08.05.2024

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Aus gegebenem Anlass

01.05.2011
Band 1: 1911-1949. 350 Seiten, 1. Auflage Dezember 2009, Longtai Verlag Gießen, ISBN-10: 3938946148, ISBN-13: 978-3-938946-14-5. Verkaufspreis im Buchhandel: 32,80 Euro (Foto: Courtesy Dr. Thomas Weyrauch)
Werke über die Geschichte Chinas oder auch die Geschichte Taiwans kann man im Buchhandel des deutschsprachigen Raumes ohne große Mühe finden. Wer sich allerdings für die Geschichte der Republik China interessierte, konnte in der Vergangenheit Antworten auf seine Fragen nicht ohne weiteres in einem einzelnen Band finden, da Bücher über die Geschichte Chinas nach 1949 die Ereignisse des kommunistisch regierten Festlandes in den Vordergrund stellten und historische Abhandlungen über Taiwan den Vorgängen auf dem Festland vor 1945 keine große Aufmerksamkeit schenkten.

Mit „Chinas unbeachtete Republik. 100 Jahre im Schatten der Weltgeschichte“ von Thomas Weyrauch liegt nun endlich eine umfassende Darstellung der Geschichte der ersten Republik Asiens in zwei Bänden vor. Der erste Band schildert die Geschichte der Republik China von 1911 bis 1949, der zweite Band beschäftigt sich mit der Periode 1950 bis 2011. Mit dieser Einteilung wird der großen Zäsur in der Geschichte des Staates sinnvoll Rechnung getragen — in den ersten Jahrzehnten bestand das Territorium der Republik China aus dem chinesischen Festland ohne Taiwan, 1945 musste Taiwans Kolonialmacht Japan nach ihrer Kapitulation die Insel gemäß den Absprachen der Alliierten in Kairo 1943 und Potsdam 1945 an China zurückgeben, und 1949 zog sich die Regierung der Republik China nach der Niederlage am Ende des Bürgerkrieges gegen die chinesischen Kommunisten mit ihrer aus Mitgliedern der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) bestehenden Führung nach Taiwan zurück. Seit 1949 steht das chinesische Festland unter der Herrschaft der Kommunisten, das von der Republik China faktisch kontrollierte Hoheitsgebiet beschränkt sich auf Taiwan und mehrere vorgelagerte Inseln einschließlich Kinmen und Matsu.

Die Republik China auf dem Festland

Band I beginnt mit einer Untersuchung der Zeit im Vorfeld der Hsinhai-Revolution (xinhai geming 辛亥革命) im Oktober 1911, welche die Qing-Dynastie (1644-1911) zu Fall brachte. Die Ereignisse, welche das Ende der chinesischen Kaiserzeit einleiteten, sind gut erörtert und werden von Augenzeugenberichten deutschsprachiger Zeitzeugen in China, die man in anderen Geschichtswerken nicht finden würde, anschaulich ergänzt. Lobenswert ist dabei außerdem, dass das Abdankungs-Edikt des Qing-Hofes als deutsche Übersetzung im Wortlaut abgedruckt ist. Anschließend behandelt der erste Band den historischen Ablauf der Frühphase der Republik China, etwa mit Informationen zu den ersten Wahlen im Jahre 1913, dann den Versuch des ersten Präsidenten Yuan Shikai 袁世凱 (1859-1916), die Monarchie mit sich selbst als Kaiser an der Spitze zu restaurieren, den Zerfall der Einheit nach Yuans Tod und das Chaos der Warlord-Periode (1916-1928), welche Chiang Kai-shek 蔣介石 (1887-1975) von der KMT durch seinen Nordfeldzug (beifa zhanzheng 北伐戰爭) beendete. Angemessenen Platz erhält der Konflikt zwischen der KMT und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ab den zwanziger Jahren, wobei der Autor es nicht versäumt, auf die Irrtümer bei der Wahrnehmung der Rolle Chiang Kai-sheks im Westen hinzuweisen, die sich teilweise bis heute halten und auf raffinierte kommunistische Propaganda wie von Edgar Snow zurückzuführen sind. Gleichzeitig beschreibt Weyrauch die Einrichtung chinesischer „Sowjetgebiete“ in den dreißiger Jahren, die dort vorgefallenen schweren Menschenrechtsverletzungen und den „Langen Marsch“ (changzheng 長征) der kommunistischen Truppen. Es folgen die weiteren Ereignisse mit der japanischen Invasion ab 1931, Einrichtung japanischer Marionettenstaaten auf chinesischem Boden und Japans Massaker in Nanjing. Mit dem Grauen des chinesischen Bürgerkrieges zwischen KMT und KPCh (1945-1949) sowie dem dramatischen Rückzug der Regierung der Republik China nach Taiwan endet der erste Band.

Die Republik China auf Taiwan — und mehr

Ein auffallendes Merkmal von Band II ist, dass der Verfasser bewusst die Ereignisse in der seit Ende 1949 faktisch auf das Taiwangebiet beschränkten Republik China denen im kommunistisch regierten Festland gegenüberstellt. So werden zwar interessante Vergleiche möglich wie etwa von der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft auf dem Festland mit der erfolgreichen Landreform in Taiwan, doch leidet durch die Schilderungen der Entwicklungen auf dem Festland der Schwerpunkt auf der Geschichte der Republik China, den der Titel der beiden Bände suggeriert. Ein Beispiel für diese Unausgewogenheit ist die Darstellung der Unruhen in Taiwan im Februar 1947, deren Aufarbeitung heute noch im Gange ist und weiterhin im Mittelpunkt intensiver Versöhnungsbemühungen steht. In Weyrauchs Büchern erhält dieses Thema deutlich weniger Raum als das Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 oder die Vorfälle in Tibet nach 1949, die eigentlich in ein Buch über die Geschichte Festlandchinas gehören — es sei denn, man würde heute noch den Vertretungsanspruch der Republik China über das Festland aufrechterhalten, der mit der Pensionierung der 1947 drüben gewählten Parlamentarier der Republik China Ende 1991 erlosch. In dieser Hinsicht wäre es möglicherweise ein Gewinn für „Chinas unbeachtete Republik“ gewesen, wenn Weyrauch sich bei den Passagen über Festlandchina nach 1949 ein wenig kürzer gefasst hätte.

Band 2: 1950-2011. 448 Seiten, 1. Auflage Januar 2011, Longtai Verlag Gießen, ISBN-10: 3938946156, ISBN-13: 978-3-938946-15-2. Verkaufspreis im Buchhandel: 32,80 Euro (Foto: Courtesy Dr. Thomas Weyrauch)

Immerhin muss man dem Autor zugutehalten, dass die parallele Darstellung den Gegensatz zwischen der Republik China und Festlandchina bei Freiheit, Menschenrechten und Demokratie sehr klar hervorhebt. Weyrauch nimmt im Hinblick auf die Verletzung von Menschenrechten durch die chinesischen Kommunisten wie schon in seinem 2005 erschienenen Buch „Gepeinigter Drache. Chinas Menschenrechte im Spätstadium der KP-Herrschaft“ kein Blatt vor den Mund, weswegen er seit einigen Jahren dort Einreiseverbot hat. (Jenes Werk ist online als PDF-Datei abrufbar.) Wenn man bedenkt, wie sehr die Weltgemeinschaft das diktatorische Regime in Beijing hofiert und dass Taiwan trotz seiner lebendigen Demokratie international immer wieder an den Rand gedrängt wird, kann man die Wichtigkeit solcher Hinweise gar nicht hoch genug einschätzen. Das Verständnis für Wendungen in der Tagespolitik wird dadurch ebenfalls erhöht. So leuchtet dem Leser ein, dass beim herannahenden 100. Jahrestag der Hsinhai-Revolution am 10. Oktober die Voraussetzungen für gemeinsame Feierlichkeiten auf beiden Seiten der Taiwanstraße fehlen, weil man in Festlandchina im Gegensatz zur Republik China auf dem Taiwangebiet noch weit von der Verwirklichung grundlegender Standards wie Demokratie und Menschenrechte entfernt ist.

Im zweiten Band erfährt der Leser so auch allerhand über den erstaunlichen Wandel der Republik China von einem straff geführten Staat unter Kriegsrecht zur heutigen Mehrparteiendemokratie mit Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit, wobei ausreichend auf die Aktivitäten der Opposition außerhalb der KMT („dangwai“ 黨外) und die 1986 aus ihr entstandene Demokratische Progressive Partei (DPP) eingegangen wird. Interessant sind überdies Details wie Ausführungen über den Wandel innerhalb der KMT, als anstatt wie in der Vergangenheit Militärangehörige in der Nachkriegszeit Technokraten dominierend wurden. Erwähnt werden natürlich außerdem die weiteren Meilensteine der Republik China auf Taiwan wie das Wirtschaftswunder ab den sechziger Jahren und die zunehmende außenpolitische Isolation ab den siebziger Jahren.

Leser, die mit der Realität im heutigen Taiwan vertrauter sind, erhalten bei der Lektüre freilich den Eindruck, dass die kritische Distanz und neutrale Objektivität, die der Verfasser bei seinen Einschätzungen vor allem im ersten Band gewahrt hat, in der hinteren Hälfte des zweiten Bandes stellenweise an Ausprägung verlieren — gerade die Schilderung der letzten anderthalb Jahrzehnte der Geschichte der Republik China lässt tendenziell Wohlwollen gegenüber der KMT und Vorbehalte gegenüber der DPP erkennen. Nichtsdestoweniger ist genau dieser Abschnitt, der die Aufhebung des Kriegsrechts 1987, die erste direkte Präsidentschaftswahl 1996, den ersten Machtwechsel mit dem Sieg eines DPP-Politikers bei der Präsidentschaftswahl 2000, die Rückkehr der KMT an die Macht durch den Triumph von Ma Ying-jeou (馬英九) 2008 und seine jüngste bahnbrechende Entspannungspolitik gegenüber dem chinesischen Festland abdeckt, für den Leser ungemein informativ und dank der Aufnahme von wichtigen Neuigkeiten bis zum vergangenen Jahr (Stichwort ECFA) brandaktuell.

Ebenso auflockernd wie aufschlussreich wirken da und dort Exkurse wie ein Vergleich der Persönlichkeit Chiang Kai-sheks mit seiner Nemesis Mao Zedong 毛澤東 (1893-1976), wobei der frühere Präsident der Republik China zwar nicht gerade rosig dargestellt wird, das Urteil über den Kommunistenchef hingegen (historisch akkurat) vernichtend ausfällt, keine Überraschung für alle, die das Buch von Maos Leibarzt Li Zhisui (李志綏) oder die Mao-Biografie von Jung Chang (張戎) und Jon Halliday kennen. Besonders lesenswert sind die Betrachtung des Autors über den völkerrechtlichen Status der Republik China und sein Interview mit Staatspräsident Ma Ying-jeou. Am Ende des zweiten Bandes wird die These entwickelt, in der die KMT als Modell für Festlandchina bei Demokratisierung empfohlen wird, ein Gedankengang, der angesichts der positiven Erfahrungen in Taiwan und den undemokratischen Zuständen auf der anderen Seite der Taiwanstraße unbedingt Beachtung verdient.

Bad in der Menge: Nach seinem deutlichen Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2008 dankt Ma Ying-jeou von der KMT im südtaiwanischen Chiayi den Wählern. (Foto: Cheng Yuan-ching)

Stärken und Schwächen

„Chinas unbeachtete Republik“ enthält alle wesentlichen Fakten, die zum Verständnis der Geschichte der Republik China notwendig sind. Geschrieben sind die beiden Bände in einem sehr gut lesbaren, lockeren Stil, der an eine anspruchsvolle Zeitungsreportage erinnert und sich wohltuend von manchen anderen Geschichtswerken akademischer Autoren unterscheidet, die den Gebrauch eines Fremdwörterlexikons unabdingbar machen. Auch der fachliche und berufliche Hintergrund des Verfassers — der promovierte Jurist Weyrauch (Jahrgang 1954) ist heute als Regionalkoordinator für Integration im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) tätig — beeinträchtigt nicht die Lesefreude, da man keine Spuren von sperrig bürokratischem Juristendeutsch finden kann.

Die Paperback-Ausgaben haben ein handliches Format (ca. 15 x 21 cm) und sind reichlich mit Bildmaterial, Tabellen, Karten und sonstigen Grafiken ausgestattet, was sie sehr anschaulich macht. Die Literaturliste, Verzeichnis der Bildnachweise und Wortregister am Schluss jedes Bandes lassen nichts zu wünschen übrig. Am chronologischen Aufbau der Bände ist selbstverständlich nichts auszusetzen, diese Struktur liegt bei Geschichtswerken nahe. Mit einer Unterteilung in Abschnitte, etwa Frühe Republikzeit 1911-1916, Periode der Warlords 1916-1928 usw., hätte man das Inhaltsverzeichnis aber noch übersichtlicher und die Bände dadurch noch besser benutzbar machen können.

Aufstoßen wird Taiwankundlern zweifellos die Wahl der Schreibweise von Personennamen und Begriffen in der Republik China. Bis auf ganz wenige Ausnahmen verwendet Weyrauch die ursprünglich auf dem Festland entwickelte Umschrift Hanyu Pinyin, die mittlerweile für die Transkribierung der chinesischen Standardhochsprache international üblich geworden ist — außer bei Orts- und Personennamen in Taiwan. So schreibt Weyrauch beispielsweise den Namen des ehemaligen Staatspräsidenten der Republik China Lee Teng-hui 李登輝 (geb. 1923, amtierte 1988 bis 2000) nicht in der in Presse und sonstigen Publikationen gebräuchlichen Weise, sondern gemäß Hanyu Pinyin: „Li Denghui“, mit den meisten anderen Namen von Politikern in der Republik China hält er es ebenso. In gleicher Weise wird die KMT, abweichend von Gepflogenheiten in der internationalen Presse und Taiwan selbst, „Guomindang“ genannt und die DPP „Minzhu Jinbudang“, eine Verfahrensweise, welche die Gefahr der Verwirrung birgt.

Trotz der Kritikpunkte muss gesagt werden, dass ein ausführliches Werk über die Geschichte der Republik China wie Weyrauchs vorliegende Arbeit immer zu begrüßen ist, da die im deutschsprachigen Raum verfügbare historische Literatur sich fast ausschließlich mit dem chinesischen Festland befasst. Zwar ist das von der Republik China seit 1949 kontrollierte Taiwangebiet erheblich kleiner als das von den chinesischen Kommunisten beherrschte Territorium, doch gerade die politische Entwicklung und Demokratisierung hüben seit Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 würde zweifellos mehr Aufmerksamkeit verdienen, wozu Weyrauch nun einen wichtigen Beitrag geleistet hat.

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