04.05.2024

Taiwan Today

Gesellschaft

Arzt in Taiwan, Lehrer in Peru

01.07.2014
Der taiwanische Arzt Li Shang-ju (links) war im Jahr 2012 bei der Gründung der gemeinnützigen Organisation „Hilfe gegen Hindernisse in Peru“ (HOOP) beteiligt. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Aquarius Publishing)
Kurz vor Beginn einer lärmenden Weihnachtsfeier in einer abgelegenen Bergregion in Südamerika schnattern Kinder unter einer Flagge der Republik China aufgeregt auf Spanisch über die Geschenke, die sie bekommen werden, während ihre Eltern an der Seite des Raums den Speisetisch vorbereiten. Plötzlich ertönen wiederholt Rufe „Lehrer Li“, als ein junger Taiwaner, einen Werkzeugkasten tragend, verschwitzt den Raum betritt. Sofort ist er von den Kindern umringt, die ihn umarmen.

Diese Anekdote ereignete sich in Flora Tristan, einem Städtchen in Peru ohne asphaltierte Straßen, wo selbst fließend Wasser eine Seltenheit ist. Li Shang-ju (李尚儒) war im Jahr 2011 nach Peru gereist, um an einer örtlichen Schule Englisch zu unterrichten, und wurde schließlich dort der freiwillige „Schulleiter“. Bezahlung erhielt er keine, und er hielt sich mit seinen Ersparnissen über Wasser, die er beiseite gelegt hatte, als er als Arzt in der Linkou-Nebenstelle des Chang Gung Memorial Hospitals in Nordtaiwan arbeitete.

Lin ist nur einer von vielen jungen Taiwanern, die ihre Leidenschaft für Dienst in fremden Ländern praktizieren, aber weil er Arzt ist, erhielt er viel Aufmerksamkeit. So wurde er zum Beispiel häufig gefragt, was ihn dazu bewegt habe, seine Stelle an einem Krankenhaus in Taiwan aufzugeben, um zu einem armen Gebiet in Peru zu reisen und dort eine Schule zu leiten.

In Peru endet der Unterricht in Grundschulen um 2 Uhr nachmittags. Damit Kinder nach Schulschluss einen sicheren Ort haben, arbeitete 2007 ein britischer Gast mit den Einheimischen in Flora Tristan zusammen, um eine Schule für Englisch-Sprachunterricht aufzumachen. Eine Organisation namens „Reisender, Nicht Tourist“ (Traveler, Not Tourist, TNT) wurde ins Leben gerufen und sammelte Spenden für die Schule und ein örtliches Waisenhaus. Heute wird die Schule von einer Nichtregierungsorganisation (Nongovernmental Organization, NGO) namens „Hilfe gegen Hindernisse in Peru“ (Helping Overcome Obstacles Peru, HOOP) gemanagt, die internationale Freiwillige anheuert, peruanischen Kindern Englisch beizubringen und sich beim Lernen und Spielen um sie zu kümmern. Keinem Kind wird der Schulbesuch verweigert, und Schulgeld wird keins verlangt.

Wenige Jahre nach der Eröffnung der Schule gab es dort fast 50 Schüler und 10 freiwillige Lehrkräfte aus dem Ausland. Viele der Lehrer melden sich deswegen freiwillig, um ihren eigenen Horizont zu erweitern, während sie Anderen helfen. Der Zeitabschnitt, den die Lehrer bleiben, kann von einigen Tagen bis zu einem Jahr dauern.

Zum Beginn ihrer Weihnachtsfeier sind die Kinder bei HOOP ganz aus dem Häuschen. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Aquarius Publishing)

Als Li 2011 dort eintraf, begann er als Englischlehrer für die jüngsten Schüler und lernte von ihnen Spanisch. Danach unterrichtete er die älteren Schüler in Mathematik und Sachkunde und wurde mit der Zeit eine bekannte Gestalt in Flora Tristan. Egal wie müde oder beschäftigt er war, Li kam nie auf den Gedanken, sich zu beklagen, weil er etwas tat, was ihm Spaß machte.

Ein normales Leben

Da die Fluktuation von Lehrern beträchtlich war, gab es in der Schule eine ungeschriebene Regel: Wer am längsten dabei ist, wird Schulleiter. Der Schulleiter führt den Vorsitz bei Konferenzen, hält Vorträge und beaufsichtigt die Freiwilligen, muss sich aber auch um trivialere Dinge kümmern wie Klos putzen, Tische und Stühle reparieren und im Garten das Unkraut jäten. Nach neun Monaten wurde Li Schulleiter.

Als Li die Einheimischen besser kennen lernte, stellte er fest, dass sie nicht viel Ahnung von Hygiene hatten. Durch die Erkenntnis erwachte der Arzt in ihm, und er fing damit an, Familien und Kinder anzuweisen, sich die Zähne zu putzen und die Hände zu waschen. Überdies leistete er gratis Freiwilligendienst in örtlichen Arztpraxen und wurde bald in dem Bezirk zum Bereitschafts-Notarzt.

Li, der in diesem Jahr sein 32. Lebensjahr vollendet, unterbrach seine medizinische Laufbahn und diente als Freiwilliger im Ausland. Im siebten Jahr seines Medizinstudiums begann er sein Praxissemester in einem Krankenhaus, stellte jedoch fest, dass ältere Ärzte hinter den Kulissen Ränke schmiedeten und jüngere Ärzte schlecht behandelten, fast so wie in einer populären Klinik-Seifenoper im taiwanischen Fernsehen.

Der schlechte Umgang befremdete Li, und er beschloss, seine feste Stelle aufzugeben. Bald stieß er indes auf ein weiteres Problem. „Es ist sehr schwierig für Ärzte, die gerade ihr Studium abgeschlossen haben, außerhalb von Krankenhäusern eine Anstellung zu finden“, enthüllt Li. Er bewarb sich um nicht-medizinische Jobs in vielen gemeinnützigen Organisationen, bekam aber kein Jobangebot. Nachdem er ein Jahr arbeitslos gewesen war, nahm er wieder eine Stelle in einem Krankenhaus an, und seine Familienmitglieder atmeten erleichtert auf, da sie glaubten, er verhalte sich endlich „normal“.

Das beste Mittel für internationale Freiwillige, Stress abzubauen, ist der Anblick der lächelnden Kinder. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Aquarius Publishing)

Allerdings steigerten die neuen Erlebnisse im medizinischen Beruf nur seine Angst. „Ich fragte mich, ,werde ich in 10 Jahren so sein?‘“ bekennt er.

Als er an einem Tag spätabends aus Zeitmangel das Abendessen hatte auslassen müssen, rief seine Mutter an. „Du hast noch nichts gegessen?“ fragte sie. „Du musst [am Tag] drei Mahlzeiten bekommen.“ Die Emotionen, die Li so lange unterdrückt hatte, brachen sich plötzlich Bahn. „Das ist das ,normale‘ Leben, das du für mich wolltest!“ raunzte er. An jenem Abend, als er sich schlaflos im Bett herumwälzte, fasste er den Plan, seine zweite feste Stelle als Arzt zu verlassen. Er beschloss zu reisen, sich selbst zu finden, nach etwas zu suchen, wofür er Leidenschaft empfand.

Schließlich entschied Li, dass er, wenn er ins Ausland ginge und „Spaß hätte“, er für diese Zeit auch echte Ergebnisse vorzuweisen haben wollte. In den über drei Monaten, während der er Informationen über Gelegenheiten zu internationaler Freiwilligenarbeit sammelte, kam er zu dem Schluss, dass seine Freiwilligenerfahrung ein Fremdsprachenstudium und intensiven Kontakt mit Einheimischen umfassen sollte. Als Li auf ein Foto der Inka-Ruinen von Machu Picchu in Peru stieß, packte ihn die plötzliche Sehnsucht, die Stätte zu besichtigen. Er erkundigte sich nach Möglichkeiten der Freiwilligenarbeit in dem Land und erkannte, dass er gleichzeitig sich als Englischlehrer betätigen, Spanisch lernen und mit jungen Kindern zu tun haben könne. So erkor er Peru zu seinem Reiseziel.

„Hab ein Jahr lang Spaß, dann komm zurück und sei ein guter Arzt“, ermahnte ihn sein Vater am Flughafen, nach wie vor in der Hoffnung, der Filius würde heimkehren und seine ursprüngliche Laufbahn verfolgen. „Ich will nicht wiederkommen, um Arzt zu sein“, entgegnete Li junior.

Kurz nachdem Li Freiwilliger bei TNT wurde, kehrte der Gründer der Organisation nach Großbritannien zurück. TNT setzte seine Arbeit fort, doch die freiwilligen Mitarbeiter stellten fest, dass der Gründer Finanzen, die man für die Sprachenschule gesammelt hatte, zurück nach Großbritannien überwiesen hatte. Dass die Freiwilligen über das fehlende Geld nicht erfreut waren, braucht man kaum zu betonen. Als sie sich die Finanzen und Verwaltungsunterlagen der Organisation näher anschauten, entdeckten sie weitere Unregelmäßigkeiten. So war TNT zum Beispiel als Reisebüro registriert und nicht als offizielle NGO.

Intensives Spendensammeln ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass HOOP langfristig überleben kann. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Aquarius Publishing)

Kalligraphie und Träume

Im Jahr 2012 verließen Li und mehrere andere dienstältere Freiwillige TNT und gründeten HOOP. Die Gruppierung bietet Flora Tristan Gemeinde-Dienstleistungen, welche Bildung, Familien und Gesundheit stärken sollen. Den HOOP-Aktivisten wurde jedoch klar, dass ausgiebiges Spendensammeln erforderlich sei, sollte HOOP langfristig überleben. Li ging sogar so weit, mit seiner eigenen ungelenken Kalligraphie Geld aufzutreiben — für 2 Nuevo Sols (0,51 Euro) schrieb er den Namen einer Person in chinesischen Schriftzeichen. Schließlich kamen in vier Stunden etwa 231 Nuevo Sols (59 Euro) zusammen, ein Betrag, der ungefähr den Lebenserhaltungskosten für einen Monat in Flora Tristan entsprach. Wenn ihn später Taiwaner fragten, wie man sich in Peru den Lebensunterhalt verdienen könne, antwortete er stets spaßeshalber, „einfach Kalligraphie schreiben“.

Li grübelte unablässig darüber nach, ob die Arbeit von HOOP wirklich etwas im Leben der Kinder veränderte. Um dieses Ideal zu erreichen, beschlossen er und die anderen Freiwilligen, ein Stipendium zu finanzieren, durch das ein einheimischer Schüler mit gutem Charakter und akademischen Leistungen eine gute Privatschule besuchen konnte. „Diese Welt ist es wert, dass man Träume hat“, kommentiert Li den Beschluss, einem peruanischen Kind eine solche lebensverändernde Gelegenheit zu bieten.

Das Außenministerium und der Dokumentarfilmer Wu Yi-feng produzierten gemeinschaftlich Team Taiwan, einen Dokumentarfilm, der die Begeisterung vermittelt, welche taiwanische Freiwillige dafür empfinden, Bedürftigen in drei Kontinenten zu helfen. Wu reiste nach Peru und filmte dort HOOPs „Team Taiwan“ bei der Arbeit. In dem Streifen sagt eine Schülerin namens Brigitte, die das Stipendium erhielt, „ich möchte die Chance für eine andere Zukunft haben“, und ihre Augen füllen sich mit Tränen, noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hat. Für sie ist Bildung keine Verpflichtung, sondern eine Rettungsleine, die ihr dabei hilft, einer Existenz in Armut zu entkommen.

Während seiner Zeit in Flora Tristan wurde Li klar, dass er mehr Erfahrung und Kenntnisse brauchte, um aus seinen beiden Leidenschaften der internationalen Medizin und NGOs eine berufliche Laufbahn zu machen. Er bewarb sich um Zulassung zu einem Graduiertenprogramm in der Abteilung für Globale Gesundheit der University of Washington in Seattle. Zur Zeit studiert er dort und hofft nach dem Examen auf eine Tätigkeit im Bereich Gesundheitsfragen bei Katastrophenhilfe, internationale Hilfe und Flüchtlingshilfe. Daneben blieb ihm noch die Zeit, in dem chinesischsprachigen Buch Wo Zorn war: Ich fand innere Klarheit in einem Bergdorf (本來是憤青:追尋內心的明日山城) über seine Reise und Selbsterfahrung in Peru zu schreiben.

Lis nächste Etappe? „Zentralafrika, Süd- oder Zentralasien, sogar Haiti wären Möglichkeiten“, spekuliert er. Die Zukunft wird es zeigen, doch die Seele eines Reisenden und die Seele eines Arztes werden offenbar wieder einmal rastlos.

(Deutsch von Tilman Aretz)
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Dieser Artikel erschien ursprünglich in Taiwan Panorama.

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