30.06.2024

Taiwan Today

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Mondsicheln segeln durch die Luft

01.01.1996
Der Schein trügt. Meist herrscht auf den Straßen der Hauptstadt Tai­wans ein wohlgeordnetes Durcheinander, in dem es gilt: Das größe­re Gefährt hat Vorfahrt.

Ein Kultur-Spaziergang durch Taipeh, die hektische Hauptstadt Taiwans

Mit freundlicher Genehmigung des Autors drucken wir den folgenden lesenswerten Artikel ab, der erstmals am 23. Juni 1995 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist:

So fremd: Mondsicheln segeln durch die Luft, einen Augenblick bleiben die zwei Hölzer in der Schwebe, bevor sie endlich schwer werden und auf die Fliesen scheppern. Liegen sie günstig, eine mit der glatten, die andere mit der gewölbten Seite nach oben, hat Gott Lust, Fragen zu beantworten. Wenn nicht, will er lieber schweigen, wie bei der weißhaarigen Alten im Lungshan-Tempel am Nachtmarkt in Taipeh. Ihre Mondsicheln zeigen mit beiden glatten Flächen nach oben. Mehr Glück hat ein junger Mann, dem die Holzmonde sagen, daß Gott ihm Antwort geben will.

Der mit zahllosen mythologischen Figuren und phantastischen Drachendarstellungen bunt verzierte Tempel in Lungshan ist einer von vielen Orten des Gebets in Taiwans brodelnder Hauptstadt Taipeh; eine Oase der Besinnung inmitten explodierender Geschäftigkeit außerhalb seiner Mauern, gehüllt in Räucherstäbchendunst. Glückverheißende Orangen, wohlgeordnet in Haufen zu acht, der Zahl, von der Chinesen sich Wohlstand versprechen, liegen auf langen Tischen im weitläufigen Geviert, dem Raum für mehrere Tempel; Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus und Animismus sind hier mit ihren Altären vereint. Und sie vertragen sich, die Götter und Religionen, Gläubigen und Gelehrten. Glaubensstreit ist auf Taiwan wie überall in China ein Fremdwort. Der Religion wegen hat noch nie ein Chinese zum Schwert gegriffen. Toleranz, erwachsen aus der fast dreitausendjährigen Tradition der "Hundert Schulen" der Philosophie. Von "Pietät" sprechen Chinesen, wenn sie Respekt meinen.

Das Nationale Palastmuseum - Stätte der weltweit größten Sammlung altchinesischer Kunst - bot vor kurzem eine vielbesuchte Ausstellung von Gemälden aus dem Pariser Louvre.

Fremd und vertraut: Den animistischen Altar mit seinen aufgereihten Götter- Figuren und -Figürchen beherrscht eine überlebensgroße Göttin, Kuan-yin, die Große Mutter im Himmel, die Mütter und Kinder schützt und bei Prüfungen hilft. Eine Große Mutter im Himmel auch hier, im Land, wo der Regenbogen endet.

Die Tempel Taiwans werden zu Zeiten auch als Wahllokale genutzt. Eingetaucht in rituelle "Ohmm-Gesänge" macht der Stimmbürger hier sein Kreuzchen. Taiwan ist Heimat der ersten echten Demokratie auf chinesischem Boden. Aus dem "Kleinen Tiger", einem Wirtschaftsriesen, wurde ein Land, das die Demokratie wagt, Fehler dabei macht und aus ihnen zu lernen versucht. Eine Gesellschaft im Dialog - auch wenn dabei im Parlament manchmal die Fäuste fliegen.

Aufregend geht es zu in Taipeh. Im Meer der Häuser wuchern Geschäfte und Märkte bei Tag und Nacht. Auf dem Schlangenmarkt beim Lungshan-Tempel ist vom Garküchen-Imbiß bis zum Pornovideo fast alles zu haben. Neben dem grellen Spektakel liegt das dunklere Rotlichtviertel. Auch über ihm wabern Räucherstab-Wolken aus dem Tempelbezirk. Männer, die sich mit dem Blut geschlachteter Schlangen gestärkt haben, zieht es hin zu den roten Laternen.

Zu Ehren des Philosophen Konfuzius findet jedes Jahr zu seinem Geburtstag am 28. September - auch als Tag der Lehrer bekannt - ein jahrtausendealtes Ritual statt.

Vertraut und doch fremd auch dies: Taipeh ist eine Stadt im Stau. Zwei Autos besitzt laut Statistik jede Familie. Aber auf Schwärmen von Motorrollern, ihrem Lieblingsspielzeug, surfen Massen junger Leute durch das Verkehrschaos, gegen die dicke Luft notdürftig durch Mundschutz-Gaze geschützt. Boomtown Taipeh gilt mittlerweile als fünftteuerste Stadt der Welt. Die Mieten explodieren. Die Umwelt ist krank. Ungebremstes Wachstum fordert seinen Preis. Taiwan ist eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt. Doch die 21 Millionen Insulaner begannen umzudenken, sahen die Notwendigkeit, ihre kleine Welt zu schützen und fanden darin neue ökonomische Möglichkeiten.

Eine Hauptrolle im gesellschaftlichen Dialog spielt eine für Asien beispiellos freie Presse. Ein bunter, ja fast unübersichtlicher Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt entstand nach 1987, als die Staatspartei Kuomintang das Kriegsrecht aufhob und den Weg der Demokratie einschlug, als sie die Opposition legalisierte und die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) zuließ. Etwas für China völlig Neues entstand: eine loyale Opposition. Noch regiert die Kuomintang unangefochten, aber die DPP gewinnt an Profil. Im März 1996 wird auf Taiwan zum ersten Mal in China sogar ein Präsident vom Volk gewählt.

Die Privatpresse fördert die Demokratie nach Kräften und tritt kompetent dem immer noch staatlich gegängelten Fernsehen entgegen. Zu melden gab es: teure und turbulente Wahlkämpfe mit Rekordwahlbeteiligungen, eine Abspaltung von der Kuomintang, die sich Neue Partei (NP) nennt, einen Machtwechsel in Taipeh. Den mächtigen Bürgermeister stellt erstmals die DPP-Opposition. Dieser ließ in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden die Bilder des Staatsgründers und Generalissimus Chiang Kai-shek abhängen - 14 000 Denkmäler Chiang Kai-sheks gibt es auf Taiwan -, und er machte Schluß damit, daß im Kino vor Filmbeginn das Publikum zur Nationalhymne aufzustehen und mitzusingen hatte.

Bedeutende Touristenattraktion der Hauptstadt: Im Lungshan-Tempel erwartet einen das Spirituelle.

Gebrochen mit der Tradition wird vor allem in der Kunst. Junge Künstler forderten die Demokratisierung nicht nur, sie reagierten seismographisch auf alle Veränderungen. Immer mehr gehen den Schritt weg vom Vertrauten, suchen wagemutig neue Wege. Der Blick richtet sich dabei gegen Westen, ohne diesen zu imitieren. Eigenes entsteht. Es ist also an der Zeit, neue Erfahrungen mit chinesischer Kunst zu machen, jemanden wie den 40jährigen Maler Yü Peng kennenzulernen. Er hat radikal mit der chinesischen Maltradition gebrochen, auch wenn einige seiner Werke sich in der klassischen Form des Rollbildes darstellen oder mit kleinen poetischen Gedanken geschmückt sind. Er erzählt in Farben schwelgend Leben nach, er malt den Menschen, porträtiert ihn, stellt Mann und Frau in ihrer Nacktheit dar.

Helmut Friedel, Direktor des Münchner Lenbachhauses, kennt und bewundert die Arbeit Yü Pengs. Er hat ihn zu Hause in Taipeh besucht. Und Friedel will diesen Maler und andere nach München holen. Friedel schätzt an den jungen Künstlern Taiwans, daß sie "nicht so larmoyant sind wie ihre deutschen Kollegen". In der zeitgenössischen Kunst sei es wie in der Wirtschaft, "der Begriff made in Taiwan ist kein negativer mehr". Sicher sei, "die Künstler haben die Politik entdeckt und die Kehrseite des hemmungslosen Wirtschaftswachstums, die am Menschen leidende Natur". Erstaunlich findet Friedel, wie viel Freiheiten seine Museumskollegen auf Taiwan haben. Die Politik mischt sich nicht ein.

Einer, mit dem er enger zusammenarbeiten möchte, ist Huang Kuang-nan, Direktor des Taipeh Fine Art Museum. Er ist im vergangenen Jahr durch Deutschland gereist, hat Museen besucht, "um zu lernen", wie er bescheiden sagt. Huang arbeitet eng mit einer Deutschen zusammen. Heidegert A. Hoesch leitet seit vielen Jahren das Deutsche Kulturinstitut in Taipeh, ein Goethe-Institut, das sich nicht so nennen darf, weil die Bundesrepublik zu Taiwan keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Das Deutsche Kulturinstitut ist schon 1963 gegründet worden und war das erste seiner Art auf der Insel. Zwölf Univeritäten mit Deutschunterricht und vier Universitäten mit Lehrstühlen für Germanistik gibt es zudem auf Taiwan. Das Interesse an Deutsch ist riesengroß, klein die Zahl der taiwanesischen Studenten, die in Deutschland studieren dürfen: weniger als 600. In Großbritannien sind es 4000, in den USA, dem Land, das Taiwanesen am liebsten kopieren, 10 000.

Horst Janssen und Georg Christoph Lichtenberg waren im November 1994 auf Vermittlung des Deutschen Kulturinstituts in Taipeh Ausstellungen gewidmet. Die Taiwanesen fanden schnell Zugang zum Zeichner Janssen mit seiner Affinität zur asiatischen Kunst und seiner Arbeit des brachialen Zuspitzens, und sie lernten Georg Christoph Lichtenberg zu dessen 200. Geburtstag kennen. Der Göttinger Physiker, Philosoph und spitzfedrige Aphoristiker wurde erstmals ins Chinesische übersetzt. Und so konnten die Besucher auch dieses wahre Wort Lichtenbergs lesen: "Wenn uns ein Engel einmal aus seiner Philosophie erzählen würde, ich glaube, es müßten wohl manche Sätze so klingen als wie: zwei mal zwei ist dreizehn!"

Und das ist so, als verrieten Mondsicheln aus Holz, ob Gott Lust hat zu antworten oder schweigen möchte: fremd und vertraut.

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