22.12.2024

Taiwan Today

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An jeder Ecke eine Überraschung

01.03.2010
(Foto mit freundlicher Genehmigung vom Westin Taipei)
Taiwan heute: Herr Klemm, seit wann leben und arbeiten Sie in Taiwan?

Jürgen Klemm:

Seit März 1988. Meine erste Arbeitsstelle war im Grand Hotel Kaohsiung, als F&B Consultant. [„F&B“ steht für Food and Beverages, zu Deutsch: Speisen und Getränke. Red.] Damals kannte man in Taiwan an westlichem Essen im Prinzip nur Sandwich und Steak, ich musste den Leuten praktisch beibringen, wo man die Gabel hinlegt. Nach neun Monaten im Grand Hotel erhielt ich von André Joulian, damals Direktor des Ritz-Landis Hotel in Taipeh, das Angebot, in Kenting an Taiwans Südspitze im Cesar Park Hotel — das Joulian kurz darauf übernahm — als Assistant F&B Manager zu arbeiten. Da war ich dann über zwei Jahre. In den Jahren, bevor ich zum Westin kam, habe ich unter anderem noch im Ritz-Landis, in Hsinchu, und mehrere Jahre im Viersternehotel Four Points by Sheraton in Chungho (Landkreis Taipeh) gearbeitet.

Nebenbei habe ich auch eine eigene Firma für Beratung im Gastronomie- und Hotelfachgewerbe. Die meisten meiner Kunden sind Baufirmen, deren Chefs eigentlich alle bei Null angefangen haben. Das Problem dabei ist, dass manche, die eine Firma aufgebaut haben und damit reich geworden sind, nicht einsehen können, dass die Welt sich geändert hat, und glauben, sie können das alles besser. Da sind oft auch berühmte Leute darunter. Die überwiegende Mehrheit von denen ist nicht gewillt, zuzuhören, und sie verstehen nicht, dass das Hotelfach nicht das Gleiche ist wie Containerbusiness. Alte Firmengründer wie Chang Yung-fa (張榮發) vom Evergreen-Konzern oder Wang Yung-ching (王永慶) von Formosa Plastics haben bis ins hohe Alter gearbeitet, oft weil sie ihren Kindern nicht trauen. Das ist Konfuzius, Respekt vor dem Alter, das hat sich in Taiwan bis heute nicht geändert, kann aber schlecht für die Effizienz sein. Die zweite Generation hat in Harvard studiert, doch in den Augen der Alten können die nichts. So etwas kann die Arbeit oft sehr schwer machen.

In welcher Hinsicht könnte sich Taiwans Hotelgewerbe von Deutschland eine Scheibe abschneiden?

Das Ausbildungssystem in Taiwan ist heute zwar besser als früher, aber immer noch verbesserungsbedürftig. In Europa kann man in der Gastronomie effizient arbeiten, weil man das dort von Grund auf gelernt hat. In Taiwan läuft noch der Versuch, das deutsche Ausbildungssystem einzuführen mit 3 Jahren Lehre, allerdings ist das schwierig, weil die Taiwaner meist nicht so viel Geduld haben und keine begleitenden Berufsschulen da sind. In Deutschland arbeitet ein Lehrling vier Tage, hat dann einen Tag Berufsschule und anschließend zwei Tage frei, und eine Lehre dauert drei Jahre. In Taiwan wollen die jungen Leute schon nach vier Wochen eine Beförderung haben, weil sie glauben, sie hätten schon alles gelernt. Sie haben keine Geduld, weil eine Berufsausbildung für Nicht-Studierte hier einfach nicht existiert oder sie zumindest nicht zu einem anerkannten Abschluss mit Diplom führt.

In Taiwan wollen alle studieren, und wenn sie studiert haben, finden sie heute auch keinen Job mehr. Früher kamen 20 Prozent der Oberschulabsolventen an die Uni, heute 98 Prozent. Da ist wieder Konfuzius das Problem, die studieren, können aber in der Praxis nur wenig. Das ist völlig nutzlos. Traditionelle Betriebe und Berufe wie Autowerkstätten, Restaurants, Köche und das Dienstleistungsgewerbe sind in Taiwan wenig respektiert. Handwerker erhalten keine ganze Ausbildung in Taiwan. Warum sind gerade deutsche Autofirmen so gut? Weil die Jungs dort erst gelernt haben, Techniker zu sein, bevor sie was machen dürfen, und nicht nur studiert haben. Taiwans Bildungsministerium verlangt, dass alle hauptamtlichen Hochschullehrer einen Doktorgrad haben. Soviel Doktoren gibt es aber nicht im Hotelfach. In unserem Fach braucht man keinen Titel, sondern einen gute praktische kaufmännische Ausbildung und Erfahrung.

Jürgen Klemm, General Manager des Hotels Westin Taipei. (Foto mit freundlicher Genehmigung vom Westin Taipei)

Wohnen Sie selbst permanent im Westin?

Nein. In Taiwan ist das nicht mehr nötig, die Angestellten haben alle eine gute Grundausbildung absolviert, sind in gute Schulen gegangen und können alle Englisch. Das Mittelmanagement ist schon recht stark. Zu jeder Uhrzeit sind Mitarbeiter da, tagsüber natürlich mehr, Techniker, Security usw., nur die Restaurants sind nachts zu. Heute muss man die Taiwaner nicht mehr so rigoros bei der Arbeit überwachen, viele haben im Ausland studiert, sind gereist und haben viel gesehen. Hier muss man den Leuten Verantwortung geben, sie können nicht besser werden, wenn man ihnen nicht etwas Freiraum gibt.

Inwieweit unterscheidet sich das Westin von einem vergleichbaren Fünfsternehotel in Deutschland?

Hier im Westin haben wir sieben Restaurants und die Bankettabteilung. In Deutschland hat ein Hotel höchstens ein Restaurant, nur für Hotelgäste. In Deutschland geht sonst keiner zum Essen ins Hotel. In Taiwan dagegen haben die Restaurantgäste und die Hotelgäste nichts miteinander zu tun. Unsere Hotelgäste gehen vormittags raus und kommen erst abends wieder, ihre taiwanischen Bekannten laden sie zum Essen in ein anderes Hotel ein. Unsere Restaurantgäste kommen von draußen zum Essen her. Die Ursache dafür ist die traditionelle Gastfreundschaft hier in Taiwan. In Deutschland ist es üblich, Leute nach Hause einzuladen und zu kochen. In Taiwan ist so etwas sehr ungewohnt. Zu Hause kochen und essen? No face! Davon leben wir hier im Westin und in anderen Hotels und Restaurants. Grob gesagt machen im Westin Restaurants, Banketts und Zimmer jeweils ein Drittel der Einnahmen aus.

Wie hat sich die Wirtschafts- und Finanzkrise auf das Hotelgewerbe in Taiwan ausgewirkt?

Bei den Hotels ist das Geschäft natürlich stark runtergegangen. Etwa die Hälfte der Firmenkunden blieben weg, das Geschäft für Jahresend- und Hochzeitspartys brach ein, aber die Personalkosten blieben freilich. Nun hat Taiwan großes Glück gehabt, dass sich praktisch aus dem Nichts ein neuer Markt auftat, als infolge der politischen Veränderungen 2008 festlandchinesische Besucher ins Land durften. Insgesamt gibt es in Taipeh vielleicht 20 000 Hotelzimmer, und wenn dann 3000 Chinesen kommen, ist das gut, weil die durchschnittliche Belegung steigt.

Das Problem war, dass die taiwanischen Reisebüros sich anfangs gegenseitig beim Feilschen um die Reisenden vom Festland unterboten. Einer bot ein Hotelzimmer für 3000 NT$ (66 Euro), der nächste dann für 2800 NT$ (62 Euro), wieder der nächste für 2600 NT$ (57 Euro) und so weiter, das war total kurzsichtig. Die Chinesen haben bestimmt nicht gesagt, dass es unbedingt billig sein muss, die hätten wohl auch 3500 oder 4000 NT$ (77 / 88 Euro) gezahlt. Die Reiseagenturen hier haben sich aber gegenseitig ausgespielt.

Wir hier im Westin machen das Billiggeschäft nicht mit und gehen nicht für die Chinesen 30 bis 40 Prozent mit dem Preis runter. Deswegen sind bei unserer aktuellen Belegung höchstens 10 bis 15 Prozent der Gäste Festlandchinesen. Wir wollen hier im Haus nicht so viele Reisegruppen, das Westin ist mit 288 Zimmern eines der kleineren Fünfsternehotels in Taipeh, wir verfügen gar nicht über genügend Doppelzimmer für große Reisegruppen (wir haben nur 50 Doppelzimmer).

Übrigens wurden von Taiwans Tourismusamt Listen ausgegeben mit sprachlichen Tipps, da man auf dem Festland in der chinesischen Sprache teilweise andere Redewendungen und Begrüßungsformeln benutzt als hier in Taiwan, so sagt man beispielsweise drüben am Morgen zaoshang hao (早上好), hüben dagegen zao an (早安). Ich persönlich halte nichts davon, die Festlandchinesen in Taiwan so zu behandeln wie in China. Warum kommt denn ein festlandchinesischer Besucher nach Taiwan? Weil er Taiwan sehen will. Wenn man ihn behandelt wie einen Taiwaner, hat man die besten Chancen, ihn zu beeindrucken. Die Festlandchinesen verstehen es ja, wenn man sie morgens mit zao an begrüßt. Man reist doch in ein anderes Land, weil man was erleben will! Sonst kann man gleich zu Hause bleiben und fernsehen.

Mit 288 Zimmern ist das Westin eines der kleineren Fünfsternehotels in Taipeh. (Foto mit freundlicher Genehmigung vom Westin Taipei)

Wenn Europäer oder Amerikaner einen Urlaub in Asien planen, denken die meisten von ihnen eigentlich eher nicht an Taiwan...

Zu Unrecht. Die meisten Gäste, die in Taiwan und in China waren, sagen, Taiwan ist doch so viel besser. Taiwan hat viele Vorteile und Pluspunkte, versteht das aber nicht zu verkaufen. Was wählt da beispielsweise das taiwanische Tourismusamt als Logo? Taipei 101. In Shanghai stehen quasi 50 ähnliche Türme an der Wasserfront. Es ist mir unverständlich, wie kann ein neues Gebäude der größte Verkaufspunkt der Insel sein? Dafür gibt es auf Taiwan 250 Berge über 3000 Meter, auf den höchsten Bergen liegt Schnee, die Leute sind freundlich, aber das weiß kein Mensch! Jeder, der herkommt, ist positiv überrascht. Warum weiß das keiner? Weil man das falsch verkauft. Taiwan ist eine wunderschöne Insel, und ich habe Leute um die Insel geschickt, die hatten großartigen Urlaub. Leider hat sich hier keiner über die Vermarktung des Produkts Tourismus Gedanken gemacht. Man muss herausfinden, was will eigentlich der Deutsche, Amerikaner oder Japaner haben, der hier rüberkommt?

Einmal kam ein Cousin von mir mit einer Gruppe aus dem bayerischen Mittenwald nach Taiwan. Am Tag nach der Ankunft in Taipeh reisten sie programmgemäß mit dem Flugzeug nach Hualien und ab in die Tarokoschlucht. Dort fragten die Bayern sich, was wollen wir in den Bergen? Haben die Reisfelder hier? Aber Reisfelder wurden denen nicht gezeigt, denn in den Augen der Taiwaner gibt’s da ja nichts zu sehen. Da wurde eben nie daran gedacht, was der Kunde will. Dass die Taiwaner sich keine Reisfelder anschauen, ist klar, aber wer aus Bayern kommt, ist wohl von Reisfeldern mehr begeistert als von Bergen.

Ich kannte mal ein Ehepaar aus Deutschland, die beiden waren vorher schon überall in der Welt gewesen. Denen hatte noch bei der Anreise im Flieger von Cathay Pacific die Stewardess gesagt, in Taiwan gäbe es nichts zu sehen, und in Frankfurt im Taipeh-Tourismusbüro hatte man denen geraten, in Taipeh im Hotel zu wohnen und Tagesreisen zu machen, also stiegen sie in Taipeh im Hotel ab. Da habe ich ihnen gesagt, zwei Wochen im Hotel, bloß nicht, und habe ihnen einen Reiseplan gestaltet — Lugang, Tainan, zwei Tage Kenting, Taitung, Chihben. Die kamen wieder und sagten, das sei einer der besten Urlaube gewesen, den sie je gehabt hatten, dabei reisen sie jedes Jahr zwei Mal. Bei der Busfahrt nach Taitung im Osten Taiwans mit der schönen Aussicht haben sie häufig ihre Beta-Kamera gezückt, da hat der Linienbus immer gleich angehalten, und die anderen Fahrgäste klatschten noch freundlich! Das ist Taiwan! Das ist das Schöne an Taiwan, dass sich das nie geändert hat, nach all der Entwicklung sind die Taiwaner heute genauso freundlich wie vor 20 Jahren. Das soll kein Verkaufspunkt sein?

Ich freue mich über jeden, der sagt, Taiwan ist schön. Wer das nicht findet, hat Taiwan nicht verstanden, der hat was falsch gemacht. Taiwan ist ein wunderschönes Land mit freundlichen Leuten, man wird nicht schräg angeschaut, gekidnappt oder ausgeraubt. Taiwan war immer ein sehr sicheres Land. Die meisten Länder der Umgebung sind nicht so. Irgendwo habe ich dann mal einen passenden Slogan gesehen: „Taiwan—a surprise around every corner“. Genau das ist es, das ist perfekt! Die Leute kommen her, erleben die Insel und finden die Überraschungen meist richtig gut.

Das erfahren auch die Geschäftsreisenden. Man muss die Taiwaner persönlich kennen lernen, dann ist das Geschäftemachen hinterher kein Problem mehr. Ich kannte mal zwei Geschäftsleute, die nach Taiwan kamen und bei der laufenden Fahrradmesse faltbare Fahrräder kaufen wollten. Bei acht, neun Firmen haben sie Voranzahlungen geleistet, um Muster zu bekommen, und haben hinterher prompt von allen die Muster nach Deutschland geschickt bekommen. In China haben sie zehn Firmen Geld für Muster bezahlt, erhielten danach aber von nur drei Firmen Muster, die anderen sieben steckten das Geld ein, und von denen hörte man nichts mehr. Die beiden kommen jedes Jahr wieder nach Taiwan, schauen sich um und kaufen, die finden das ganz toll hier. Abends gehen sie mit ihrem Taschenrechner auf den Nachtmarkt und haben Spaß, obwohl sie kein Wort Chinesisch können. Auf dem Taschenrechner tippen die Verkäufer die Preise ein, die kann jeder lesen.

Man hört immer wieder den Einwand, außerhalb von Taipeh gäbe es zu wenig Beschilderung in englischer Sprache, weswegen sich Touristen nur schwer zurechtfänden.

Wenn man sich traut, ist das überhaupt kein Problem, denn heute steht fast überall auf den Schildern auch die englische Umschreibung drauf. Wenn man als Ausländer mit einem Stadtplan in der Hand verloren auf der Straße steht, kommen sehr oft gleich junge Leute an und helfen, auch wenn sie nur drei Worte Englisch können. Immer wieder kommt es vor, dass man von wildfremden Leuten sogar im Taxi bis ins Hotel begleitet wird, und die lassen sich das noch nicht mal bezahlen. Das ist Taiwan!

Irgendwann wird man Taiwan als Reiseland entdecken. Das muss man aber nicht den Massen-Touristen verkaufen, sondern den Erlebnis-Touristen, die daran dann auch Freude haben. Taiwan würde ich als „organisiertes Chaos“ beschreiben, was für junge Leute sicher kein Problem ist, wenn man es so vermarktet. Wir haben freundliche Leute, ein sicheres Land, wunderbare Natur bis auf 4000 Meter über und unter dem Meer, was will man mehr? Die Leute fahren ja auch in Urlaub nach Indien, was noch chaotischer sein muss als hier. Beeindruckend ist es auf jeden Fall.

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