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Die Entdeckung Chinas aus europäischer und chinesischer Sicht

01.05.1992

Es war schon immer ein Traum vieler Menschen, eine fremde Welt zu entdecken und nach etwas Neuem zu suchen. Von allen Ländern der Erde, ist es China, das am meisten Faszination ausgeübt hat, doch trotz seiner alten Hochkultur relativ spät in seinem Ganzen entdeckt wurde. Für China bestand nur das “Land der Mitte” auf der Erde, China selbst war schon die ganze Welt; im Abendland kannte man im Altertum nur das “Land der Seide”, während die Identifizierung von China mit ganz bestimmten Produkten erst in der Neuzeit stattfand. So hatte die holländische Ostindien-Handelskompanie im 17. Jh. jenes wertvolle Ming-Porzellan nach Europa gebracht, das in Delft vielfach kopiert wurde und im englischen Sprachgebrauch kurz als “china” bekannt geworden ist. Und Maler und Künstler haben jene Tusche zum Zeichnen benutzt, die auch heute noch als “china ink” Verwendung findet. Gleichermaßen müßte auf viele andere Erfindungen aus China, die erst später in anderen Teilen der Welt Nachahmung fanden und überall zu einer Revolution der Kulturgeschichte geführt haben - sei es die Buchdruckkunst, das Schießpulver, die Teigwaren und vieles andere -, der Zusatzname “china” angefügt werden.

Die Berührung mit China hat auch die Phantasie und Begeisterung der großen Gelehrten des Abendlandes beflügelt, deren Bild von China allerdings oft etwas märchenhafte Züge trug. So nimmt es nicht Wunder, wenn etwa ein Johann Wolfgang von Goethe im Jahre 1813 an einen Freund Knebel schreibt: “Besonders habe ich China, und was dazu gehört, fleißig studiert. Ich habe mir dieses wichtige Land gleichsam aufgehoben und abgesondert, um mich im Falle der Noth, wie es jetzt auch geschehen [napoleonische Kriege] dahin zu flüchten. Sich in einem ganz neuen Zustand auch nur in Gedanken zu befinden, ist sehr heilsam.”

Erst die Entwicklung im 19. Jh. hat die Möglichkeit der Zusammenführung der beiden verschiedenen Kulturkreise des Westens und Ostens gebracht und damit auch eine eingehende Entdeckung Chinas erlaubt.

Chung-kuo - das Reich der Mitte

Europa und China: zwei Kontinente von sehr unterschiedlicher natürlicher Beschaffenheit, deren Gegensätze nicht größer sein könnten. Dem halbinselartigen Abendland, wo im 1. Jahrtausend v. Chr. Griechenland zum geistigen und politischen Führer aufstieg, ist im Fernen Osten der weite, in sich gebundene Kontinent China gegenübergestellt. Während die Griechen aus ihrer klein gekammerten Heimat am Rande Südost-Europas unruhig zur See hinausströmten, begannen die chinesischen Staaten schon lange vor der Reichseinigung im 3. Jh. v. Chr. das Land zwischen den Steppen des kalten Nordens und den Küsten des subtropischen Südens systematisch zu erschließen. Eine Leistung, die die Vorstellung von Chung-kuo (中國), dem “Land der Mitte” (oder “Reich der Mitte”), begreiflich macht.

Mit dem Kennenlernen des Begriffs Chung-kuo beginnt die Entdeckung von China, das in den ältesten Beschreibungen nur schematisch gezeichnet ist. Ein Zonenmodell aus der Chou-Zeit (11.-3. Jh. v. Chr.) beschreibt das Zentrum Chinas als “Sitz des Herrschers”, das von anderen Ländern mit nach außen hin abnehmender Kultur umgeben ist. In der frühen Chou-Zeit war das Reichszentrum als Kuo (“Land, Staat, Mark”) bezeichnet, das im Flußtal des Wei-ho beim heutigen Hsi-an lag und aus einer rechteckig ummauerten Stadt bestand. Als im Laufe der Chou-Dynastie weitere Territorialstaaten mit eigenen Verwaltungszentren entstanden, wurde die Residenz des Chou-Königs als Chung-kuo bezeichnet, als “Zentralstaat” oder “Land der Mitte”. Dieser Begriff wurde mit der Reichseinigung Chinas im 3. Jh. v. Chr. auf das gesamte China der Ch’in-Dynastie übertragen und blieb seitdem Synonym und Kurzform für China.

Der im Westen bekannte Name “China” erscheint in Europa erstmals auf einer spanischen Weltkarte des 16. Jh.s (Portulan von Kaiser Karl V., 1537 als Geschenk an den spanischen König Philippe II.) und wenig später in der europäischen Literatur (1585 erfolgte erstmals eine umfassende Beschreibung Chinas durch den spanischen Augustinermönch Gonzales di Mendoza, die von Dresserus übersetzt und kommentiert wurde: “Historien und Bericht von dem Newlicher Zeit erfundenen Königreich China”, Halle 1585).

Über die Herkunft des Namens “China” wird bis heute gerätselt. Der Missionar Martin Martini verweist als erster in seinem berühmten China-Atlas “Novus Atlas Sinensis” (Wien 1655) auf den Zusammenhang mit dem Wort Ch’in, das die erste Kaiserdynastie benennt.

Ch’in war im 4./3. Jh. v. Chr. noch ein Territorialstaat im Nordwesten Chinas. Seine Lage im Lößgebiet war von strategischer und wirtschaftlicher Schlüsselstellung und ermöglichte den Aufstieg zum mächtigsten unter den nach Hegemonie strebenden Staaten Chinas. Von einer neuen Hauptstadt Hsien-yang bei Hsi-an führte jene berühmte Handelsstraße nach Zentralasien, die später vom Geographen Ferdinand Freiherr von Richthofen als “Seidenstraße” benannt worden ist. Auf ihr gelangte Chinas feinstes und berühmtestes Produkt des Altertums bis nach Indien, wo außer der Seidenware nur der Name Činastana oder Maha-Činastana bekannt war (wie im Mahabharata geschrieben), von dem noch die heutige indische Bezeichnung für China Mačin herrührt. Von indischen Häfen kam die Seide auf dem Seeweg nach Persien, wo von der “Ware aus Zinistan” gesprochen wurde - ein im Vorderen Orient bis ins frühe Mittelalter bekannter Name.

Über Arabien hatten Meder die Seide in Mittelmeergebiet Europas weiterverkauft, so daß der griechische Historiker Herodot (5. Jh. v. Chr.) eingehend über die medischen Gewänder berichtet, die im Volksmund auch als “serische Ware” bekannt waren.

Für die Chinesen war China viel mehr als nur das Herkunftsland der Seide. Es war ein riesiger Kulturraum, der mit der Welt als solcher gleichgesetzt war. Die Vorstellung von dieser Welt war kosmisch und universalistisch. Im Westen war sie durch die Wüste (“Fliegende Sande”) abgeschlossen, im Süden durch den Dschungel, im Norden durch kaltes Steppenland und im Osten durch Wasser (Ost-Meer). Dieses China ist in “Tribute des Yü” (“Yü-kung” 禹貢) während der späten Chou-Zeit beschrieben worden. Eine bildliche Rekonstruktion dieses Textes (der vermutlich im 5.-3. Jh. v. Chr. entstanden ist und der in den chinesischen Geschichtsannalen immer wieder erwähnt wird) zeigt vor allem die eingehende Beschreibung der Gewässer mit den beiden Hauptströmen des Gelben Flusses (Huang-ho) und des Jangtsekiang (Ch’ang-chiang). Es ist dies ein Zeichen für die chinesische Hochkultur, die, wie alle Hochkulturen der Alten Welt, eine Wasserbaukultur war. Ihre Wiege lag im Lößtal des Wei-ho und Huang-ho, der Kernraum der Entstehung der chinesischen Zivilisation. Die im “Yü-kung” erwähnten “Neun Provinzen” (Chiu-chou 九州) sind mehr symbolische Beschreibung, die der schematischen Vorstellung eines Ur-China entspricht. Rekonstruiert man aber ein solches Ur-China, so erhält man das Bild einer wohlgeordneten Ackerbau- und Siedlungslandschaft im Dreieck des unteren Huang-ho (Provinz Shan-hsi), wo die ersten ummauerten Städte entstanden sind, die erste Bronze gegossen wurde und sich das Wunder der chinesischen Schrift ereignet hat. Dieses Gebiet wurde später als Hsia bekannt, das zum Begriff eines ersten chinesischen Staates und einer “ersten Dynastie” wurde.

Während der ersten offiziellen Dynastien Shang und Chou (2. und 1. Jahrtausend v. Chr.) stand der Name Hsia für die Anfänge der chinesischen Kultur und Zivilisation; von ihm wurde später der Begriff “Land der vielen Hsia-Staaten” (Chu-hsia) abgeleitet, mit dem die Territorialstaaten der Chou-Dynastie bezeichnet waren. Unklar ist jedoch die Wortverbindung Hua-hsia, die ebenfalls den Kulturraum China bezeichnet und unter anderem mit dem Namen Chung-kuo gleichgesetzt worden ist. Von beiden aber ist jeweils ein Wort im heutigen Staatsnamen Chinas erhalten geblieben, nämlich Chung-hua Min-kuo - Republik China - ein Zeichen der Beständigkeit eines hervorragend gewählten Namens für China.

China - das Land der Seide

Seit dem Niedergang der relativ kurzen Ch’in-Dynastie (2. Jh. v. Chr.) und dem Einfall von nomadisierenden Steppenvölkern aus dem Norden wurde der Handel über die Seidenstraße empfindlich gestört. Er lebte jedoch schnell wieder auf, als der bedeutende Erobererkaiser Han Wu Ti (reg. 140-87 v. Chr.) den heutigen Kansu-Korridor und Ost-Turkestan (Kansu, Hsinkiang) militärisch besetzte und dem Han-Reich anschloß. Die Seidenstraße, die am Rande der Gobi-Wüste und der nördlichen Ausläufer der tibetischen Gebirgsketten verläuft, wurde nach Norden hin mit einer starken Mauer geschützt, die als Fortsetzung der Großen Chinesischen Mauer bis nach Tunhuang verlief. Mit der Sicherung dieser Verkehrsachse und Lebensader nach Westen und der Erschließung der Oasen des Tarimbeckens war die Voraussetzung für eine direkte Verbindung zu den Ländern im westlichen Asien gegeben. Zweige der Seidenstraße führten über die Dsungarische Pforte oder über Kashgar und den hohen Pamir nach Zentralasien, trafen sich im Gebiet von Samarkand und setzten sich über die Oase Merv und Persien nach Mesopotamien bis Antiochia fort. Baktrische Kamele transportierten in monate- und jahrelangen Karawanenzügen Waren von China bis ans Mittelmeer und umgekehrt. Noch heute können in Zentralasien überall Goldmünzen aus der Zeit Alexander des Großen und der Römer gefunden werden. Mit wertvollem Gold hatten vor allem die Römer ihren feinen Damen der Hauptstadt die exklusiven Kleider gekauft - zur nicht geringen Entrüstung der Öffentlichkeit. Doch die Händler der Seidenstraße lieferten auch billigere Seide, wie die Rohseide (metaxa) oder die Seidengarne (nema serikon), neben vielen anderen exotischen Produkten (Reis, Kupfer etc.).

Gegen Ende des 1. Jh.s v. Chr. büßte das Han-Reich die Kontrolle über seine Außengebiete ein, während das Römische Reich mit der Einnahme Ägyptens den Höhepunkt seiner Herrschaft erreichte. Die Seidenstraße verlor damit wieder einmal an Bedeutung, während die Seewege den Handelsverkehr übernahmen. Damit konnten die teuren persischen und nabatäischen Zwischenhändler umgangen werden und gleichzeitig Waren aus Indien und Hinterindien bezogen werden. Der Seeweg folgte den Küsten des Roten Meeres und der arabischen Südküste und endete in Südchina (Jih-nan-chün, das Gebiet um Tongkin). Trotz dieser Verbindung zwischen Europa und China wußte man nur wenig über die beiden Kulturkreise. Das Imperium Romanum wurde in der chinesischen Literatur schlichtweg als Ta Ch’in (“Groß-Ch’in”) bezeichnet und damit - bewußt oder unbewußt - mit dem Ch’in-Reich des ersten chinesischen Kaisers in Bezug gesetzt. Umgekehrt gibt es auf der ältesten römischen Seefahrtkarte, dem “Periplus des Erythräischen Meeres” (um 100 n. Chr.) ein Land “Thinai”, das später immer wieder mit dem lateinischen Namen “Sina” erwähnt wird. In Kapitel 64 der Seefahrtkarte (der Autor des Textes ist unbekannt) heißt es dazu: “... jenseits dieses Landes [Indien], nun unter dem hohen Norden, kommt das Meer draußen zu einem Ende irgendwo: dort liegt eine große Inlandstadt Thina, von wo Rohseide und Seidengarn sowie China-Kleidung über Land nach Barugaza durch Baktrien und dann nach Limurike über den Ganges gelangen. Dieses Thina ist nicht leicht zu erreichen, wenige Leute kommen von dort und nicht viele gehen dort hin. Das Land liegt unter dem Kleinen Bären und soll an dem Pontus und dem Kaspischen Meer enden.”

Das Interesse der Perser (Partherreich An-hsi) und der Chinesen an den Handelsbeziehungen über die Seidenstraße hat während der späten Han-Dynastie die Beziehungen via Zentralasien wieder aufleben lassen, die auch durch den Austausch von Diplomaten (wie Chang Ch’ian 張騫 oder Kan Ying 甘英) unterstützt wurden. Doch trotz der nun bestehenden Land- und Seewege (auch das “Han-shu” berichtet in den Kapiteln 12 und 28 von den Seewegen des 1. bis 3. Jh.s) zwischen China und dem Westen kam es zu keiner weiteren Annäherung der beiden großen Kulturkreise - eine einzigartige Gelegenheit, die den Völkern des Altertums in China und im Imperium Romanum verlorengegangen ist. Geblieben sind nur vage Begriffe, die aber für lange Zeit den Kenntnisstand über die beiden verschiedenartigen Kulturbereiche bestimmten. Im Westen ist er im Weltbild des Ptolemäus (ca. 150 n. Chr.) dokumentiert, wo es (im 7. Buch, Kap. 3) heißt: “Sinai und die Siner sind im Norden durch jenen Teil begrenzt, der schon zu Serica gehört, im Osten und Süden durch ein unbekanntes Land, im Westen durch das ‘Indien jenseits des Ganges’ ...”

Der Zerfall Chinas am Ende der Han-Dynastie führte wieder zu einer Isolation der beiden Kulturkreise. Für den Westen gab es - laut der Geographie des Ptolemäus - im Fernen Osten nur ein Land “Serica” - ein “Seidenland”, mit dem Nordchina gemeint war, während Südchina als “Sinai” bzw. “Thina” beschrieben ist. Auch Pei Hsiu (斐秀 3. Jh.), der “chinesische Ptolemäus”, zeichnet ein Bild von China, das nicht klar geordnet ist und sich im wesentlichen an den Text des “Yü-kung” anlehnt. Damit blieb das Wissen über China im Ausland weitgehend auf das fremde Seidenprodukt beschränkt, im Inland auf die stolze Vorstellung vom “Land der Mitte”.

China und das Weltbild des frühen Mittelalters

Trotz der Teilung Chinas vom 3. bis 6. Jh. n. Chr. hat die Verbindung zum Westen abwechselnd über Land oder See fortbestanden. Auf dem Weg nach Indien, der von der Seidenstraße in Zentralasien nach Süden abzweigte, pilgerten fromme Buddhisten, die zu bedeutenden Trägern des Kulturaustausches zwischen China und Indien wurden. Unter ihnen waren z. B. die Mönche Fa Hsien (法顯) und Hui Sheng (惠生), die im 5. bzw. 6. Jh. gelebt haben und deren Reiseberichte zur Erweiterung des chinesischen Weltbildes beitrugen. Fa Hsien, der über Hsinkiang via Kashgar in das Industal und zum unteren Ganges gereist war (wo er die buddhistischen Heiligtümer besuchte) und über Ceylon und Java nach Shantung in China zurückkehrte, berichtete in einem ersten Kapitel seiner Beschreibung Zentralasiens (Ost-Turkestan): “In dieser Wüste gibt es zahlreiche böse Dämonen. Oft wehen heiße Winde, die den Reisenden töten. Vögel gibt es nicht und auch keine wilden Tiere. Aber soweit das Auge reicht, ist der Weg durch menschliche Gebeine gekennzeichnet, die beim Versuch, die Wüste zu überqueren, das Leben eingebüßt haben. In ihr reisten wir 17 Tage lang über eine Strecke von 1500 Li und gelangten dann in das Königreich Shanshan ...” Noch phantastischer klingen die Berichte des späteren und berühmtesten Pilgers, nämlich Hsüantsang (玄奘), der “Tripitaka”, welcher im 7. Jh. nach Indien reiste. Seine Erzählungen wurden zum Gegenstand des berühmten Romans der Ming-Zeit “Reise in den Westen” (Hsi-yu chi 西遊記). Die Texte beschreiben, aber nur in märchenhaften Zügen, Land und Leute westlich des chinesischen Kulturkreises und lassen eine weitere Entdeckung Chinas vermissen.

Im buddhistischen Weltbild wird die Lage des Paradieses im Westen beschrieben, wohl als Folge des von China aus westlich gelegenen Nordindiens. Im christlichen Weltbild des Mittelalters, das seit dem 4. Jh. das riesige byzantinische Reich bestimmt hat, herrschte andererseits die Vorstellung eines Paradieses im Osten, an der nur einige wenige Kaufleute zweifeln mochten, die ihre Beziehungen zum Handel der Seidenstraße unterhielten. Der berühmte “Kosmas Indigopleustes” aus Alexandria vermerkt hierzu: “Falls das Paradies wirklich auf Erden wäre, würden viele in Lerneifer und Wißbegier dorthin zu gelangen versucht haben. Denn wenn wegen der Seide, also um elender Handelsgeschäfte willen, einige nicht zögerten, zu den äußersten Enden der Welt zu fahren, wie hätten sie nicht Reisen unternommen, um das Paradies zu erblicken!”

Das byzantinische Reich, das im Osten vom persischen Einflußbereich begrenzt war, konnte nur schwer zu Land die Verbindung über Zentralasien nach China aufrechterhalten, und es ist daher nicht verwunderlich, wenn ein Marcianus von Herakleion (5./6. Jh.) in Byzanz ganz in Anlehnung an Ptolemäus schreibt: “Sinai, das ist die Grenze zwischen der bekannten und unbekannten Welt.” Oder wenn es lediglich heißt, es gäbe “ein Land Serica im Osten von Skythien”. Noch unklarer bleibt der Historiker Theophylactus Simocatta, der ein Land “Taugast” beschreibt. Vielleicht meint er damit “Tobgac”, das Reich der Toba-Wei (Nördliche Wei-Dynastie, 386-534) in Nordchina, das turkstämmige Fremdherrscher regierten. Ihre grandiosen Höhlentempel (Lung-men bei Loyang und Yün-gang bei Ta-t’ung) sind Zeugnisse der buddhistisch-religiös orientierten Staatsmacht und der allgemeinen guten Verbindung zu den Ländern des Westens. Dort allerdings wußte man über China nicht viel mehr als vor Jahrhunderten. Nur die Kenntnis von Seide, die “Seres”, die auch über Indien gehandelt wurde, und des Namens “India” hat zur Entstehung des Kunstnamens Serinda geführt, der in Persien und Arabien bis ins 17. Jh. (als “Serendib”) geläufig war.

Der Aufgeschlossenheit und Offenheit der Nördlichen Wei-Dynastie war es zu verdanken, daß im 5./6. Jh. eine Wende in der Entdeckung Chinas eintrat. Zu dieser Zeit erschien von Li Tao-yüan (麗道元) das Werk “Kommentar zum Buch der Gewässer” (Shuiching-ch’u 水經注). Es handelt sich dabei um eine Auswertung aller bisher vorliegender Reiseberichte über China und um eine Sammlung der seit dem 5. Jh. v. Chr. erstellten Geographien (“Shan-hai-ching”, “Yü-kung”, die “Ti-li-chi” der Annalen, Enzyklopädien der Han-Zeit, die “Fang-chi”, das “Huayang Kuo-chi” und das “Shui-ching” selbst, das “Buch der Gewässer”). Es werden rund 1252 Flüsse beschrieben, dazu die Provinzen, Distrikte, Siedlungen, die historischen Stätten, die Anbaugebiete und Produkte, wasserbauliche Maßnahmen, Volkslieder, Sprichwörter aus dem lokalen Sprachkreis sowie Legenden und Märchen. Das Shuiching-ch’u beschreibt anschaulich die historische Landschaft Chinas und gilt als dessen bedeutendste Geographie vor der Sui- bzw. T’ang-Dynastie. Es wurde zum Standardwerk für alle späteren geographischen Werke und immer wieder neu kommentiert.

Als mit Entstehung des T’ang-Reiches (7.-10. Jh.) China wieder seine Größe wie zur Han-Zeit erreicht hatte und die Reichsgrenzen bis weit nach Zentralasien vorgeschoben waren, kam es erneut zu einem intensiveren wirtschaftlichen Austausch mit den Ländern des Westens, dem die Einfuhr fremder Ideen folgte. Aus dem Vorderen Orient waren Christen, Juden, Perser, Araber und viele andere Völker nach China gereist. Im Pei-lin-Museum zu Hsi-an berichtet eine Steinstele aus dem Jahre 781 von der Einführung des nestorianischen Christentums (636 durch den T’aitung-Kaiser der T’ang-Dynastie gebilligt); arabische Moscheen (wie in Hsi-an oder Kanton) erinnern an die Handelstätigkeit der moslemischen Araber, deren Geldgeschäfte meist über jüdische Zwischenhand verliefen. Immerhin war im 8. Jh. das neue arabische Weltreich (das von Zentralasien bis zum Atlantik reichte) zum unmittelbaren Nachbarn Chinas geworden, das Gelehrte eingehend zu beschreiben versuchten. Die von Abu Said gesammelten Schriften von Ibn Wahab und Soliman sind in dem Werk “Über China und Indien” (Akhbar al-Sin wa’l Hind) zusammengefaßt und ergeben ein erstes genaueres Bild über China aus westlicher Sicht.

Zur gleichen Zeit etwa (um 801) war in China die “Reichskarte der chinesischen und nicht-chinesischen Völker” (Hai-nei Hua-yi-t’u 海內華夷圖) von Chia Tan (賈躭) erschienen, die auf einer späteren Sung-zeitlichen Stele erhalten blieb. Weitere Kenntnis über China lieferte das heute noch erhaltene Werk “Yüan-ho Chün-hsien T’u-chi” (元和郡縣圖志), das 813 erstmals über die strategische Bedeutung der Siedlung berichtete, sowie das “Kua-ti-chi” (括地志), eine Zusammenfassung regionaler Enzyklopädien über Landschaften und Siedlungen Chinas.

Da Europa und das byzantinische Reich durch die islamisch-arabische Macht im Osten von der übrigen Welt abgeschnitten bzw. sogar bedroht waren und seit dem 9. Jh. die Blütezeit des T’ang-Reiches sich dem Ende zuneigte, verödeten die Landwege durch Zentralasien, wo türkische Stämme das Vakuum für die Errichtung ihrer Machtzentren nutzten. Der Westen blieb in seiner Kenntnis über China und die Welt auf dem Stand des ptolemäischen Weltbildes. Selbst Al-Idrisi, ein namhafter Geograph am Hof des Normannenkönigs zu Palermo, hatte eine Weltkarte gezeichnet (ca. 1150), auf der China so gut wie ein weißer Fleck blieb.

Auch im China der Sung-Dynastie (11.-13. Jh.) hatte es, trotz wirtschaftlicher Blüte und technischer Errungenschaften, keine Verbesserung der landeskundlichen Kenntnis gegeben, die auf dem Stand von Chronologien und Zusammenfassungen älterer Werke blieb (wie die “Allgemeine Geographie der T’ai-ping-Periode” (“T’ai-p’ing Huan-yü-chi” 太平寰宇記 976-983), die “Sehenswürdigkeiten der Welt” (“Fang-yü Sheng-lan” 方輿勝覽 1225-1264) oder das “Yü-ti Chi-sheng” (輿地紀勝). Eine Neuheit war lediglich die erste gedruckte Karte, die 1155 erschien und eine übersichtliche Anordnung der Gewässer und Lokalitäten mit aktuellen und historischen Namen gibt.

China als Teil des mongolischen Weltreiches

Der Durchbruch in der Entdeckung Chinas fand während der Yüan-Dynastie (1260-1368) statt, als unter der mongolischen Fremdherrschaft das traditionelle Weltbild erschüttert wurde. Das “Reich der Mitte” sank zu einem Randstaat im Osten der Alten Welt ab, wurde dabei aber aus seiner Isolation herausgelöst und den Ländern des Westens direkt gegenübergestellt. Auch Europa erlebte in der Mongolenzeit einen Umbruch. Die westlichen Länder hatten im Vorderen Orient gegen die islamische Macht verloren und wurden, nach Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, zum Nachbarn des mächtigen und bedrohlichen mongolischen Weltreiches. Die “Pax Mongolica” hatte jedoch, dank der offenen Grenzen und des forcierten Kultur- und Handelsaustauschs, die Alte Welt zu einer Art “Viel-Völker-Kontinent” verbunden.

In Europa war es vor allem der vatikanische Staat in Rom, der neugierig um Kontaktaufnahme mit China bemüht war. Es wurden christliche Missionare nach Peking gesandt, die dort aber weniger an der Christianisierung Chinas interessiert, sondern vielmehr mit der Vermittlung von Wissen aus Europa beschäftigt waren. Unter den berühmten Gesandten Roms (wie Giovanni Plano Carpini, Wilhelm von Rubruk oder Johannes von Montecorvino) war auch Nicolo Polo mit seinen beiden Söhnen Marco und Matteo, der 1271 am Kaiserhof von Kubilai Khan in Peking bzw. in “Chan Balyk” oder Ta-tu (大都), der “großen Hauptstadt”, empfangen wurde.

Marco Polo ist in Europa zum bekanntesten Vermittler von Wissen über das China des Hoch-Mittelalters geworden. Seine detaillierte Beschreibung des chinesischen Reiches besteht aus glänzenden Schilderungen von Land und Leuten, die nachhaltigen Eindruck hinterließen. In den Jahren 1271 bis 1292, als die Südliche Sung-Dynastie in Südchina gerade ihr Ende erlebte, hatte er weite Teile Chinas bereist. Er lernte nicht nur die Seidenstraße kennen, sondern auch die Ordossteppe und die Innere Mongolei, die Lößgebiete des Nordens, das Rote Becken von Szu-ch’uan und die Kalkländer von Yünnan. Über das Jangtse-Tal gelangte er nach Hang-chou und Fukien, wo seine Ausreise zurück in die Heimat nach Venedig stattfand. “Das Regnum Cataia”, so schreibt er, “ist ein ausgedehntes Land und kann sich in Hinsicht auf Bevölkerung und Kultur mit keinem anderen Land der Erde messen und vergleichen.” “Cataia” war für Marco Polo Nordchina, das 1271 bereits unter der Herrschaft der Mongolen stand, während Südchina erst im Jahre 1279 hinzukam. Diese Südchina beschreibt er jedoch als Man-zi - von Man (蠻), ein heute noch gebräuchliches, etwas pejoratives Wort für Südchinesen -, dessen Hauptstadt Quinsai, das heutige Hang-chou, die “schönste und prächtigste Stadt der Welt” sein sollte. Viele der Aufzeichnungen beruhten auf mündlichen Berichten, so auch die Beschreibung von Quinsai, denn die “goldene Hauptstadt” der Südlichen Sung-Dynastie war von den Mongolen längst in Schutt und Asche gelegt worden, als Marco Polo sie besuchte. In Europa wurde er wegen seiner Übertreibungen und allzu fremdartigen Berichte als der “millionenfache Aufschneider” (Messer Millione) bis ins 18. Jh. gebrandmarkt, und seine Gestalt lebte noch lange nach seinem Tode in den Maskenzügen des venezianischen Karnevals fort - als “Erzähler der unwahrscheinlichsten Dinge”. Seine eigentliche Leistung der für damalige Verhältnisse einmaligen Dokumentation über China wurde verkannt, obgleich bedeutende Bauwerke wie die Große Mauer nicht erwähnt sind, viele Ortsnamen nicht zu identifizieren sind und manche Zahlen utopisch erscheinen.

Erst der Engländer Colonel Henry Yules (der bedeutendste Kenner der mittelalterlichen Geographie Chinas) hat im 19. Jh. Marco Polo rehabilitiert. Für das zerplitterte Europa des 13. und 14. Jh.s, dessen reiche Stadtrepubliken Venedig und Genua um die Beherrschung des Mittelmeeres stritten, sollte das China der Mongolenzeit kein weiteres Interesse hervorrufen.

Geblieben ist aus dieser Zeit der Name “Cataia” (“Khatai”, “Kitai”), der erstmals bei Carpini (1245) Erwähnung findet und in Europa bis ins 16. Jh. für die Benennung Chinas stand. In den osteuropäischen, slawischen Ländern hat er sich bis heute in der Form von “Kitai” erhalten. Mit “Cataia” war im engeren Sinne ursprünglich das “Land der Khitan” gemeint, die unter der Bezeichnung der Liao-Dynastie (907-1125) vor dem Einbruch der Dschurdschen und Mongolen Teile Nordchinas besetzt und beherrscht hatten. Von dort wurden sie dann nach Westen verdrängt, wo sie zum Mittler im Handelsverkehr zwischen West und Ost wurden. Der Name ”Cataia” hatte also selbst das gewaltige Mongolenreich überlebt, das sich einmal vom Pazifik bis zu den Karpaten erstreckte, doch letztlich wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war. Trotz aller Größe der Yüan-Dynastie blieb für China aus dieser Zeit der Fremdherrschaft nicht einmal ein Name, noch eine echte Bereicherung der Landeskenntnis.

Chinas Entdeckung während der Renaissance

Der Zusammenbruch des mongolischen Weltreiches bedeutete auch ein Ende der west-östlichen Beziehungen, die erst im 17. Jh. wieder auflebten. Unter der Ming-Dynastie trat China in eine Phase der Isolation und der Rückbesinnung auf die eigene Kultur ein. Zum Opfer dieser Entwicklung gehörte leider die “Große Reichsgeographie der Yüan-Dynastie” (Tayüan Yi-t’ung-chi 大元一統志), die im Zuge von Bücherverbrennungen verloren ging. Sie kann nur noch in den Texten der späteren Reichsgeographien der Ming- und der Ch’ing-Dynastie wiedererkannt werden. Die offiziellen Reichschroniken aber hatten nichts Neues zur Entdeckung Chinas hinzuzufügen, und der Kenntnisstand entsprach dem des frühen Mittelalters. Ein Beweis dafür ist z. B. die “Erweiterte Weltkarte” (Kuang-yü-t’u 廣輿圖 1555), eine Serie von Einzelkarten der Provinzen und Grenzgebiete, die nach den Vorlagen älterer Karten ebenfalls sinozentrisch ausgelegt sind.

Trotz dieser Isolation hatte China versucht, auf seine Weise die Welt zu entdecken. China besaß seit dem 11. Jh. eine Schiffsbautradition, mit deren Hilfe die Überlegenheit Chinas gegenüber Europa im 15. Jh. gezeigt wurde. Zwischen 1405 und 1433 fanden unter der Führung von Cheng Ho (鄭和) maritime Expeditionen statt, die über Java und Sumatra bis nach Indien, Ostafrika und an die Küsten Arabiens reichten. Ein Hauptgrund für den plötzlichen Abbruch der chinesischen Seefahrt und die erneute Isolation war die Bedrohung der Nordgrenzen durch die Mongolen und die des gesamten Küstenbereichs durch die “Wo-k’ou-Piraten”, eine Bezeichnung für die Japaner, die als “Zwerge” galten. Während in China neue Werke über die Kenntnis der übrigen Welt erschienen, wie die “Berichte über die Barbarenreiche der Westmeere” (Hsi-yang Fan-kuo-chi 西洋番國志) oder die “Wunder der Meere” (Ying-ya Sheng-lan 瀛涯勝覽), und Chinas Ansehen von Indonesien bis Ägypten gewaltig angestiegen war, kam es zu einer Zunahme des internationalen Handels und zum Beginn einer ersten größeren Auswanderungswelle nach Südostasien und Südindien.

Die eigentliche Wende im historisch-geographischen Bewußtsein von China trat jedoch erst im 16. Jh. mit dem - fast 100 Jahre verspäteten - Beginn der Christlichen Seefahrt ein. Im angehenden Zeitalter der Renaissance waren als erste Europäer die Portugiesen zur Entdeckung der Weltmeere aufgebrochen. Auf ihrem Weg nach Fernost hatten sie zunächst die Vormachtstellung der Araber gebrochen und die Küsten Arabiens befestigt, anschließend in Indien die Kolonie Goa gegründet und später Malakka gestürmt, das als Sprungbrett nach China dienen sollte. Im Jahre 1514 erreichten sie die südchinesische Küste, wo sie allerdings erst drei Jahre später landen konnten und an der Westeinfahrt des breiten Perlflusses (Chu-chiang) ein kleines Handelskontor errichteten. Der Versuch, einen Handelsposten in Kanton zu errichten, schlug aus Gründen der allgemeinen Furcht der Chinesen vor Ausländern fehl. Das Mißgeschick der Portugiesen war, daß sie aus Freude und Übermut bei der Ankunft in Kanton Kanonensalven schossen, die aber von den Bewohnern der Stadt als Bedrohung empfunden wurden. Die Portugiesen wollten mit ihrer Niederlassung in China die chinesische Handelskonkurrenz in Malakka umgehen; gleichzeitig bauten sie einen gewinnbringenden Handel zwischen Japan und China auf, der ihnen den Stützpunkt auf dem O-mun-Feld erlaubte. Dieses O-mun bzw. hochchinesisch Ao-men wurde im Jahre 1557 unter dem bekannten Namen Macau zur festen Besitzung Portugals. Das 16 Quadratkilometer umfassende Territorium wurde durch eine Mauer gegen das Festland hin abgeschlossen und war bis 1842 die einzige europäische Niederlassung auf chinesischem Boden. Macau wurde zum Inbegriff eines Freiraumes für Chinesen und Europäer, dessen Reste sich bis auf den heutigen Tag - man denke nur an die Spielkasinos - erhalten haben.

Die Handelserfolge der Portugiesen hatten alsbald ihre iberischen Nachbarn, die Spanier, angelockt, mit denen sie am Ende des 15. Jh.s - mit päpstlichem Segen - die Welt in zwei Einflußsphären aufgeteilt hatten. Aus den Philippinen kommend, waren die Spanier 1575 in Kanton erfolgreich gelandet und hatten dort die Vormachtstellung der arabischen Händlerschaft beendet. Kanton, rund 150 Kilometer landeinwärts am Beginn des Perlflusses gelegen, war seit dem 3. Jh. unter dem Namen “Kuang-chou” bekannt und hatte sich seit dieser Zeit zur bedeutendsten chinesischen Handelsstadt entwickelt. Trotz der Verweigerung von offiziellen Handelsprivilegien für die Spanier - welche sich daher in den Kreis der Küstenschmuggler mischten - zeigte sich ein sichtbarer Erfolg in den geschäftlichen Beziehungen mit China, der dem Land den wertvollen Silberdollar aus Mexiko zukommen ließ. Nach dem Eindringen der mandschurischen Macht, gegen die sich Kanton am meisten gewehrt hatte, waren zu guter Letzt auch noch die Holländer erschienen. Nachdem aber die Ostindien-Handelskompanie 1622 vergeblich versuchte, die portugiesische Kolonie Macau einzunehmen, wichen die Holländer auf die Insel Taiwan aus; sie folgten damit den Einwandererströmen aus Südchina nach Taiwan, dessen Westküste sie 1624 unter Kontrolle brachten.

In dieser Zeit des Umbruchs, der im Dynastiewechsel endete, lebte in China ein Gelehrter, der die Empirie der chinesischen Geographie begründete. Es war Hsü Hsia-k’o (徐霞客 1586-1641), der die alten Quellentexte, die sich seit Jahrhunderten und Jahrtausenden immer nur wiederholten, in der Natur nachprüfte und das traditionelle Weltbild erneuerte, so wie fast gleichzeitig das Weltbild durch die Seefahrten und die “Entdeckung der Welt von Europa aus” revolutioniert wurde. Hsü Hsia-k’o reiste 18 Jahre lang durch ganz China und erforschte viele, damals noch unbekannte Gebiete, wie z. B. den Oberlauf des Jangtsekiang (Chin-sha-chiang, den “Goldsandstrom”). Mit nur wenig Gepäck und Trockenahrung schleppte er sich mühsam durch das Kalkhochland von Yünnan mit seinen interessanten Karstbecken und Stromtalfurchen. Er suchte nach Kupfer- und Silberminen und entdeckte die Flußquelle des oberen Jangtse bei Li-chiang; ausführlich sind in seinem Werk die hinterindischen Ströme beschrieben, obgleich nur ein Teil eines Reisetagebuches mit ca. 400 000 Zeichen erhalten geblieben ist.

Das Werk des großen chinesischen Reisenden gilt heute als der erste chinesische Reiseführer, der fast zeitgleich mit dem ersten deutschen Reiseführer (Jörg Gail, “Raißbüchlein”, Augsburg 1563) erschienen ist. Die kartographische Ergänzung dazu war im Jahre 1602 erschienen. Der Jesuitenmissionar Matteo Ricci, der 1583 als erfolgreicher Pionier und Wissenschaftler zu hohen Ehren am Hofe des Ming-Kaisers gelangt war, hatte nach belgischen und italienischen Vorbildern die erste moderne chinesische Weltkarte entworfen: die “K’un-yü Wan-kuo Ch’üan-t’u” (坤輿萬國全圖). Auf ihr ist China erstmals nicht mehr das “Reich der Mitte”, sondern ein Land unter vielen anderen Ländern der Erde. Die “Welt” ist daher auch nicht mehr quadratisch, sondern in ihrer Kugelgestalt abgebildet - zusammen mit einem Gradnetz. Die Kontinente sind in Klimazonen unterteilt und sämtliche geographische Namen mit chinesischen Schriftzeichen geschrieben. Die meisten dieser Namen sind in die geographische Ortsnamen-Terminologie eingegangen und haben sich trotz der oft willkürlichen Festlegung bis auf den heutigen Tag eingebürgert. Somit stehen viele geographische Bezeichnungen in China gleichsam zum Gedächtnis von Matteo Ricci, der neben vielen neuen Ideen und der christlichen Weltanschauung vor allem auch neue Aspekte des Wissens (Mathematik, Astronomie, Millitärtechniken, Malerei, Musik) aus Europa brachte, die nicht ohne Wirkung auf China blieben. Chinas Respekt gegenüber dem fremden Gelehrten zeigte sich nicht zuletzt in dessen Verehrung als Bodhisattwa Li Ma-tou (利瑪竇). Riccis Nachfolger allerdings büßten ihr weites Verständnis für China mit der Auflösung der Jesuitenmission im 18. Jh. durch den Vatikan.

Als die Ch’ing-Dynasie anbrach, tobte in Europa gerade der Dreißigjährige Krieg, der die Verbindung zum Fernen Osten stark schwächte. In dieser Zeit nun kamen als letzte Vertreter einer europäischen Macht die Engländer, die sich von der südchinesischen Küste her ihren Weg nach Kanton hinauf freischossen und dort 1636 ihre Waren abluden. Die englische East Indian Company gründete dann im Jahre 1685 ihre erste Faktorei (die factory als ausländisches Handelshaus und Geschäftsbüro) und begann ab 1699, ihre jährliche Tribut- und Handelsgesellschaft an den Pekinger Kaiserhof zu senden. Ideal gelegen am Ende eines dichten Gewässernetzes, das von den drei großen Strömen Hsi-chiang, Pei-chiang und Tung-chiang, “West-”, “Nord-” und “Ost-Strom”, beherrscht wird, ist Kanton schnell zum starken Magneten geworden, der China und das Ausland an sich zog und zum Schaufenster des Kontinents wurde. Die geschützte Lage zwischen dem Perlfluß, der noch vom Gezeitenstrom des Meeres erfaßt wird, den Granitbergen Südchinas, den fruchtbaren Ebenen des kantonesischen Tieflandes und den Flüssen, die den Weg nach Mittelchina und von dort über das Stromnetz des Jangtse bis nach Nordchina öffnen, hat die Entwicklung Kanton zur wichtigsten Handelsstadt Chinas maßgeblich bestimmt. Die Kantonesen gehörten zu den ersten Chinesen, die unter direkten westlichen Einfluß gerieten; sie waren aber auch unter den ersten, die sich gegen diese Einflüsse wehrten.

Im 18. Jh., als sich in Kanton auch Franzosen, Holländer und Amerikaner niederließen und immer mehr Faktoreien am Ufer des Perlflusses westlich der Stadtmauer entstanden (auf der Insel Sha-mien stehen heute noch eindrucksvolle Kolonialbauten), kam es zu einem großen Umbruch in der Welt. Europa trat ins Zeitalter der industriellen Revolution, während sich China - müde der zunehmenden Überfremdung - wieder einmal auf die eigenen Traditionen besann. Die neuen Missionare waren nicht mehr so tolerant wie die Jesuiten zuvor und reihten sich in den Kreis jener, die streng ihre westlichen Interessen durchsetzen wollten.

Vom glanzvollen Zeitalter des K’ang-hsi-Kaisers (1662-1722), das einen noch nie erreichten Wohlstand einleitete, blieb als Zeugnis der Kenntnis von China der berühmte K’ang-hsi-Jesuitenatlas erhalten: “Huang-yü Ch’üan-lan-t’u” (皇輿全覽圖), ein Kartenwerk, das nach Vorbildern von Matteo Ricci und Martin Martini im Jahre 1718 erschien, nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten entworfen war und als bester Atlas der Ch’ing-Zeit gilt. Er muß jedoch als Kuriosität angesehen werden, denn in späteren Werken fand er keine Berücksichtigung mehr. China hatte wieder auf sein altes Erbe zurückgegriffen. Schon der “Kommentar zum Yü-kung” (das “Yü-kung Chui-chi” 禹貢錐指) von Hu Wei (胡渭 1633-1714) - eine Neukommentierung des alten “Yü-kung”-Textes - macht dies deutlich, erst recht aber ein Werk wie der “Atlas zur Entwicklung der politischen Landschaft Chinas” (“Li-tai Yü-ti Yen-ko Hsien-yao-t’u” 歷代輿地沿革險要圖) von 1850.

Aus diesem Zusammenhang ist auch das Chinabild in Europa zu verstehen, das durch die europäische Entdeckung und die Berichte der Jesuiten stark geprägt war. Das goldene Zeitalter Chinas des 18. Jh.s, das von den Kontakten mit europäischen Gelehrten profitiert hatte, hinterließ in Europa einen magischen, wenngleich verzerrten Eindruck. Berichte, wie die eines Leibnitz, der 1705 in einem Brief an Pater Verjus schreibt, machen dies deutlich: “Ich sehe, daß die meisten Ihrer Missionare geneigt sind, mit Verachtung von den Kenntnissen der Chinesen zu sprechen; nichtsdestoweniger ist es, daß ihre Sprache und ihre Schriftzeichen, ihre Lebensweise, Erfindungen und Manufakturen, ja sogar ihre Spiele sich so sehr von den unsrigen unterscheiden, als ob es sich um Menschen einer anderen Welt handelte - unmöglich, daß uns selbst eine nackte, aber genaue Beschreibung dessen, was bei ihnen praktiziert wird, nicht wesentliche, und in meinen Augen bei weitem nützlichere Aufschlüsse erteilt, als die Kenntnis der Riten und der Möbel der Griechen und Römer, mit der sich so viele Gelehrte beschäftigen.” Und in seinem Geschichtswerk über China (“Novissima Sinica historia nostri temporis illustrata”, 1697) doziert er: “... eher müßte das verderbte Europa von chinesischen Theologen unterrichtet werden als umgekehrt”.

Trotz der späteren Epoche des Niedergangs im 19. Jh. hat die Entwicklung Chinas im 18. Jh. aufgrund der geistigen Auseinandersetzung mit Europa vielleicht mehr zur Entstehung der modernen Welt beigetragen, als vielfach angenommen wird. Aus China wurden zum Beispiel zahlreiche noch unbekannte Pflanzen (darunter der Rhabarber), medizinisches Wissen wie z. B. die Variolation (eine Art der Pockenschutzimpfung), die Logik der chinesischen Schrift (die vielleicht sogar die mathematische Logik in Europa angeregt hat) sowie die chinesische, vom Konfuzianismus beeinflußte, zum Anfang der modernen Experimentalwissenschaft gehörende Weltanschauung einschließlich der Auffassung von der organischen Gesamtheit eingeführt. Ferner fanden die Seidenraupenzucht, die Porzellantechnik (die ersten Versuche stammen in Europa von J. F. Böttger, 1682-1719) und damit verbunden auch das entsprechende ästhetische Gefühl (beliebt waren vor allem das weißblaue Ming-Porzellan der K’ang-hsi-Zeit, chinesische Möbel und Chinoiserien) Eingang in Europa. Nicht zuletzt haben auch Architektur und Gartenbaukunst das westliche Naturgefühl beeinflußt, dessen Wandlung sich ganz besonders im Zeitalter der Romantik zeigte. Die exotischen Dinge, die in Europa das Leben der Reichen verschönerten, sind als Chinoiserien in die Geschichte eingegangen. In Europa, vor allem in Deutschland, fehlte in keinem Schloß ein Raum mit Figuren, Vasen und Tellern aus China. Nicht selten wurden sogar eigene “China-Schlößchen” im Park eines Fürsten oder Königs gebaut (allen voran der ehemalige Trianon in Versailles), die durch ihre reiche Außendekoration und orientalische Architektur auffallen und einen baulichen Übergang vom Stil des Barock zum Rokoko darstellen.

Nach Einführung des Kupferstichs in China durch die Europäer wurden gewaltige Schlachtenbilder während der Epochen Ch’ien-lung (1736-1796) und Tao-kuang (1821-1850) hergestellt, die einen enormen Beitrag zur Verherrlichung des großchinesischen Mandschureiches geleistet haben. Der dokumentarische Wert, wie z. B. jener der Turkestan-Serie von 1830, ist erkennbar, doch darf der wiederum verzerrende Einfluß auf das europäische Chinabild nicht übersehen werden. Als der Ch’ien-lung-Kaiser 1747 seinen Sommerpalast, den 1860 von Franzosen und Engländern zerstörten Yüan-ming-yüan (圓明園) im Nordwesten Pekings, verschönern ließ, beauftragte er Pater Giuseppe Castiglione mit der Ausmalung. Castiglione, alias Lang Shih-ning (郎世寧), vereinte in brillianter Weise westliche Bildkunst mit östlichem Denken und gilt bis heute als der bedeutendste sino-europäische Maler.

Europas gewaltsamer Einbruch nach China und die wissenschaftliche Entdeckung

Dem Zeitalter der Aufklärung war in Europa im 19. Jh. das des Hegemonialismus gefolgt, der auf die gesamte Welt ausstrahlte und andere Länder in den Sog des Kolonialismus und Kommerzialismus riß. China war trotz der vielen, aber meist verklärten Berichte weitgehend unbekannt und erweckte umso mehr die Gier der westlichen Mächte nach Besitzergreifung. Es wurde zum “Großen Kuchen”, von dem die Hegemonialmächte des Westens jeweils die besten Stücke für sich herausschneiden wollten.

Parallel zu dieser Entwicklung hatte sich die Lage Chinas, auch aufgrund der hohen Ausgaben während der Ch’ien-lung-Zeit sowie der Bevölkerungsexplosion, so verschlechtert, daß allmählich eine Umkehrung der Verhältnisse, wie sie bisher in Europa und China bestanden, einsetzte. In dieser Zeit der gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Krise sowie des allgemeinen Niedergangs drangen nun die Westmächte seit 1840 erstmals mit Gewalt nach China ein.

Das Selbstverständnis Chinas war zu diesem Zeitpunkt noch ungebrochen, als es z. B. die Engländer in Kanton mit folgenden Worten empfing: “Solange unsere vom Himmel eingesetzte Dynastie die ganze Welt in demütiger Unterwürfigkeit hält und die himmlische Güte des großen Kaisers alle überschattet, haben sich England und Amerika durch den Handel in Kanton viele Jahre lang von allen Untertanen des höchsten Maßes an Gunst erfreut.” Vergeblich hatten die Engländer versucht, in Kanton eine ständige Basis für den europäischen Handel einzurichten, der fast ausschließlich in den Händen der lokalen Behörden lag. Diese hatten vor allem größte Mühe, die moralische und wirtschaftliche Aushöhlung Chinas zu verhindern. Der Opiumschmuggel hatte nur den Engländern gedient, die mit dem Abfluß des Silberdollars aus China ihre indischen Kolonien finanzierten, in denen das Rauschgift angebaut wurde. Die demonstrative Vernichtung des Opiums in Kanton führte allerdings zum Zusammenbruch des Kantonhandels und damit zum Ausbruch des Opiumkrieges (1840). Die gewaltsame Öffnung sogenannter “Vertragshäfen” war für China die tiefste Demütigung. England nahm sich das beste Stück und setzte sich auf den Inseln an der Ost-Mündung des Perlflusses fest: Dort hatte man einst Reichtümer durch die Perlfischerei (daher der Name “Perlfluß”) verdient, wie auch durch Salzgewinnung aus Salzgärten und den Anbau des Weihrauchstrauches Kuan-hsiang (灌香), der zur Herstellung von Weihrauch diente. Dieses Luxusprodukt wurde seit der Ming-Zeit vom “Duftenden Hafen” (Hsiang-gang, auf Kantonesisch “Hongkong” ausgesprochen), dem heutigen Aberdeen am Südufer von Hongkong Island, exportiert. Die Insel wurde 1843 britische Kronkolonie, die zu Ehren der Königin den Namen “Victoria” erhielt.

Seit 1849 entwickelte sich Hongkong zu einem der wichtigsten Häfen Chinas, der zum bedeutenden Konkurrenten von Kanton und Schanghai wurde. Die Kolonie wurde 1860 um die Stonecutters-Inseln und die Halbinsel Kowloon erweitert und zusammen mit dem Gebiet der New Territories 1898 für 99 Jahre an die Engländer verpachtet. Am Nordhang der 552 Meter hohen Steilkuppe des Victoria Peak entstand das Verwaltungszentrum von Hongkong, die Stadt Victoria, die sich heute von einem typischen Kolonialstädtchen in eine glitzernde Metropole gewandelt hat, deren Wolkenkratzerfassade aus Banken und Bürotürmen die alten Regierungsgebäude und Wohnhäuser zum Hafen hin verdeckt. Das Zentrum Kowloons auf der Nordseite des vorzüglichen Naturhafens, das heute führende Touristengebiet mit den modernen Großhotels und zahlreichen Geschäftszentren, diente einst als Marinestützpunkt und Truppenübungsplatz. Damit war Hongkong zum Umschlagplatz im Handel zwischen China und dem Rest der Welt aufgestiegen und wurde zur bevorzugten Niederlassung zahlreicher Firmensitze und Banken.

Zur Zeit der Gründung der Kolonie Hongkong wohnten dort nur wenige tausend Menschen. In einer Zeit, als China die Öffnung der sogenannten “Vertragshäfen” aufgezwungen worden war und es durch die Neuregelung der zwischenstaatlichen Beziehungen - Institutionen statt Tributsystem - in die internationale Staatengemeinschaft getreten war, diente Hongkong als “Ausfuhrhafen” für chinesische Kulis, die von Versprechungen westlicher Firmen angelockt wurden und in Übersee - Südostasien, Australien, Pazifik und Kalifornien - ihr Glück suchten. Diesem Pull-Faktor stand der Push-Faktor einer armen Heimat gegenüber. China, von den Besatzungsmächten zerstückelt und zu einem zweitrangigen Mitglied der großen Völkerfamilie bestimmt, erlebte mit dem Absinken des Ansehens der Dynastie auch einen inneren materiellen Zerfall, der den Begriff von “Unruhe im Inneren, Unglück von Außen” (Nei-yu Wai-huan 內憂外患) prägte.

Die chinesischen Auswanderer, die oft in ein sklavenähnliches Arbeitsverhältnis geraten waren, sind letztlich, aufgrund ihres Fleißes und ihrer Zähigkeit, zum Garanten für die Durchsetzung westlicher Wirtschaftsinteressen geworden (Paradebeispiel: Kautschukpflanzungen in Malaysia). Ihre Nachfahren sind später durch geschickte Handelstätigkeit zum Träger des Zwischenhandels geworden und zum notwendigen Vermittler zwischen den Europäern und den einheimischen Völkern. Gleichzeitig haben sie ihre eigene Kultur bewahrt und somit zu einer globalen Ausdehnung chinesischer Kultur beigetragen.

Als in Kalifornien der Goldrausch eingesetzt hatte und dort die Welle chinesischer Einwanderer einbrach (1952 war jeder 10. Einwohner Kaliforniens Chinese), entwickelte sich San Francisco zur größten Chinastadt in Übersee. Noch heute wird das Zentrum dieser “schönsten Stadt der USA” von der romantischen Chinatown bestimmt, deren chinesischer Name T’ang-jen-chieh (唐人街) auf die “Leute aus T’ang” hinweist, mit denen die Südchinesen gemeint sind: eine Erinnerung an die Zeit der T’ang-Dynastie, als Kanton und Südchina zum Inbegriff des Chinahandels nach Übersee geworden waren. Hier lebte von 1862-1868 der deutsche Geograph Ferdinand Freiherr von Richthofen. Der 1833 geborene Chinaforscher, der nach Alexander von Humboldt und Carl Ritter als der bedeutendste Geograph des 19. Jh.s gilt, war 1860 als Legationssekretär der Preußischen Gesandtschaft mit drei Kriegsschiffen nach Fernost gefahren, um Handelsverträge vorzubereiten. Über Hongkong, Schanghai und Taiwan kam er nach Hinterindien und Indonesien, jedoch nicht nach Zentralchina, zum eigentlichen Ziel seiner Reise. Er trennte sich daher von der Gesandtschaft und ging nach San Francisco. Dort erhielt er 1868 den ersehnten Auftrag von der Bank von Kalifornien und der Handelskammer von Schanghai, die wirtschaftlichen Verhältnisse in China zu untersuchen und Forschungen über die Rohstoffvorkommen anzustellen.

In den folgenden vier Jahren bis 1872 unternahm F. F. von Richthofen unter dem chinesischen Namen Li und zusammen mit seinem Freund Paul Splintgaert sieben ausgedehnte Reisen durch 13 Provinzen. “Allein in keinem Land, von welchem überhaupt Karten existieren”, schreibt von Richthofen in der Übersicht seiner Reisen, “steht die exacte Kenntnis, wie sie unseren heutigen Anforderungen der Wissenschaft entspricht, in so großem Mißverhältnis zu der Menge bekannter Einzelheiten; und es ist nicht zuviel gesagt, wenn man China mit Ausnahme eines verschwindend kleinen Bruchteils, im Sinne der jetzigen Ansprüche der Geographie, als ein unverstandenes, fast möchte man sagen, ein unbekanntes Land bezeichnet.”

Von Richthofen hatte sich unter schwierigsten Bedingungen auf seine Mission vorbereitet, und seine Kritik an der wenig genauen Darstellung Chinas in der Karthographie ist verständlich: “Die chinesische Karte verhält sich zu den besten, welche Europa produziert, wie der Schattenumriß der Silhouette zum lebevollen Portrait, das die Künstlerhand entwirft.” Die Zeit war vorbei, als chinesische Karten denen aus Europa überlegen waren und die chinesische Erforschung von China jenen hohen Stand hatte, wie die arabische Geographie für Europa und das übrige Asien. Der entscheidende Wandel in der geographischen Kenntnis von der Welt fand im 19. Jh. statt; für China wurde er von Ferdinand von Richthofen eingeleitet, der wesentlich zum Erwerb des deutschen “Schutzgebietes” Kiaotschou (in der Provinz Shan-tung) beigetragen hat.

Am Anfang der umfassenden Erkenntnisse des Forschers wird der Gegensatz des abflußlosen Landesinnern zu den abflußreichen Randlandschaften herausgestellt, und Kontinente, Länder und Lokalitäten werden in ihrer Wechselwirkung von Natur und Mensch beschrieben (“Bodenverhältnisse und die Völker und Völkerströme Asiens”). Einzigartig ist die erstmalige Beschreibung des Lösses (Huang-t’u), dem die chinesische Zivilisation ihre Entstehung verdankt. Staunen erweckt die gewaltige Erosion des gesamten Lößgebietes Nordchinas, das trotz der meisterhaften Terrassierung stark zerschluchtet ist und bei einsetzenden Niederschlägen Unmengen an fruchtbarem Boden verliert. Der Huang-ho, der “Gelbe Fluß”, transportiert im Unterlauf die Sedimentmassen bis ins Gelbe Meer, oder baut im Unterlauf seine mächtigen Naturdeiche damit auf, deren Durchbrechung häufig zu Flutkatastrophen in der Geschichte geführt hat. Die “Dienste des Löß”, die von der Selbstdüngung bis zur Eignung für den Wohnungsbau reichen, sind dabei ebenso detailliert aufgezeichnet wie die Theorie über seinen Ursprung. In einem eigenen Abschnitt untersucht von Richthofen das Gebirgssystem des Himalaya und des T’ien-shan und setzt es mit den Gebirgen Chinas in Beziehung, um auf der Basis der physischen Geographie von Ost- und Zentralasien das Verhältnis von China und dem Westen zu erklären. Den zweiten Teil seines China-Buches beginnt von Richthofen mit einer Übersicht zur Entwicklung der Kenntnis von China und einer ausführlichen Diskussion über das “Yü-kung”, der, so Richthofen, “älteren Reichsgeographie von China”. Diese setzt sich fort in einer umfassenden historisch-geographischen Übersicht von den Anfängen der chinesischen Geschichte bis zum Kenntnisstand über das China des 19. Jh.s.

Das Chinawerk von Richthofens bleibt, obwohl es vielleicht überholt erscheint, das klassische Beispiel einer vorzüglichen Länderkunde, die vor allem auch eingehend die Kenntnis von China durch die Chinesen und das Ausland aufzeigt und die meist wenig bekannte, doch äußerst interessante Begegnung zwischen West und Ost seit über 2000 Jahren hervorhebt. Die Reisen von Richthofens führten durch ein China, das von Aufständen geplagt und auf der Suche nach neuen Werten war, aber auch durch ein China, das dem Westen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch geistige Impulse verschaffte. Von Richthofens Werk diente späteren Forschungsreisenden als wertvollste Grundlage der Orientierung. Zu den Gelehrten gehörten z. B. Sven Hedin oder Hermann von Wissmann, deren Themen bereits auf einzelne Phänomene, wie die Veränderungen im Gewässernetz des Tarim-Beckens oder die Entwicklung der eiszeitlichen Landschaft Mittelchinas, ausgerichtet sind.

Dem gewaltsamen Einbruch des Westens nach China und der wissenschaftlichen Erforschung des Landes folgte in der 2. Hälfte des 19. Jh.s eine zunehmende Unterjochung durch das Ausland, die zur Öffnung weiterer Handelshäfen und exterritorialer Enklaven führte und von einer völligen Einkreisung durch die imperialistischen Mächte Rußland, Frankreich und Japan begleitet wurde. Die Begegnung zwischen China und dem Ausland wurde nicht mehr, wie im 16. oder 17. Jh., von Jesuiten und der chinesischen Oberschicht getragen, sondern von Geschäftsleuten und Zwischenhändlern, die in exklusiven Kreisen außerhalb der Bevölkerung lebten und zur Entstehung eines extremen Wohlstandsgefälles beitrugen. Trotz einer gewissen Bewunderung des Auslandes für China bewirkten die allgemeine Intoleranz und Gewalttätigkeit der ausländischen Mächte eine entsprechende Gegenreaktion seitens der Chinesen, die nicht selten ein Gefühl der Verachtung gegen alles Fremde und einen Minderwertigkeitskomplex hervorbrachte. Die erschwerte Anpassung Chinas an das moderne Zeitalter des 20. Jh.s wird von daher verständlich. 1895 hatte das “Reich der Mitte” durch den Vertrag von Shimonoseki, der von Japan erzwungen war, seine Unabhängigkeit in allen Bereichen verloren.

Den Ursachen dieser Entwicklung ging vor allem Wang T’ao (王韜 1828-1897) nach, der bei englischen Missionaren in Schanghai gelernt hatte und zu einem der wertvollsten Mitarbeiter des schottischen Sinologen James Legge (1815-1897) bei der Übersetzung der chinesischen Klassiker und der Vier Bücher sowie der Texte von Konfuzius (mit vorzüglicher Kommentierung) geworden war. Seine Ansätze waren beispielhaft für den Beginn des modernen chinesischen Denkens, das dem politischen Faktor eine Vorrangstellung einräumt und die Notwendigkeit eines intakten Staatsgebildes bei der Übernahme fremder Techniken und Ideologien betont. Wang T’ao sah deshalb die Entwicklung eines gedemütigten Chinas voraus, das um die Jahrhundertwende vor dem völligen wirtschaftlichen Ruin stand. Als dann das Kaiserhaus der Ch’ing-Dynastie den Krieg gegen die Westmächte erklärte, wurden die Hauptstadt Peking geplündert und die Städte Nordchinas von “Strafexpeditionen” heimgesucht.

Die Rechnung der ausländischen Investoren, die auf eine unerschöpfliche Quelle des Reichtums gesetzt hatten, ging nicht auf. Die zunehmende Verarmung Chinas verhinderte den erhofften Aufschwung des Handelsaustausches. Aufstrebende Wirtschaftszentren wie Schanghai - dessen Granitpaläste an der Uferfront des Huang-p’u heute noch eine Demonstration europäischer Kolonialmacht sind - waren die Ausnahme geblieben, denen ein von Katastrophen gezeichnetes, bitterarmes riesiges Hinterland entgegenstand. Aus dieser Situation heraus kam es wieder zu großen Wanderbewegungen, die im Norden in die neuen Industriezentren und in die weite Mandschurei (einst verbotenes Land für Chinesen, jetzt Einwanderungsland im Spannungsfeld zwischen Rußland und Japan) und im Süden hauptsächlich nach Übersee in den pazifischen Raum bis Indien, Madagaskar und Afrika führten. Dort konnte sich ein chinesisches “Bürgertum” (Bourgeoisie) entwickeln, das den Kontakt zur westlichen Lebensweise gefunden hatte. Obgleich diese Entwicklung den Chinesen während der Bildung der neuen Staaten (z. B. Indonesien) oft Nachteile einbrachte, hatte sie für China doch eine wichtige politische Bedeutung. Nicht zuletzt waren es die Auslandschinesen, die den Republikanern beim Aufbau ihrer demokratischen Staatsidee - 1905 gründete Dr. Sun Yat-sen in Tokio die “Gesellschaft der Verbündeten“ (“T’ung-men-hui” 同盟會) - finanzielle und moralische Unterstützung gewährten.

Dem wirtschaftlichen und militärischen Eindringen der Westmächte war im 20. Jh. verstärkt das Eindringen westlicher Ideen gefolgt. In Europa, den USA, in den Freihäfen Chinas und in Japan entstand eine chinesische Bildungsschicht, welche die alte Intelligentia Chinas ablöste. Die Konfrontation Chinas mit dem Westen (die mehr als nur eine Begegnung war) führte zu einer systematischen Nachahmung aller geistigen Strömungen und kennzeichnete den gewaltsamen Umbruch der chinesischen Gesellschaft im 20. Jh. Er hatte rund 100 Jahre später als in Europa stattgefunden und schuf ein China, das einerseits die eigenen Traditionen bewahrt hat, andererseits aber auch zu einem Partner der Welt geworden ist. Die Republik China auf Taiwan hat dabei längst den Anschluß an die Industriestaaten des Westens gefunden und ist zu einem der reichsten Länder der Erde aufgestiegen. Das Festland wird dieser Entwicklung erst folgen müssen, und es wird dabei eine noch großartigere Herausforderung an seine Entdeckung und die Begegnung mit dem Westen stellen. Die Überwindung der geographischen und kulturellen Barrieren in einer Zeit des schnellen geistigen und materiellen Austausches dürfte dabei die Nachfolger der früheren Pioniere hervorbringen, die das schwierig zu entdeckende China zu enträtseln begonnen haben.

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