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Ein China, zwei Ansichten

01.02.1997
Die Volksrepublik China und die Republik China auf Taiwan liegen sich in den Haaren. Obwohl die im März letzten jahres durch die Raketentests und Militärmanöver Festlandchinas in der Taiwanstraße ausgelöste Krise vorüber ist, bedarf es auf beiden Seiten noch einiger Anstrengungen, um die bilateralen, halboffiziellen Gespräche, die erstmals 1993 stattfanden, wieder in Gang zu setzen. Die Volksrepublik hat zudem ihre Versuche, Taiwan international zu isolieren, forciert, beispielsweise durch das Verhindern von Taiwans Aufnahme in die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen.

Eine der schwierigsten Hürden, die überwunden werden muß, ist die seit langer Zeit bestehende Uneinigkeit zwischen Taipei und Peking über die Auslegung des "Ein China"-Prinzips. Die unterschiedlichen Interpretationen machen eine Annäherung der beiden Seiten unmöglich und sind der Grund dafür, daß die Taiwanstraße ein potentieller militärischer Krisenherd bleibt. Obwohl der Ausdruck "Ein China" oft in den Medien erwähnt wird, bleibt er für die meisten Menschen ein verwirrender Begriff. Wie geheimnisvoll das Prinzip auch sein mag, es bleibt sowohl für Peking als auch für Taipei der Kernpunkt der China-Frage.

Die Volksrepublik vertritt den Standpunkt, daß es nur "Ein China" gebe, daß Taiwan ein Teil Chinas sei und die Volksrepublik als einzig legitime Regierung ganz China verträte. Demnach erhebt Peking also den alleinigen Anspruch auf die Souveränität über China, und Taiwan soll nur für innere Angelegenheiten ein gewisser Grad an Autonomie zuerkannt werden. Da Taiwan darüber hinaus nur als eine Provinz Chinas gilt, kann es international auch nur als Gebietsregierung auftreten.

Die Republik China vertritt den Standpunkt, daß "Ein China" sich auf das historische, geographische und kulturelle China bezieht - und das besteht derzeit aus zwei politischen Rechtsgebilden: die Volksrepublik auf dem Festland und die Republik China auf Taiwan. Taipei betont ausdrücklich, Pekings Auffassung von "Ein China" sei realitätsfern, da Taiwan und Festlandchina tatsächlich schon seit 47 Jahren von zwei separaten, unterschiedlichen politischen Systemen regiert werden. Seit 1949 hat das Festland die Insel Taiwan ebensowenig kontrolliert wie Taiwan das Festland. Taipei behauptet, ein konstruktiver Fortschritt in den Gesprächen mit Peking und somit die Annäherung für eine eventuelle Wiedervereinigung sei einzig und allein durch die Anerkennung dieser politischen Realität durch beide Seiten zu erreichen.

Die Republik China ist der Ansicht, daß die momentane Teilung in zwei politische Rechtsgebilde nicht bedeutet, dieser Zustand sollte offizielle Form annehmen und für immer anhalten. Taipei unterbreitet nur den Vorschlag, daß beide Seiten die derzeitige Situation akzeptieren und dann Schritte zur Förderung der Zusammenarbeit über die Taiwanstraße unternehmen, wie unter anderem Gespräche über direkte Transport- und Kommunikationsverbindungen. Praktisch bedeutet dies Gespräche zwischen zwei gleichgestellten Systemen und nicht zwischen einer über- und einer untergeordneten Regierung, worauf Peking bis heute beharrt.

Der Disput über die Frage des "Ein China"-Prinzips hat seine Wurzeln in der jüngsten Vergangenheit. Die Beziehungen über die Taiwanstraße haben fast fünf Jahrzehnten voller Spannungen standgehalten - und überlebt. Vor der 1987 gefällten Entscheidung der Republik China, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte mit Festlandchina wieder zuzulassen, waren die Konfrontationen zwischen den beiden Seiten eine Verlängerung des chinesischen Bürgerkriegs und des Kalten Krieges.

Während dieser Zeit nahm die Volksrepublik eine Wiedervereinigungspolitik auf mit der Absicht, Taiwan mit militärischen Mitteln zu "befreien". Gleichzeitig konzentrierte sich die Republik China auf Taiwan auf die "Wiedereroberung" Festlandchinas und lehnte alle Verhandlungsangebote ab. Die 1987 beschlossene Öffnungspolitik war ein Wendepunkt und führte zu einem intensiven Austausch auf kultureller und wirtschaftlicher Ebene. Auch die politische Entwicklung bekam Aufwind. Im April 1993 fanden in Singapur Gespräche zwischen der Stiftung Austausch beiderseits der Taiwanstraße (SATS) der Republik China und der Vereinigung für Beziehungen beiderseits der Taiwanstraße (ARATS) der Volksrepublik statt, beides halboffizielle Institutionen, die für die Beziehungen über die Taiwanstraße zuständig sind. Die Gespräche und die folgenden Vereinbarungen legten den Grundstein für freundschaftlichere Beziehungen.

Im Januar 1995 veröffentlichte der Staats- und Parteichef der Volksrepublik, Jiang Zemin, eine Acht-Punkte-Erklärung, in der er sich für eine Vertiefung der Beziehungen über die Taiwanstraße aussprach und zu einer neuen Gesprächsrunde aufrief. Die Atmosphäre verbesserte sich noch weiter mit der Sechs-Punkte-Antwort des Präsidenten der Republik China, Lee Teng-hui, im April darauf. Bis Juni hatten SEF und ARATS sieben Verhandlungsrunden auf Funktionärs- und drei auf Vorstandsebene abgehalten.

Auf den Besuch Präsident Lees in den USA im Juni 1995 folgte jedoch umgehend eine Verschlechterung der Beziehungen, zusätzlich geschürt von der Reise Premierminister Lien Chans nach Europa. Peking warf Taipei vor, sich von China lossagen zu wollen und behauptete, diese Reisen (von Taipei als pragmatische Diplomatie bezeichnet) seien offensichtlich Schritte in Richtung Unabhängigkeit und stellten eine direkte Verletzung des "Ein China"-Prinzips dar. Peking annullierte die für Juli 1995 geplanten bilateralen Gespräche. Im folgenden Monat führte das Festland in der Taiwanstraße Militärmanöver und Raketentests durch. Die Beziehungen erlebten letztes Jahr einen weiteren Rückschlag, als die Volksrepublik im März kurz vor der Präsidentenwahl in der Republik China in der Nähe der im Norden und im Süden Taiwans gelegenen Häfen Raketentests abhielt.

Die Tests und Manöver führten zu einer bedrohlichen Sicherheitskrise in der Region. Die Vereinigten Staaten schickten schließlich zwei Flugzeugträgereinheiten, um einer überstürzten militärischen Konfrontation zuvorzukommen. Diese Wochen stellten in den Beziehungen über die Taiwanstraße den absoluten Tiefpunkt seit Jahrzehnten dar.

Die Spannungen zwischen Taipei und Peking ließen nach, als die Volksrepublik ihre Militäreinheiten im letzten März nach Abschluß der Übungen in ihre Stützpunkte zurückbeorderte und ihre rhetorischen Angriffe gegen Taiwan mäßigte. Taiwanesische Investoren sind nach wie vor mit großen Summen an festlandchinesischen Projekten beteiligt, der beidseitige Handel nimmt wieder zu, Reisen nach Festlandchina sind weiterhin beliebt, und eine steigende Anzahl an Delegationen aus dem Festland, vom Wissenschaftler bis zum Journalisten, besuchen die Insel. Was spricht also gegen eine Wiederaufnahme der Gespräche?

Die ersten Treffen waren möglich, weil zu jener Zeit beide Seiten beschlossen hatten, an der eigenen Auffassung vom "Ein China"-Prinzip festzuhalten und sich lieber mit wichtigeren und pragmatischeren Fragen zu beschäftigen. Warum sollte man nicht auch diesmal diesen Punkt umgehen und sich auf die Lösung anderer Probleme wie Schutz für Investitionen, Streitigkeiten in Joint-ventures und viele andere, die sich aus den zunehmenden Kontakten über die Taiwanstraße ergeben, konzentrieren? Wenn die Gespräche zwischen SEF und ARATS wieder in Schwung kommen, bringt dies einen Riesenauftrieb für die gegenseitigen Beziehungen und auch für die Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum.

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