07.05.2024

Taiwan Today

Politik

Gedenken an eine Leitfigur

01.09.2014
Auf Initiative von Chie Nun hin entstand 1973 die „Auslandschinesen-Zeitung Westdeutschlands“, die anfangs handschriftlich erstellt und 2004 nach 270 Ausgaben eingestellt wurde. (Foto: Long Cheng-hai und Courtesy Chen Keh-miin)
Ethnische Chinesen findet man in praktisch allen Ländern rund um den Erdball, und wo größere Gruppen von ihnen leben, entstehen meist Organisationen von Auslandschinesen und -taiwanern, die Aufgaben erfüllen wie gegenseitige Hilfe für Landsleute, Pflege von Kultur und Brauchtum und ähnliches.

Unter den in Deutschland lebenden Chinesen wird man wohl kaum jemanden finden können, der sich so früh und so engagiert für solche Belange einsetzte wie Chie Nun (徐能, 1928–2013), dessen Todestag sich am 22. Oktober zum ersten Mal jährt. Der aus dem Hua-Kreis (Stadt Guangzhou) in der festlandchinesischen Provinz Guangdong stammende Chie war Ende der fünfziger Jahre von Hongkong nach Deutschland gekommen und betrieb ab 1961 das erste chinesische Restaurant in München („Canton“ in der Theresienstraße).

Chie begnügte sich indes bei weitem nicht mit der Rolle des Gastronoms, sondern kümmerte sich engagiert um in München lebende Taiwaner, unter ihnen viele Studierende. Im Juli 1973 erschien erstmals die anfangs handschriftlich erstellte und vervielfältigte chinesischsprachige Zeitschrift „Auslandschinesen-Zeitung Westdeutschlands“ (西德僑報), die von auslandschinesischen Geschäftsleuten finanziert und deren redaktionelle Arbeit von studentischen Freiwilligen erledigt wurde. Schwerpunktmäßig erfassten die Beiträge im Blatt Themenbereiche wie Kultur, Gesellschaft, Politik und Neuigkeiten aus der Gemeinschaft der Auslandschinesen. Die Zeitschrift war in den siebziger und achtziger Jahren die einzige regelmäßig erscheinende chinesischsprachige Publikation Europas, und ihre Attraktivität und Bindungskraft auf die damaligen Auslandschinesen ist heute nicht mehr ohne weiteres vorstellbar. Nach der Wiedervereinigung hieß das Magazin „Auslandschinesen-Zeitung Deutschlands“ (德國僑報), und als es im August 2004 wegen des Siegeszuges des Internet eingestellt wurde, waren insgesamt 270 Ausgaben erschienen.

Durch sein Restaurant und sein vielfältiges Engagement für Auslandschinesen wurde Chie Nun mit der Zeit unter den in Europa lebenden ethnischen Chinesen eine recht bekannte Persönlichkeit. 1975 wurde auf Anregung von ihm und dem in Hamburg lebenden Auslandschinesen Chang Ta-yung (張大勇) sowie Wei Jianghua (魏蔣華) erstmals die Jahresversammlung der in Europa lebenden Chinesen (歐華年會) organisiert, die seitdem jedes Mal in einem anderen europäischen Land stattfand. Die Motivation für eine Veranstaltung dieser Art entsprang bei Chie Nun und vielen Gleichgesinnten auch der Sorge um sein Heimatland, da er nach dem Tod von Präsident Chiang Kai-shek (蔣介石) im April 1975 die Lage in der Republik China als unsicher ansah, und die Jahresversammlung sollte die Unterstützung für das Land stärken. Mit der Zeit wurde die Jahresversammlung der Chinesen in Europa eine der wichtigsten Auslandschinesen-Veranstaltungen weltweit.

Chie Nun (1928–2013) lebte von 1960 bis zu seinem Tod in München. Dieses Bild aus dem Jahr 1980 zeigt ihn bei einer Konferenz chinesischsprachiger Publikationen mit Chao Tsing-min (ganz links), dem damaligen Chefredakteur der „Auslandschinesen-Zeitung Westdeutschlands “. (Foto: Courtesy Chao Tsing-min)

Abgesehen von seinem patriotischem Einsatz, mit dem Chie Nun von sich reden machte, begründete er in München eine lokalpatriotisch motivierte Tradition. Viele Jahre, zum letzten Mal im Jahr 2011, organisierte er regelmäßig am 29. März, dem Tag der Jugend (青年節) in der Republik China, in seinem Restaurant eine Veranstaltung in Form eines akademischen Forums zum Gedenken an die 72 Märtyrer, die beim fehlgeschlagenen Huanghuagang-Aufstand (黃花崗起義) am 27. April 1911 — in jenem Jahr dem 29. Tag des dritten Mondkalendermonats — in Guangzhou ihr Leben verloren hatten. Chie Nun empfand zu dem Feiertag ein besonderes persönliches Verhältnis, denn von den 72 Märtyrern stammten 18 wie Chie Nun selbst aus dem Hua-Kreis in Guangdong, 16 von ihnen trugen den gleichen Familiennamen wie er und gehörten nach seiner Darstellung zu seinem Clan. Chie Nun wollte mit der Veranstaltung auch Wertschätzung und Respekt für die schweren Umstände, unter denen die Republik China entstanden war, fördern.

Mit seinem Engagement wurde Chie Nun weit über die Grenzen Münchens und Deutschlands bekannt und geschätzt. Unter anderem fungierte er als Vorstandsvorsitzender der Sun Yat-sen-Gesellschaft, war Berater in der Kommission für Auslandschinesen-Angelegenheiten (Overseas Chinese Affairs Commission, OCAC) und wurde im Dezember 1986 als Auslandschinesen-Abgeordneter in den Legislativ-Yuan (立法院), also das Parlament der Republik China, gewählt. Daneben betätigte er sich für die Demokratiebewegung in Festlandchina und unterstützte Dissidenten. Sein Format ist außerdem an dem Umstand erkennbar, dass er Staatspräsident Ma Ying-jeou (馬英九) persönlich kannte und Ma nach Chie Nuns Hinscheiden eigens ein Kondolenzschreiben schickte. Den Auslandschinesen in Europa wird sein jahrzehntelanges, prägendes Wirken noch lange im Gedächtnis bleiben.

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