Klaus Bardenhagen: Laut einem Zeitungsbericht in Taiwan haben Sie bei Ihrem Besuch geraten, dass Taiwan sich nicht zu schnell an China annähern soll?
Egon Bahr: Ich habe streng darauf geachtet, Taiwan und seiner Regierung keine Ratschläge zu geben. Das ist unmöglich für einen Menschen, der da zum ersten Mal war und überrascht gewesen ist von der Tatsache, dass die Linie des Präsidenten einen für mich erkennbaren überraschenden, enormen Erfolg gehabt hat. Wandel durch Annäherung, kleine Schritte, Grundlagenvertrag sind Vokabeln, die den dortigen Gesprächspartnern ohne jeden Akzent in deutscher Sprache geläufig sind. Das ist sehr bemerkenswert, und der Erfolg ist unbestreitbar, wenn ich mir überlege, dass der alte Stadtflugplatz in Taipeh nur für die Verbindungen nach China und Japan vorbehalten ist und jeden Tag dort 500 Starts und Landungen erfolgen — das ist ja nicht so viel weniger als das, was Frankfurt jeden Tag an Flugverkehr erledigt. Das heißt, die Intensität der Verbindungen zum Mainland und zu Japan sind dort in einer Weise entwickelt, die wir hier in Deutschland gar nicht richtig aufgenommen haben.
Und es kommt folgendes hinzu: Ich kann in meiner Erinnerung sagen, dass in dem Augenblick, in dem US-Präsident Kennedy in Berlin gewesen ist und gesagt hat, „ich bin ein Berliner“, es da hieß, wer diese Stadt berührt oder angreifen will, hat es mit dem mächtigsten Mann der Welt zu tun. Die Folge davon war, dass in der gesamten Zeit danach Stabilität garantiert war. Die Stabilität bestand darin, dass die Stadt geteilt blieb, das Land geteilt blieb, Europa geteilt blieb. Kein Versuch ist unternommen worden von irgend jemandem, die Situation in Deutschland zu erleichtern oder gar Schritte einzuleiten mit dem erklärten Ziel, die deutsche Einheit zu gewinnen. Jetzt stelle ich fest, dass Präsident Obama in Australien die Erklärung abgegeben hat: „Wir sind hier, um zu bleiben.“ Ich könnte mir vorstellen, dass im positivsten Fall die gleiche Wirkung wie seinerzeit mit der Kennedy-Erklärung in Berlin ausgelöst werden wird, das heißt Stabilität, das heißt Status Quo, das heißt Sicherheit. Und das entspricht eigentlich, soweit ich das beurteilen kann, dem Interesse Taiwans wie dem Interesse Chinas. Wir werden sehr lange mit der Situation gewaltfrei leben und leben können. Das ist eine Sache, von der wir nur sagen können, angesichts der riesigen Probleme, die die Welt in diesem Jahrhundert hat, ist das der einzige vernünftige Weg, den ich sehe.
Egon Bahr, hier mit dem deutschen Journalisten Klaus Bardenhagen in seinem Berliner Büro, gilt als einer der maßgeblichen Mitgestalter der Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten in den siebziger Jahren. (Foto: Klaus Bardenhagen)
Was könnten diese Entwicklungen für Taiwan und China bedeuten?
Das Interesse daran, dass man Stabilität, sprich Erhaltung des Friedens, als oberstes Ziel sehen muss. Die unterschiedliche Interpretation, was die Ein-China-Politik insgesamt für China und für Taiwan bedeutet, ist ja ein kunstvolles Arrangement. Sehr klug, und der Gewaltverzicht kommt dann erst an dritter Stelle. Den muss man ein bisschen höher rücken, glaube ich. Jedenfalls wird die Erhaltung des Friedens, sprich der Stabilität, an erster Stelle stehen.
Auch in Taiwan spricht man oft von Parallelen zur deutschen Teilung. Aber wo liegen Unterschiede?
Die Situation in Deutschland war deshalb unvergleichbar, weil wir es mit dem Ost-West-Verhältnis zu tun hatten, das heißt, da waren im wesentlichen Amerika auf der einen Seite und die Sowjetunion auf der anderen Seite, die aufgepasst haben, dass die Kinder sich anständig verhielten und keinen Unsinn machten. Es war eine überschaubare Situation, und sowohl Amerika wie die Sowjetunion haben diese Situation mit großem Verantwortungsbewusstsein gehandhabt. Das ist nicht vergleichbar damit, dass wir damals unterhalb dieser unkündbaren Siegerrechte begonnen haben, deutsche Interessen zu entwickeln und eine Politik zu betreiben, in der die Rechte dieser beiden Supermächte de facto so weit reduziert wurden, dass beide zum Schluss 1990 gar nicht mehr anders konnten, als die Souveränität dem kleiner gewordenen Deutschland zurückzugeben. Es ist auch unvergleichbar, dass das ganze darauf basierte, dass die beiden Großen die einzigen waren, die über eine atomare Zweitschlagsfähigkeit verfügten, interkontinental, also einen Atomschirm aufgespannt hatten über Europa, wo sich nichts geändert hat. Unter diesem Atomschirm leben wir bis heute und werden wir auch weiter leben, weil es keinen Staat und keine Kraft gibt, die das ersetzen kann. Niemand, auch nicht das Festland in China, verfügt über eine atomare Zweitschlagsfähigkeit. Also, das alles ist unvergleichbar, mit dem Resultat, dass Frieden, sprich Gewaltfreiheit das oberste Kriterium der dortigen Situation in Zukunft bleiben wird.
Mit Egon Bahrs Motto „Wandel durch Annäherung“ kann man auch das Konzept der Regierung der Republik China beim Umgang mit Festlandchina beschreiben. Am 29. Juni 2010 wurde ein bahnbrechendes bilaterales Rahmenabkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECFA) unterzeichnet. (Foto aus unserem Archiv)
Auch das Kräfteverhältnis ist anders: China ist eine Großmacht mit eigenen geostrategischen Ambitionen, der anderen Seite fehlt fast jede internationale Anerkennung. Ist es ein Problem, dass man kaum auf Augenhöhe verhandeln kann, wenn man Schritte der Annäherung unternimmt?
Es gibt zwei Gesichtspunkte, die da zu nennen sind. Der eine Gesichtspunkt ist, man kann nicht übersehen oder genau einschätzen, ob die Entwicklung der gegenseitigen Verflechtung, der gegenseitigen Wirtschaft, ausreicht, um einen neuen Zustand zu erreichen, in dem die Frage der staatlichen Einheit nicht mehr die entscheidende Rolle spielt. Im Übrigen ist der Unterschied natürlich auch deshalb für mich beunruhigend, weil wir die Entwicklung in Europa eingeleitet haben mit Gewaltverzicht, das heißt mit kleinen Schritten, Vertrauensbildung, Kontrolle, und ich stelle fest, dass es solche Parallelen überhaupt nicht gibt.
In Europa sind Waffen abgebaut worden, Raketen abgebaut worden, die konventionelle Rüstung abgebaut worden. Europa ist heute der friedlichste Kontinent, wenn sie so wollen, während sich die Entwicklung dahingehend gezeigt hat, dass in dem asiatischen Areal jeder Staat so viel aufrüstet, wie er kann und finanzieren kann. Und es gibt dort viel mehr Mitspieler, weil es nicht zu beherrschen ist durch zwei Überlegene, und es gibt eine solche Fülle von unterschiedlichen Interessen, ethnischen Schwierigkeiten, nationalen Schwierigkeiten, religiösen Schwierigkeiten, dass man sagen kann, es gibt keine Vereinbarungen, das zu reduzieren oder zunächst mal Rüstungsstopp, oder Austausch von vertrauensbildenden Maßnahmen.
Jedenfalls glaube ich, dass — ich kann mich da nur wiederholen — der einzige Weg der ist, mit allen Kräften, die daran beteiligt sind und verantwortlich dafür sind, Stabilität, das heißt Frieden zu erhalten.
Darüber ist man sich auch in Taiwan einig. Unstimmigkeit herrscht über den richtigen Weg. Es gibt Stimmen, die sagen, die Annäherung an China sei zu einseitig, es sind noch immer Raketen auf Taiwan gerichtet. Taiwan solle nicht so schnell, so bereitwillig Schritte tun, oder es könne in einen Sog gezogen werden, wo irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem es keine selbstständigen Schritte mehr gehen kann. Sehen Sie diese Gefahr?
Ich bin kein Schiedsrichter und werde mich in inner-politische Diskussionen auf Taiwan nicht einmischen. Ich bin der Überzeugung, dass die Politik, die Präsident Ma gemacht hat, richtig war. Und dass sie fortgesetzt wird, halte ich auch für richtig. Der Rest ist nicht ausrechenbar, das ist Geschichte. Da können wir keine Computer für einsetzen.
Mit gutem Beispiel voran: Festlandchinesische Touristen und Studierende, die Taiwan besuchen, können während ihres Aufenthaltes Pressefreiheit und demokratische Vorgänge wie direkte und freie Wahlen hautnah miterleben. (Foto aus unserem Archiv)
Ist Taiwans Politik abhängig von den Reaktionen Pekings? Im Falle eines Regierungswechsels, selbst wenn die neue Regierung diesen Kurs fortsetzen wollte, liegt es an Peking, wie sie reagieren, ob sie Kontakte abbrechen oder Taiwan für eine nicht genehme Entscheidung abstrafen. Darauf hat Taiwan keinen direkten Einfluss.
Na und? Das war bisher schon so. Wir haben es damit zu tun, dass nach meiner Auffassung jedenfalls China, also das Mainland, genau weiß, dass es angewiesen ist auf ein vernünftiges Verhältnis zu Amerika, das gilt umgekehrt genauso. Sie können sagen, Wandel durch Annäherung gilt auch zwischen Amerika und China, und dabei vergisst keine Seite die Gegnerschaft. Das auszubalancieren ist Angelegenheit dieser beiden Großen. Ein Entscheidungsgewicht innerhalb oder zwischen diesen beiden Großen, dazu ist Taiwan zu schwach und zu klein.
Wie war die deutsche Politik zur Republik China vor Aufnahme von Beziehungen mit der Volksrepublik? Gab es je Überlegungen, engere Beziehungen mit der Republik China einzugehen?
Nein. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. Es kann es gegeben haben, ich habe nie davon gehört. Selbstverständlich war die Überlegung in Bonn, der entscheidende Faktor ist unser Verhältnis zu dem großen China, und die Ein-China-Politik war im Prinzip auch bei unseren Verbündeten nicht umstritten.
Was bedeutet die deutsche Ein-China-Politik für Taiwan?
Die Ein-China-Politik hindert nicht an der Entwicklung insbesondere der wirtschaftlichen, der wirtschaftspolitischen Beziehungen zu Taiwan.
Nach dieser Politik ist Taiwan ein Teil des chinesischen Territoriums. Ist das abstrakt oder bezeichnet es aus offizieller Sicht die Volksrepublik China?
Ich ziehe mich zurück hinter die unterschiedliche Interpretation der Ein-China-Politik, die zwischen China und Taiwan eingeführt worden ist und funktioniert.
Seit der Aufnahme direkter Verkehrsverbindungen zwischen Taiwan und Festlandchina ist der Songshan-Flughafen in Taipeh ein wichtiges Zugangstor für festlandchinesische Touristen in Taiwan geworden. (Foto aus unserem Archiv)
Gibt es Anlässe, sich Sorgen um die Entwicklung von Taiwans Demokratie zu machen, die Freiheit in dieser Gesellschaft?
Ich kann im Rückblick dessen, was zu der heutigen Situation geführt hat, nur sagen, Taiwan hat eine demokratische Entwicklung, eine Stabilität und wirtschaftliche Erfolge nachgewiesen und eine Perspektive eröffnet für eine friedliche Fortsetzung dieser Entwicklung. Dass das auch auf China ausstrahlt, das heißt dass man dort natürlich aufmerksam schaut, wie funktioniert das eigentlich und wie geht das eigentlich, und dass ein Massentourismus aus China nach Taiwan geht, das sind ja alles aufregende Dinge, wobei man sagen kann, die Risiken für das Mainland sind begrenzt. Na gut. Aber es ist eine gegenseitige Beeinflussung mit da. Und mehr kann man doch gar nicht erwarten.
Wie kam es zu Ihrer fünftägigen Reise nach Taiwan im Dezember?
Die Vertretung von Taiwan in Berlin hat mich angesprochen, wir haben angefangen zu sprechen, danach ist mir die Einladung übermittelt worden.
Was hat Sie in Taiwan überrascht oder beeindruckt?
Ich habe noch nirgendwo eine solche Ansammlung von Zement und Straßen und Straßenkreuzungen und hochgebaut und übergebaut gesehen. Na gut, das ist klar, das ist bei der Begrenztheit des Areals gar nicht anders vorstellbar. Aber es ist eben ein Teil hochmoderner Entwicklung, und anders kann Taiwan auch gar nicht weiter leben, sie müssen das so machen. Also, einen Schönheitswettbewerb kann man damit nicht gewinnen, aber das ist halt die Zweckmäßigkeit, die daraus spricht, und die Notwendigkeit.
Das Video zu dem Interview ist online
unter folgender Adresse einsehbar:
http://www.taiwanreporter.de/egon-bahr-taiwan/