Am 7. Dezember 2002 waren die Bürger der regierungsunmittelbaren Städte Taipeh und Kaohsiung aufgerufen, jeweils einen neuen Bürgermeister und das Stadtparlament zu wählen. Große Überraschungen zeitigten die Wahlen nicht, doch nun graben sich die politischen Parteien Taiwans ihre Startlöcher für das 2004 stattfindende Rennen um die Präsidentschaft.
Taipeh und Kaohsiung sind die beiden größten Städte Taiwans: In Taipeh leben 2,64 Millionen Menschen, und die südtaiwanische Hafenstadt Kaohsiung hat 1,51 Millionen Einwohner -- jeder sechste Bürger der Republik China auf Taiwan lebt demnach in einer der beiden Städte, deren ländliche Einzugsgebiete nicht eingerechnet. Aufgrund ihrer Größe und der daraus resultierenden Bedeutung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft genießen sie gegenüber den übrigen Stadt- und Landkreisen einen politischen Sonderstatus.
70,6 Prozent der 1,94 Millionen Wahlberechtigten von Taipeh begaben sich am Wahlsamstag in ihr Wahllokal. Bei der Bürgermeisterwahl waren zwei Kandidaten angetreten: Amtsinhaber Ma Ying-jeou(馬英九) von der Kuomintang (KMT) und sein Herausforderer Lee Ying-yuan(李應元) von der Demokratischen Progressiven Partei (DPP). Nach der Auszählung der Stimmen entfielen auf Ma 64,1 Prozent, Lee hatte nur 35,89 Prozent der Wähler für sich mobilisieren können.
Auch im Stadtrat von Taipeh herrschen weiterhin klare Verhältnisse. Die KMT büßte zwar im Vergleich zur letzten Wahl im Jahre 1998 Stimmen ein, bleibt aber die stärkste Fraktion. 32,08 Prozent der Wähler stimmten für KMT-Kandidaten, die 20 der 52 Sitze im Stadtrat eroberten. Die DPP brachte es auf 28,51 Prozent und 17 Sitze. Drittstärkste Partei ist die im März 2000 als Abspaltung von der KMT entstandene Volksnahe Partei (People First Party, PFP) mit 17,56 Prozent der Stimmen (8 Sitze). Die mit Nachdruck für eine Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland eintretende Neue Partei (NP) sackte 9,01 Prozent der Stimmen ein (5 Sitze). Die programmatisch der DPP nahe stehende Taiwan Solidarity Union (TSU) bekam nur 3,71 Prozent der Stimmen und ging im Stadtrat folglich leer aus. Die übrigen zwei Sitze gingen an parteilose Kandidaten, auf die 8,96 Prozent der Stimmen entfielen.
Taiwans fünf große Parteien können grob in zwei Lager eingeteilt werden. Auf der einen Seite steht das nach der Parteifarbe der Regierungspartei DPP benannte "grüne" Lager aus DPP und TSU, die beide einer Wiedervereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland misstrauisch gegenüberstehen und statt dessen Lokalisierungstendenzen auf der Insel fördern, und auf der anderen Seite das nach der Parteifarbe der KMT benannte oppositionelle "blaue" Lager der Parteien KMT, PFP und NP, die eine Wiedervereinigung mit China befürworten. Im neuen Stadtrat Taipeh verfügt das blaue Lager mit 33 Sitzen über eine klare Mehrheit.
Sehr viel spannender als in Taipeh verlief die Auszählung der Wählerstimmen in Kaohsiung. Amtsinhaber Frank Hsieh(謝長廷) von der DPP konnte sich nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen knapp gegen seinen Herausforderer Huang Jun-ying (黃俊英)von der KMT durchsetzen: Für Hsieh votierten 50,04 Prozent der Wähler, für Huang 46,82 Prozent. Weit abgeschlagen waren die drei restlichen parteilosen Kandidaten Chang Po-ya(張博雅), Shih Ming-teh(施明德) und Huang Tien-sheng(黃天生), die gemeinsam nicht mehr als 3,14 Prozent der Stimmen erhielten. Die Wahlbeteiligung lag mit 71,4 Prozent nur unwesentlich höher als in Taipeh.
Im Gegensatz zu Ma Ying-jeou kann der im Amt bestätigte Frank Hsieh nicht auf eine bequeme Mehrheit seiner Partei im neuen Stadtrat bauen. Zwar ist die DPP dort mit 14 Sitzen (25,02 Prozent) stärkste Fraktion, doch auch gemeinsam mit den 2 Sitzen der TSU (6,71 Prozent) wird die im 44-sitzigen Stadtrat Kaohsiung erforderliche Abstimmungsmehrheit von 23 Sitzen vom grünen Lager deutlich verfehlt. Die KMT besetzt 12 Sitze (sie erhielt mit 25,75 Prozent etwas mehr Stimmen als die DPP, bekam jedoch aufgrund unterschiedlich großer Wahlbezirke weniger Sitze als die DPP), 7 Sitze gingen an die PFP (11,98 Prozent), die NP konnte mit 0,6 Prozent keinen Sitz erringen, und auf 9 Sitzen werden parteilose Abgeordnete Platz nehmen. Da auch das blaue Lager mit 19 Sitzen den Stadtrat Kaohsiung nicht allein kontrollieren kann, hängt dort künftig alles vom Abstimmungsverhalten der Parteilosen ab.
Prominenz allein ist heute kein Garant für Wählerstimmen mehr. Das mussten in Kaohsiung auch die beiden parteilosen Kandidaten Chang Po-ya und Shih Ming-teh feststellen. Chang war 1983 bis 1989 und 1997 bis 2000 Bürgermeisterin von Chiayi und außerdem 2000 bis 2002 Innenministerin der Republik China; Shih hatte sich als Dissident schon in der Zeit des Kriegsrechts (1947-1987) einen Namen gemacht, jahrelang aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen und war 1993 bis 1996 Vorsitzender der DPP. Sowohl Chang als auch Shih erhielten in Kaohsiung deutlich weniger Stimmen als erwartet.
Bei der Bürgermeisterwahl in Taipeh konnte der DPP-Kandidat Lee Ying-yuan (auf dem Plakat rechts) nur gut ein Drittel der abgegebenen Wählerstimmen für sich verbuchen.
Die Bedeutung der Politik auf der zentralen Ebene für die Ergebnisse der lokalen Wahlen darf nicht überbewertet werden. Zwar wird das politische Tagesgespräch in Taiwan von Themen wie der Unzufriedenheit mit der Wirtschaftslage, der Besorgnis erregend hohen Arbeitslosigkeit und den unbefriedigenden Fortschritten bei den notwendigen politischen Reformen -- etwa im Bankwesen oder bei den Beziehungen über die Taiwanstraße -- beherrscht. Doch beim Wahlkampf in Taipeh und Kaohsiung dominierten lokale Themen. Dass Ma Ying-jeou beim Werben um Wählerstimmen vornehmlich auf seine Leistungen als Bürgermeister verwies und keinen Versuch machte, die Politik der DPP-Zentralregierung wahlkampftaktisch für sich auszuschlachten, belegt die Sachlichkeit und Fairness der Wahlkampagne.
Nach den Wahlen konnte sich denn auch keine Partei zum alleinigen Sieger erklären. Zwar hat die KMT in Taipeh zweifellos einen glänzenden Triumph errungen, doch ob das Ergebnis als Protest gegen die Politik der Zentralregierung oder vielmehr als Anerkennung für Ma Ying-jeous administrative Leistungen zu werten ist, bleibt pure Spekulation. Demgegenüber gebührt auch der DPP für das Ergebnis in Kaohsiung Anerkennung. Amtsinhaber Hsieh hatte nicht nur Gegenwind von der schwierigen allgemeinpolitischen Lage, sondern auch mit Shih Ming-teh und Chang Po-ya zwei prominente Gegenkandidaten, die ihm programmatisch nahe standen. Hsiehs Haupt-Kontrahent Huang Jun-ying war sowohl von der KMT als auch von der PFP unterstützt worden. Und im Stadtrat errang die DPP zwar keine Mehrheit, konnte aber ihre Fraktion im Vergleich zu 1998 um 5 Sitze vergrößern.
Nichtsdestoweniger geht die Bedeutung dieser Wahlen über die Lokalpolitik hinaus. Namentlich die KMT und ihr Vorsitzender Lien Chan(連戰) sehen sich im Aufwind. Lien, bei der Präsidentschaftswahl 2000 noch grandios gescheitert, darf sich auch über wieder deutlich steigende Popularitätswerte freuen, mit denen er einen Anspruch auf eine erneute Nominierung als Präsidentschaftskandidat 2004 stützen könnte. Die Personalfrage ist indes noch nicht entschieden, denn mit Ma Ying-jeou steht nun ein neuer Stern am KMT-Himmel, dessen Charisma und außerordentlich hohe Popularitätswerte nach seinem Wahlsieg nicht ignoriert werden können.
Auch die NP darf mit dem Wahlergebnis zufrieden sein. In den neunziger Jahren war die Partei bei Wahlen wiederholt mit zweistelligen Ergebnissen verwöhnt worden, doch nach der Gründung der PFP durch James Soong(宋礎瑜) schienen die Stammwähler der NP scharenweise zur PFP überzulaufen, und nach dem enttäuschenden Ergebnis bei der Parlamentswahl vor einem Jahr wähnten viele politische Beobachter die NP schon mit einem Bein im Grab. Diese Wahl hat gezeigt, dass die NP zumindest im Raum Taipeh immer noch über eine ansehnliche Anhängerschaft verfügt.
In der TSU wird man die bisher verfolgte Strategie dagegen ernsthaft überdenken müssen. Geistiger Vater der TSU ist der ehemalige Staatspräsident Lee Teng-hui(李登輝), der sich nach dem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt offen als Gegner der Wiedervereinigung Taiwans mit China zu erkennen gab und für eine Besinnung auf die eigenen taiwanischen Werte eintrat. Lee, immerhin von 1988 bis 2000 Parteivorsitzender der KMT, warb in Taipeh für den DPP-Kandidaten Lee Ying-yuan. (Lee Teng-hui und Lee Ying-yuan sind nicht miteinander verwandt; Lee ist der häufigste chinesische Familienname.) Dass die TSU trotz massiver Wahlkampfhilfe von Lee Teng-hui auch in Kaohsiung nicht über 6,71 Prozent kam, wird als Beleg dafür gewertet, dass die Zugkraft Lees abnimmt und die Lokalisierungskampagne der TSU vom Wähler als polarisierend wirkend zunehmend abgelehnt wird. Ob Lee Teng-huis Eingeständnis, als junger Mann 1946 bis 1947 Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas gewesen zu sein, sich negativ auf das Wahlergebnis der TSU ausgewirkt hat, ist ungewiss.
Trotz der ungünstigen gesamtpolitischen Lage und einer geeinten Opposition gewann Frank Hsieh (mit Mikrofon) zwar die Bürgermeisterwahl in Kaohsiung, hat im Stadtrat aber keine Mehrheit.
Nun richten sich alle Augen auf die im Jahre 2004 anstehende Präsidentschaftswahl. Die Ausgangslage für den Amtsinhaber Chen Shui-bian(陳水扁) ist denkbar ungünstig: Nach über zwei Jahren Wirtschaftskrise, steigender Arbeitslosigkeit, fehlenden Fortschritten bei den Beziehungen zur VR China und Dominanz der Oppositionsparteien im Parlament ist die Unzufriedenheit in der Bevölkerung stark gewachsen -- Umfragen ergeben nur noch unbefriedigende Popularitätswerte. Dazu kommt, dass die Oppositionsparteien des blauen Lagers ihre Lektion aus der Niederlage 2000 gelernt zu haben scheinen. Damals waren mit Lien Chan und James Soong zwei Kandidaten aus dem KMT-Pool gegen Chen angetreten, der dann eine knappe einfache Mehrheit erringen konnte.
Angesichts dieser Erfahrung mehren sich nun die Einigungstendenzen zwischen KMT, PFP und NP. Bei einer Begegnung kurz nach den Wahlen in Taipeh und Kaohsiung bekräftigten Lien und Soong ihre Entschlossenheit, 2004 einen gemeinsamen Kandidaten gegen Chen ins Rennen zu schicken. Die Personalfrage soll im März oder April dieses Jahres entschieden werden. Eine solche Allianz würde sicherlich auch von der NP unterstützt. Nach Zeitungsberichten gibt es in der NP Pläne zu einer Wiedervereinigung mit der KMT, die nach den Vorstellungen von NP-Führern zudem eine Vereinigung zwischen KMT und PFP fördern soll.
Bis dahin ist es jedoch noch ein langer und steiniger Weg. Zwar werden KMT und PFP nicht müde, ihren Willen zur Zusammenarbeit zu betonen, doch von einem geschlossenen Vorgehen konnte bei diesen Wahlen noch keine Rede sein. Die PFP sprach sich in Kaohsiung erst relativ spät für den KMT-Bürgermeisterkandidaten Huang aus -- nach Ansicht der KMT zu spät, so dass es nicht mehr zu einem Sieg gegen Frank Hsieh reichte. Auf der anderen Seite weigerte sich Ma Ying-jeou in Taipeh, für Stadtrat-Kandidaten der PFP zu werben.
Dass PFP-Chef James Soong dagegen aktiv Werbung für Ma Ying-jeou machte und dabei sogar auf einer Wahlveranstaltung zu dem dramatischen Mittel eines Kniefalls griff, muss nicht unbedingt als Zeichen eines Kooperationswillens interpretiert werden. Schon vor der Wahl war Ma als möglicher Anwärter auf eine Präsidentschafts-Kandidatur im Gespräch und wäre damit ein Konkurrent Soongs, dessen Ambitionen auf das höchste Staatsamt von kaum jemandem bezweifelt werden. Im Falle einer Niederlage Mas bei der Bürgermeisterwahl fürchtete Soong möglicherweise eine Wiederholung des Szenarios von Chen Shui-bian, der seinerseits nach verlorener Bürgermeisterwahl 1998 von keinerlei Amtspflichten an einer Kandidatur für die folgende Präsidentschaftswahl gehindert wurde.
Bislang hat Ma jedoch kein konkretes Interesse an einer Kandidatur geäußert. Sollte der KMT-Vorsitzende Lien Chan innerhalb der Partei Anspruch auf die Nominierung anmelden, wird sein Parteifreund Ma es vermutlich nicht auf eine Kampfabstimmung ankommen lassen -- Anfang der siebziger Jahre war Ma an der National Taiwan University Lien Chans Student, und bei den Chinesen ist die traditionelle Lehrer-Schüler-Beziehung bis heute von besonderem Respekt geprägt.
Wenn sich die Wirtschaftslage in Taiwan bis zum Frühjahr 2004 nicht spürbar verbessert, wird es für Chen Shui-bian sehr schwer, die kommende Präsidentschaftswahl aus eigener Kraft zu gewinnen, denn anders als 2000 kann Chen sich nicht mehr darauf verlassen, dass seine politischen Gegner sich durch Uneinigkeit gegenseitig blockieren. Doch letztendlich bleibt dies alles eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Bis zu den Wahlen ist es noch über ein Jahr, das Überraschungen mit unkalkulierbaren Einflüssen auf das Wählerverhalten bringen kann.
Der geordnete Verlauf der Wahlen in Taipeh und Kaohsiung hat dagegen aufs Neue gezeigt, dass die Demokratie in Taiwan gereift und gefestigt ist. Nun sind die Politiker aller Parteien aufgerufen, zum Wohle der Bürger in der Republik China die drängende Aufgabe der Wiederbelebung der Wirtschaft anzupacken und überfällige Reformen umzusetzen.