07.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Aus freien Stücken

01.05.2014
Für Betreuung von Heimkindern in Taiwan werden ständig Freiwillige gesucht. (Foto: Chiang Mei-chu)
Freiwillige Verkehrshelfer

Jeden Morgen bietet sich auf der Meigao Road im nordtaiwanischen Yangmei (Landkreis Taoyuan) das gleiche Bild — Schlangen von Autos und sich dazwischen schlängelnde Mopeds bahnen sich den Weg zur nahegelegenen Grundschule Yangxin Elementary School. Etwa zwischen 7:10 und 7:40 Uhr müssen rund 1200 Kinder zur Schule gebracht werden, so dass neben den sonstigen Erwerbstätigen, den Kindern einer weiteren nahegelegenen Oberschule und eines Kindergartens, die dann unterwegs sind, ein hohes Verkehrsaufkommen vorprogrammiert ist. Kein Wunder, dass die Straßen verstopft sind, doch obwohl die Straßen offensichtlich nicht für diesen Verkehr konzipiert sind, passieren selten Unfälle.

Zum Teil ist dies den freiwilligen Verkehrshelfern zu verdanken, erwachsenen Schülerlotsen, die jeden Morgen unentgeltlich den Verkehr regeln. Überall in Taiwan sieht man sie vor Schulen mit einer Flagge und einer grellen Schutzweste, wenn sie den Weg für die Schulkinder freihalten und dabei Autos stoppen. Eine spezifische Ausbildung oder irgendeine amtliche Berechtigung zur Verkehrsregelung können diese Verkehrshelfer nicht vorweisen. In der Regel werden sie von der Schule kurz eingewiesen, der Rest ist gesunder Menschenverstand und Gewohnheit.

Es kann eine unangenehme Erfahrung sein, wenn man etwa im Spätherbst bei nasskaltem Wetter den Verkehr regelt und der Regenmantel scheinbar ein paar bisher unerkannte Löcher hat. Kaum jemand fährt Moped, alles ist mit dem Auto unterwegs, es bilden sich Staus, auch an den Fußgängerüberwegen, und Ampeln werden nutzlos, weil in der Grünphase keine Weiterfahrt möglich ist. Als neben der Ampel mehrere Kinder warten, die gerade mit dem privaten Schulbus angekommen sind, nimmt der erfahrenere Lehrer seine Trillerpfeife, baut sich vor den Autos mit gestrecktem Arm auf und winkt die Kinder durch. Bösen Blicken begegnet man mit einem freundlich-falschen „Pardon“, was den Verkehrshelfern gelegentlich sogar eine ehrlich gemeinte freundliche Bemerkung einbringt.

Für die freiwilligen Helfer sind indes nicht alle Tage witterungsbedingt so unerfreulich. Im Großen und Ganzen etwa kennt man die Kinder, die an die Kreuzung kommen, ihre ungefähre Ankunftszeit und ihr Verhalten. Einige Kinder kommen sehr früh mit dem privaten Schulbus, wahrscheinlich weil die Eltern früh los müssen und keine Zeit haben. Oft steuern sie die Freiwilligen oder den Lehrer für einen Plausch an, vielleicht fehlt ihnen der erwachsene Ansprechpartner für ihre Probleme. Die Verkehrshelfer dienen mitunter auch als Anlaufstelle für kleinere Probleme wie kaputte Brille, Schuhe und Ähnliches.

Einsatz der Erdbeerengeneration

Jede Generation hält wohl die nachfolgende Generation für oberflächlich, egoistisch und faul, natürlich ganz anders als man selber war — ein offenbar unabänderliches, internationales Phänomen. Auch viel ältere Taiwaner sprechen von der „nutzlosen Erdbeerengeneration“, die schön anzuschauen, aber sehr empfindlich sei.

Tatsächlich gibt es Gegenbeispiele. Während der Ferien stehen oft Schüler mit selbstgebastelten Kartons an Kreuzungen oder vor Filialen von rund um die Uhr geöffneten Kleinsupermärkten und bitten die Passanten, ihnen ihre Kassenbons zu überlassen. Taiwanische Kassenbons sind mit einer Nummer bedruckt, mit der man einen staatlichen Lotteriepreis gewinnen kann, und die freiwilligen Helfer leiten die Preise aus gespendeten Kassenbons gemeinnützigen Stiftungen zu.

Viele Universitäten versuchen Begeisterung für gemeinnützige Tätigkeit zu wecken und schreiben daher mittlerweile in ihrer Studienordnung obligatorische ehrenamtliche Tätigkeit vor. Zum Beispiel verpflichtet die juristische Fakultät der Providence University in der zentraltaiwanischen Stadt Taichung ihre Studierenden, im ersten Studienjahr 18 Stunden Sozialarbeit zu leisten. Gelegenheiten dafür findet man in verschiedenen NGOs wie beispielsweise in Krankenhäusern, Senioren- und Kinderheimen. Nach Auskunft eines der betreuenden Lehrer, Prof. Huang Juei-min, ist es zuweilen allerdings schwierig, passende Stellen für die Studierenden zu finden, schließlich ist zu vermeiden, dass sie ausgenutzt werden oder bezahlten Arbeitskräften ihre Jobs wegnehmen. Viele arbeiten dann in Behörden, der Schulbibliothek oder im Sekretariat.

Laut Prof. Huang erklären sich jedoch viele Studierende gerne bereit, wirklich ehrenamtliche Tätigkeiten zu übernehmen, deren Nutzen für Dritte sie erkennen. So wird auch das Ziel erreicht, Gemeinnützigkeit und deren Werte zu fördern. Zum Beispiel wurden einmal an der Providence University Studierende für die Betreuung von Heimkindern während eines Schulausfluges gesucht, ohne dass dies auf die Pflichtstunden angerechnet wurde, und trotzdem wollten viele Freiwillige ihr Wochenende dafür opfern. Ein wenig steht die Bürokratie der ehrenamtlichen Hilfe im Wege, die jeweilige Stelle muss von der Universitätsleitung anerkannt werden.

Das Modell der ehrenamtlichen Helfer wird vom christlichen Kinderheim Taichung Christian Herald Children’s Home sehr gelobt. Das Heim sucht laufend mit Erfolg Freiwillige, welche regelmäßig die Kinder bei Hausaufgaben unterstützen oder gelegentlich nachmittags betreuen. Interessenten müssen lediglich einen einfachen Antrag ausfüllen und ein paar persönliche Daten angeben. Anschließend wird in einem Gespräch geklärt, wo die Stärken und Interessen liegen, so dass ein passendes Kind gefunden werden kann. Zur Unterstützung stehen jederzeit Fachkräfte bereit. Ein wenig problematisch ist nur, dass viele der Kinder traumatische Erfahrungen haben, weswegen ihre Betreuung recht schwierig ist und für die Helfer frustrierend sein kann.

Für Jene, die in Taiwan freiwillige Dienste leisten möchten, gibt es zahlreiche Betätigungsfelder, und auch Ausländer sind dabei stets willkommen. (Foto: Chiang Mei-chu)

Ein uneinheitliches Bild

Statistiken sind kaum verfügbar, denn vieles läuft privat und verdeckt ab. Auf dem ersten Blick mag es nicht erscheinen, als ob Taiwaner wirklich zu begeistern seien. Nur wenige fallen auf, sie hausieren nicht mit ihrer Arbeit, oftmals würde man sie gar nicht auf dieser Ebene ansiedeln. Da ist etwa ein Lehrer namens Fan aus Zhongli (Landkreis Taoyuan), der freiwillig zwei Mal pro Woche Anfänger im Klettern unterweist; ein anderer Lehrer, der gelegentlich Menschen am osttaiwanischen Taipingshan (Landkreis Yilan) auf Führungen die Bergflora erläutert; oder „A-da“ aus Pingjhen im Landkreis Taoyuan, der manchmal am Wochenende Wanderfreudige in die Berge führt. Zahllose Rentner helfen in der Post oder in der MRT-Schnellbahn aus, andere bieten ihre Hilfe Ortsunkundigen und Behinderten an.

Gemeinnützige Vereine, deren Arbeit auf der Unterstützung durch Freiwillige beruht, gibt es überall. Vielleicht passend zur hiesigen Kultur haben sie keine sehr strengen Regeln oder Strukturen, jegliche Art der Beteiligung je nach Zeit und Willen ist jederzeit erwünscht. In unzähligen Tempeln in der Stadt, aber insbesondere auf dem Land oder auf abgelegenen Hügeln, engagieren sich gerade ältere Menschen und besuchen den Tempel nahezu täglich, putzen und zünden Räucherstäbchen an. Da viele aus Bescheidenheit nicht darüber sprechen, kann man über ihre Motivation nur spekulieren. Während der gesellschaftliche Nutzen außer Frage steht, ziehen die Freiwilligen abgesehen von persönlicher Erfüllung keine besonderen Vorteile aus dem Dienst. Sind sie bei öffentlichen Stellen tätig, genießen sie lediglich während der Arbeitszeit Versicherungsschutz.

Der Weg zum Ehrenamtlichen

Wer sich einbringen möchte, hat es relativ leicht, eine passende Stelle und Beschäftigung zu finden. Im Internet kann man sich eine Organisation suchen, die den eigenen Interessen entspricht. Auch die Organisationen bitten über Webseiten um Unterstützung, so sucht beispielsweise das Northern Region Children’s Home im Landkreis Taoyuan Babysitter, Friseure, Nachmittagsbetreuung, Sporttrainer und andere. Man versucht, die Hemmschwelle für Interessenten soweit wie möglich zu senken. Oft genügt ein kurzes Anmeldeformular, wie alles in Taiwan geht es häufig übers Internet.

Die Ausbildung oder Einweisung ist unterschiedlich, je nach Bedarf. In der Yangxin-Grundschule arbeitet ein Ehrenamtlicher mit einem erfahrenen Ehrenamtlichen oder Lehrer zusammen, zumal ohnehin mindestens zwei Personen pro Kreuzung gebraucht werden. Der Verantwortliche dreht jeden Morgen seine Runde und ist im Notfall leicht zu erreichen. Einen Führerschein und/oder ein Kind hat sowieso jeder Ehrenamtliche, weswegen sie mit dem täglichen Chaos auf der Straße und der Unberechenbarkeit kleinerer Schulkinder vertraut sind. Im Taichung Christian Herald Children’s Home werden die Eigenheiten des zu betreuenden Kindes besprochen, in der Anfangsphase ist einer der vertrauten Sozialarbeiter anwesend, der später nur noch bei Bedarf eingreift.

Geregelt sind grundsätzliche Fragen im 2001 verabschiedeten Gesetz über Freiwilligendienst, das einzelne Rechte und Pflichten festlegt, Haftungsfragen klärt und vor allem ehrenamtliche Arbeit und ihre Anerkennung fördern soll. Demnach können Ehrenamtliche Auszeichnungen erhalten und nach drei Jahren eine Dienst-Ehrenkarte beantragen, die in manchen öffentlichen Einrichtungen zu freiem Eintritt berechtigt, und es gibt Bescheinigungen und Erleichterung, wenn sie höhere Bildungseinrichtungen besuchen oder Anstellungen suchen. Letztlich sollen Anerkennung, Respekt und Befreiung von Haftung die vorhandene Bereitschaft zu ehrenamtlicher Tätigkeit fördern.

Ausländer willkommen

Vielleicht lässt sich ja einer der Leser während eines längeren Aufenthaltes in Taiwan für eine solche Mitarbeit begeistern? Ausländer sind herzlich willkommen, ihnen wird aufrichtige Dankbarkeit und Herzlichkeit der Mitarbeiter sowie der unterstützten Personen entgegenkommen. Ein sehr guter Weg, das normale Leben in Taiwan kennen zu lernen, ist es allemal.
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Der promovierte Jurist Claudius Petzold (Jahrgang 1974), Autor des 2007 erschienenen Buches „Die völkerrechtliche Stellung Taiwans“, arbeitet als Anwalt in Taipeh, außerdem lehrte er an der Providence University in Taichung.
Copyright © 2014 C. Petzold

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