicht fehlt, wenn sie sich den Frustrationen der wirklichen Welt stellen müssen“, interpretiert sie.

Hsieh macht darauf aufmerksam, dass psychologische Berater über eine Reihe von Mitteln verfügen, um Schülern zu helfen, Probleme bei Verhalten, Gefühlen und Umgang mit Mitmenschen zu überwinden. „Manche Kinder können sich nicht klar ausdrücken“, kolportiert Hsieh. „In solchen Fällen können wir andere Ausdrucksmöglichkeiten anwenden wie Zeichnen oder Spiele spielen.“

Hsieh fungiert als Mentor für Praktikanten, die in den Abteilungen für psychologische Beratung von Universitäten studieren. Auyong Yin-yin zum Beispiel, eine Studentin im vierten Studienjahr eines Bachelor-Studienganges in der Abteilung für pädagogische Psychologie und Beratung der nordtaiwanischen National Hsinchu University of Education, macht ein Praktikum an der Dongmen-Grundschule und möchte sich auf den Einsatz von Spieltherapie mit sehr jungen Schülern spezialisieren. Eine weitere von Hsiehs Praktikantinnen ist Yen Jui-yi im vierten Studienjahr eines Bachelor-Studiums in der Abteilung für Psychologie und Beratung der University of Taipei, die eine Laufbahn als psychologische Beraterin im Schulsystem in Erwägung zieht.

Der Psychologe Hsieh Iou-zen beim Unterricht in einer Grundschule in Taipeh. (Foto: Courtesy Hsieh Iou-zen)

Während die meisten psychologischen Berater in Schulen tätig sind, ergibt sich ein wachsender Bedarf für ihre Dienste in mehreren anderen Bereichen. Das rasante Altern von Taiwans Bevölkerung zum Beispiel bedeutet, dass solche Psychologen mehr Senioren Dienste für geistige Gesundheit bieten. „Wenn etwa ein alter Freund von einer betagten Person stirbt, dann muss man ihn oder sie trösten und davon abbringen, in Traurigkeit zu versinken“, erklärt Hsieh.

Nach Chens Darstellung wenden sich häufig Unternehmen an die psychologischen Berater vom Vereinigten Psychologischen Dienst, damit sie ihren Angestellten Seminare über Themen wie Umgang mit Druck bei der Arbeit erteilen. „Manche Firmen zahlen auch dafür, wenn einzelne Mitarbeiter mit uns reden möchten“, lobt sie.

Psychologische Berater spielen eine immer prominentere Rolle in Taiwans allgemeinem Gesundheitswesen. Die Überarbeitung der Standards für die Einrichtung medizinischer Institutionen im Jahr 2012 zum Beispiel sieht vor, dass mindestens ein klinischer Psychologe oder psychologischer Berater in jedem allgemeinen Krankenhaus beschäftigt wird, das über 30 oder mehr Betten für Patienten mit akuten psychiatrischen Erkrankungen verfügt. Mindestens ein solcher Psychologe ist außerdem nun vorgeschrieben für jedes Krankenhaus mit 300 oder mehr Betten für Patienten mit anderen akuten Krankheiten. Kliniken mit 1000 oder mehr Betten für Patienten mit akuten Krankheiten sind verpflichtet, einen zweiten Psychologen einzustellen.

Das Wanfang-Krankenhaus in Taipeh. Unlängst überarbeitete Standards sehen vor, dass taiwanische Allgemeinkrankenhäuser mit 300 oder mehr Betten für Patienten mit akuten Krankheiten jeweils mindestens einen Psychologen beschäftigen müssen. (Foto: Huang Chung-hsin)

Beratung für Mediziner

Angesichts der hohen Stressbelastung von Arbeitskräften in Krankenhäusern sieht die neue Fassung des Gesetzes überdies vor, dass jedes allgemeine Krankenhaus mit 300 oder mehr Mitarbeitern einen klinischen Psychologen oder psychologischen Berater beschäftigt, dessen Dienste der Belegschaft zur Verfügung stehen. In Krankenhäusern mit 1000 oder mehr Angestellten ist ein weiterer Psychologe Vorschrift. Derzeit arbeiten nur ein paar Dutzend psychologische Berater in Taiwans medizinischen Institutionen, was bedeutet, dass die überarbeiteten Standards Hunderte von Arbeitsplätzen für solche Fachleute schaffen werden.

„Der nächste Schwerpunkt unserer Anstrengungen wird sich darum drehen, psychologische Berater in das System der Nationalen Krankenversicherung (National Health Insurance, NHI) einzugliedern“, sagt Shyu. „Gegenwärtig deckt das System Behandlung durch klinische Psychologen ab, nicht aber durch niedergelassene psychologische Berater.“ Der Professor merkt an, dass Gruppen wie die Taiwanische Psychiatrie-Gesellschaft zugestimmt haben, von psychologischen Beratern geleistete Dienste in die NHI einzubeziehen. Die Angelegenheit wird momentan von der NHI-Verwaltung im MOHW erörtert.

Chen macht sich Sorgen darüber, dass zahlreiche Menschen, denen sie begegnet ist, „sich dafür entschieden“, gegenüber ihrem Leben abzustumpfen, und sie fügt hinzu, solche Individuen könnten lernen, wie man sich auf die eigenen Emotionen einlässt und sich dadurch selbst hilft. Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu verstehen und damit umzugehen, könnte nach ihren Worten eine der größten Segnungen in der modernen Gesellschaft sein, und Taiwans psychologische Berater sind entschlossen, mehr Menschen genau dabei zu helfen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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