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Der „Konsens von 1992“: Schlüssel zur Versöhnung über die Taiwanstraße

01.11.2011
Su Chi, 1999-2000 Vorsitzender des Rates für Festlandangelegenheiten und 2008-2010 Generalsekretär der Nationalen Sicherheitskonferenz im Präsidialamt, prägte im Jahr 2000 den Begriff „Konsens von 1992“. (Foto: Central News Agency)
Der „Konsens von 1992“ (九二共識) ist wieder einmal zum Kernthema in den Nachrichten und der politischen Diskussion in Taiwan geworden. Für diesen Begriff bin ich im vergangenen Jahrzehnt ständig kritisiert worden, worauf ich nur selten geantwortet habe. Nach gut zehn Jahren könnte ein Blick auf den historischen Zusammenhang der Angelegenheit indes dabei helfen, neue Einsichten für die Zukunft der Beziehungen über die Taiwanstraße zu gewinnen.

Der Begriff „Konsens von 1992“ stammt faktisch von mir. Allerdings habe ich ihn nicht frei erfunden, sondern nur eine bereits existierende Tatsache nach dem Prinzip „alter Wein in neuen Schläuchen“ umbenannt. 1992 kamen Taiwan und Festlandchina tatsächlich zu einem Konsens. Diese Übereinstimmung fand sich sowohl im Austausch von Mitteilungen als auch in einseitigen Erklärungen. Da dieser Konsens aber nicht in einem einzelnen, unterzeichneten Schriftstück dokumentiert war, umgibt ihn natürlich ein gewisser Grad von Doppeldeutigkeit.

Trotz dieser Unklarheit ist die Entstehung des Konsens von historischer Bedeutung, weil sie nach einer langen Reihe militärischer Konfrontationen und ideologischer Kämpfe, die bis zum Jahr 1949 zurückreichen, den ersten politischen Kompromiss zwischen Taiwan und Festlandchina darstellt. Außerdem geht es bei der Materie um nicht weniger als die kniffligste „Ein China“-Frage. Daher reflektiert die Unklarheit nicht nur die schwierigen Umstände der damaligen Zeit, sondern hebt auch die Klugheit jener hervor, welche diese Herausforderung annahmen.

Wären Festlandchina und Taiwan, wie manche argumentieren, 1992 nicht zu einem Konsens gekommen, wären weder die Koo-Wang-Gespräche 1993 in Singapur darauf gefolgt, noch hätten die 21 Verhandlungsrunden zwischen der in Taipeh ansässigen Stiftung Austausch über die Taiwanstraße (Straits Exchange Foundation, SEF) und der in Beijing residierenden Vereinigung für die Beziehungen über die Taiwanstraße (Association for Relations across the Taiwan Straits, ARATS) in den folgenden sieben Jahren stattgefunden.

Dass man unter diesen schwierigen Umständen zu diesem seltenen Kompromiss kommen konnte, zeigt zuallererst die Bereitschaft der Regierung in Beijing und der Regierung Lee Teng-huis (李登輝) in Taipeh, ihr Verhältnis miteinander versöhnlicher zu gestalten. Zweitens gab es einige gemeinsame Positionen, und drittens hatte sich schon grundlegendes gegenseitiges Vertrauen gebildet.

Die Lage änderte sich drastisch, als Chen Shui-bian (陳水扁) von der Demokratischen Progressiven Partei (DPP) die Präsidentschaftswahl im März 2000 gewann. Als scheidender Vorsitzender des Rates für Festlandangelegenheiten (Mainland Affairs Council, MAC) war ich damals tief besorgt, dass Festlandchina und Taiwan nur unter großen Schwierigkeiten einen gemeinsamen Nenner finden würden. Letztendlich betonte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ihr „Ein China“-Prinzip (一個中國原則), ohne über die „jeweils eigene Interpretation“ (各自表述) des „einen China“ zu reden. Die Nationale Volkspartei (Kuomintang, KMT) vertrat die Position des „einen China, von dem jede Seite ihre eigene Interpretation hatte“ (一中各表). Die DPP dagegen konzentrierte sich auf „jeweils eigene Interpretationen“, ohne auf den Begriff „ein China“ einzugehen. Auf diese Weise gab es zwar eine gemeinsame Basis zwischen der KPCh und der KMT, aber keine zwischen der KPCh und der DPP. Als die DPP an die Macht kam, schien es also sehr wahrscheinlich, dass diese große Kluft in eine Sackgasse — oder sogar zur Verschlechterung — bei den Beziehungen über die Taiwanstraße führen würde.

Entwicklung von Vertrauen: Im Dezember vergangenen Jahres fand in Taipeh die sechste Begegnung der beiden Chefunterhändler Chiang Pin-kung (links) von Taiwans SEF und Chen Yunlin von Festlandchinas ARATS statt. (Foto: Central News Agency)

Ende April des Jahres 2000 unternahm ich einen Versuch, die Situation zu retten, und schlug den neuen Begriff des „Konsens von 1992“ vor, um alten Wein in neue Schläuche zu füllen. Die neue Verpackung hätte die grundsätzliche Diskrepanz zwischen den Positionen der DPP und der KPCh in der Frage der Souveränität verschleiern und einen gemeinsamen Nenner für beide Parteien schaffen können. Falls bei beiden Seiten Bereitschaft bestünde und eine kleine Vertrauensgrundlage vorhanden wäre, würde der unschätzbare Entspannungsprozess in der Taiwanstraße fortgeführt werden können.

Zu jener Zeit war ich besorgt, dass Beijing diesen neuen Schlauch zurückweisen würde, da er praktisch den Begriff „ein China“, der für die KPCh historisch bedeutsam war, aus der neuen Formulierung herausgenommen hatte. Wenn Beijing den „Konsens von 1992“, der die Worte „ein China“ nicht ausdrücklich enthielt, akzeptierte, könnten ihn Parteifalken in Beijing als großes Zugeständnis an die DPP auffassen. Ende August 2000 drückte ARATS indes überraschend ihre Bereitschaft aus, die Verhandlungen zwischen Festlandchina und Taiwan auf der Basis des „Konsens von 1992“ fortzusetzen. Die Regierung Chen Shui-bians lehnte jedoch ab. In den folgenden acht Jahren wurde der Begriff von der DPP wiederholt geschmäht, die Partei nannte ihn einen „Kapitulations-Konsens“ oder beharrte darauf, dass „der 1992-Konsens nicht existiert“. Inzwischen betrachtete eine wachsende Zahl von Menschen auf beiden Seiten der Taiwanstraße und sogar einige Regierungen den „Konsens von 1992“ als Brücke zur Versöhnung zwischen Festlandchina und Taiwan.

Der Konsens von 1992 ist der Schlüssel, mit welchem die Regierung von Präsident Ma Ying-jeou (馬英九) das Tor zu neuen Verhandlungen aufschloss und eine neue Versöhnung mit Beijing erzielte. Noch wichtiger ist, dass beide Seiten ihre Absicht bekundet haben, Frieden zu schließen, und ungeachtet der Unterschiede bei ihren politischen Standpunkten neues gegenseitiges Vertrauen zu schaffen, während man bei den Differenzen nach Gemeinsamkeiten sucht.

Jetzt darüber zu streiten, ob der Konsens von 1992 objektiv existiert oder nicht, ist nicht sehr sinnvoll, denn es ist keine wissenschaftliche Frage, sondern eine politische Frage, die von individuellen Interpretationen geformt wird. Was gewöhnliche Menschen außerhalb der Schlammschlacht wissen möchten, ist: Hat jede der drei beteiligten Parteien den Wunsch nach Aussöhnung in der Taiwanstraße? Was sind die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen ihnen? Wie geht man mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten um? Gibt es überhaupt gegenseitiges Vertrauen? Wenn der Konsens von 1992 inakzeptabel ist, gibt es dann eine bessere Brücke zur Versöhnung?

Ich denke, wir sollten uns mehr um die Beantwortung dieser Fragen kümmern.

(Deutsch von Heike Link)

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Su Chi (蘇起), Jahrgang 1949, war zwischen 2008 und 2010 Generalsekretär der Nationalen Sicherheitskonferenz im Präsidialamt der Republik China. Zuvor hatte Su von 1999 bis 2000 als Vorsitzender des MAC eine der Schlüsselfunktionen bei der Behandlung der Beziehungen mit Festlandchina inne.

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