Ein ehemaliges Arbeitspferd des Nutzholzgewerbes wird heute ausschließlich für den Fremdenverkehr genutzt.
Noch ist die Morgendämmerung über dem Berg Alishan(阿里山) nicht angebrochen, und das einzige Licht ist ein Blauschimmer, verhüllt von Wolken, die über den Bergwäldern auf Taiwans beliebtestem Vorgebirge schlummern. Wenig ist zu sehen und noch weniger zu hören, doch ein Pfeifton in der Ferne durchdringt die Stille und wird auch von den Passagieren vernommen, die auf den ersten Zug des Tages warten.
Die Begrüßung der Sonne auf dem Gipfel des Alishan, sobald sie über dem Kamm des Jadeberges (Yushan) hervorkriecht, ist ein jahrhundertealtes Ritual, das zuerst von den Ureinwohnern der Gegend zelebriert wurde. Seit den letzten hundert Jahren ist indes die Bergeisenbahn, die Besucher hertransportiert, ebenso Teil des Rituals wie die Sonne selbst. Und an diesem Tag gibt es für die Besucher etwas Besonderes -- eine Fahrt in einem Zug mit einer der Dampflokomotiven, mit der vor Jahrzehnten schon ihre Eltern und Großeltern gefahren waren.
Die Alishan-Waldeisenbahn wurde zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gebaut, als Taiwan noch eine Kolonie des japanischen Kaiserreiches war und um die gewerblichen Zonen der Insel mit der Außenwelt zu verbinden. Im Süden gab es Strecken zum Transport von Zuckerrohr, und im Norden wurde Gold und Silber aus den Bergen ins Flachland verfrachtet. Doch die Alishan-Linie, die ins gebirgige Innere der Insel griff, hatte etwas Ironisches an sich: Die Züge, die hinauf in die Berge fuhren, brachten Touristen in die Bergwaldidylle, doch andere Züge nahmen bei der Fahrt hinab den Wald mit sich.
Für den 83-jährigen Su Hsin-yu gehören die Bäume auf dem Alishan und das Pfeifen vor Tagesanbruch zu seinen lebhaftesten Erinnerungen. Kurz vor Ende der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) begann Su als Holzfäller zu arbeiten, und er erlebte den Wandel von der Kaiserlichen Taiwan-Eisenbahn zur Alishan-Waldeisenbahn unter der Verwaltung des Forstamts Taiwan.
"Ich kann mich noch an meinen ersten Arbeitstag erinnern", erzählt Su, während er darauf wartet, in den Morgenzug einsteigen zu können. "Es sah merkwürdig aus, wenn ein riesiger Baum neben dem Zug umfiel, doch wenn man ihn zersägt und auf den Zug geladen hatte, sah er wirklich wie Nutzholz aus."
Nachdem die Schienenverbindung zwischen den Wäldern und dem Flachland fertig war, wurden Züge, die große Baumstämme den Berg hinunterkarrten, auf dem Alishan ein gewohnter Anblick. Die über 70 Kilometer lange Gleisstrecke mit den einzigartigen Z-Schaltern und Spiraltrassen war ein Wunderwerk der Technik, und die riesigen eisernen Shay-Lokomotiven, die ab 1911 Bäume hinabfuhren, waren etwas, das die Taiwaner noch nie gesehen hatten.
Ihren Namen verdankten die Schnaufrösser ihrem Schöpfer Ephraim Shay (1839-1916), einem Sägewerkbetreiber und Erfinder, der eine Art von Dampflokomotive patentierte, die zuerst das Holzgewerbe in den Vereinigten Staaten und dann in Ländern rund um den Erdball umwandelte, einschließlich Taiwan.
Zu Schays Zeiten wurde die Holzfällerei an größeren Flüssen betrieben, so dass man die Stämme zu Sägewerken flussabwärts transportieren konnte. Wenn die Holzvorräte in Ufernähe erschöpft waren, wurde der Fällbetrieb eingestellt, bis der Winter kam und schwere Schneefälle einsetzten. Bei Schnee konnten Bäume, die zuvor zu weit vom Fluss entfernt gewesen waren, gefällt und anschließend mit Pferdeschlitten fortgezogen werden.
Schays Erfindung war eine Verbesserung vorhandener Lokomotiventechnik, die jedem Rad auf beiden Seiten des Chassis mehr Drehmoment brachte und dadurch schwerere Lasten erlaubte, was die Abhängigkeit des Holzgewerbes von Bergflüssen und Eis verminderte. Die Lizenz seiner Erfindung vergab er zu Beginn der 1880-er Jahre an die Lima Company im US -Bundesstaat Ohio, und die Firma stellte 2770 der heute berühmten Lokomotiven her.
Die erste dieser Maschinen, die nach Taiwan exportiert wurde, war eine 18 Tonnen schwere Shay der A-Klasse mit 8330 PS und einer Nutzlast von 1023 Tonnen, fertig gestellt am 10. August 1910. Gebaut wurde sie für die Ed Van Nierof & Co., und laut Limas Werkstattarchiven erhielt sie die Streckennummer 11 und sollte auf der "Mount Arisan-Eisenbahn, Formosa" laufen.
In den folgenden sieben Jahren schraubte Lima insgesamt zwanzig Shays für die Alishan-Eisenbahn zusammen -- acht Stück des 18-Tonnen-Typs der Klasse A und ein Dutzend des 28-Tonnen-Typs der Klasse B. Sie wurden an US-amerikanische Exportfirmen verkauft, die sie wiederum an die Kaiserliche Taiwan-Eisenbahn veräußerten.
Eine Geschichte über die Alishan-Eisenbahn ist auch eine Geschichte über das Holz, für das sie gebaut wurde: Hinoki(扁柏), wie es auf Japanisch genannt wird, gilt als ein heiliges Holz. Es duftet leicht nach Zitrone, hat eine helle Farbe und eine lange, gerade Maserung. Es ist außerdem extrem witterungsbeständig und wurde traditionell bevorzugt für den Bau von Bädern, Tempeln und kaiserlichen Palästen verwendet. Aus dem Hinoki-Zypressenholz wurden sogar Särge gefertigt, in denen verblichene Kaiser zur letzten Ruhe gebettet wurden.
Nicht nur das Holz ist erhaben, sondern auch die Bäume, aus denen es gewonnen wurde, galten bei den Holzfällern als bewohnt von alten Geistern. Man glaubte, dass das Fällen eines 1000 Jahre alten Riesenbaumes den Männern, die Hand an den Stamm legten, Unglück brachte, deswegen ließen die Holzfäller die ältesten Bäume aus Respekt stehen -- sie können heute am Pfad der Göttlichen Bäume besichtigt werden -- und errichteten einen Altar für die Baumgeister, um das Fortnehmen ihres Holzes zu sühnen.
Die Preise für dieses Holz waren so hoch, dass es für Taiwans japanische Gouverneure, als sie 1895 die Verwaltung der Insel übernahmen, zu einem der begehrtesten Naturschätze wurde. Entsprechend bauten sie mehrere Eisenbahnstrecken zur Ernte der Baumriesen in Taiwans Vorgebirgen -- unter anderem die Taipingshan- und die Pashienshan-Eisenbahn sowie die Lintienshan-Strecke an der Ostküste. Die Alishan-Eisenbahn, die Höhenlagen von bis zu 2270 Metern über Meeresniveau erreichte, war nicht nur die am höchsten gelegene Eisenbahnlinie auf der Insel, sondern auch eine der höchsten der Welt.
Sie war und ist Taiwans einzigartigste Eisenbahnlinie. Von der Stadt Chiayi(嘉義) mit ihrer subtropischen Hitze aus steigt sie in die frische Luft der gemäßigten Zone auf 800 Metern und rattert zwischen hohen Hinoki-Bäumen und roten Zypressen, die bei zunehmender Höhenlage ebenfalls höher wachsen. Bei der Ankunft an der Endstation Alishan könnte der Passagier dem Irrtum unterliegen, man sei an einem Ort in den europäischen Alpen angelangt.
Mit warmer Kleidung ist man übrigens gut beraten. Die Temperaturen dort oben sind auch im Sommer kühl, und im Winter fallen Schneeflocken lustlos auf den von Piniennadeln bedeckten Erdboden. Abends machen Wolken dort Station, und der Beginn jedes Tages wird mit dem Pfeifen des Zuges angekündigt.
Noch bevor man den Zug selbst sehen kann und nur das Pfeifen von seiner Ankunft kündet, erkennt Su ihn als die Nummer 31. Als der Zug dann in Sicht ist, zeigt sich, dass Su Recht behalten hat, und die Umstehenden auf dem Bahnsteig loben seine ausgeprägte Fähigkeit, Züge an ihrem Klang zu unterscheiden.
Natürlich ist das nur der neckische Trick eines alten Mannes. Su verrät, dass nur zwei Dampfloks renoviert wurden und zu bestimmten Anlässen verwendet werden. Selbst früher, als auf der Alishan-Linie ausschließlich Dampfloks fuhren, fuhren in der Regel die gleichen Lokomotiven auf den gleichen Strecken.
"Nummer 31 fuhr [in den achtziger Jahren] auf der Mianyue-Linie", erklärt Su. "Heute fährt sie auf der Chushan-Linie. Das bringt mich durcheinander." Die Mianyue- und die Chushan-Linie sind Nebenstrecken der Alishan-Eisenbahn. Die Mianyue-Linie und ihr berühmter Affenfels wurden bei dem schweren Erdbeben im September 1999 stark beschädigt. Die Chushan-Linie befördert auch heute noch täglich vor Morgengrauen Menschen, die den Sonnenaufgang beobachten wollen, allerdings werden die Waggons heute normalerweise von Dieselloks gezogen.
Die Dampflok Nummer 31, die an diesem Morgen in den Bahnhof Alishan einfährt, verließ Limas Eisenbahnwerkstätten am 16. November 1917, eine der letzten Lokomotiven, die nach Taiwan exportiert wurden, und zu Beginn des darauf folgenden Jahres nahm sie den Dienst auf der Alishan-Linie auf. Es handelt sich dabei um eine Shay der B-Klasse, die 12 860 PS erzeugen und 1265 Tonnen ziehen kann. So wie Su gesagt hat, fuhr sie zuletzt auf der Mianyue-Linie, bevor sie außer Dienst gestellt und im Reparaturdepot des Peimen-Bahnhofs in Chiayi aufs Abstellgleis geschoben wurde, wo sie verfiel.
Nach den Worten von Hwang Ching-yu, dem Leiter des Reparaturdepots im Peimen-Bahnhof, sind seine Mechaniker nur in der Arbeit an den heute benutzten Diesellokomotiven ausgebildet, und um eines der alten Dampfrösser in Schuss zu bringen, braucht man ein Team von Spezialisten, welches das Projekt beaufsichtigt.
"1999 haben wir Nummer 26 renoviert, und später Nummer 31", berichtet Hwang. "Das waren komplette Neukonstruktionen. Von den ursprünglichen Shay-Loks ist außer dem Design wirklich nichts übrig geblieben. Sie wurden sogar von Maschinen, die Holz verfeuerten, umgestellt auf mit Öl betriebene Maschinen."
Su weiß all dies und noch mehr. Er erinnert sich an die Tage, als Zugpersonal durch die Gänge flanierte und die Gläser der Fahrgäste mit Wasser nachfüllte. Kurz vor dem Bahnhof Duolin(多林) bekam Su immer Hunger, weil er wusste, dass seine Lunchpackung nur wenige Kilometer entfernt in Fenchihu(奮起湖) auf ihn wartete.
Es gibt auch unangenehme Erinnerungen an Unfälle und Entgleisungen. Der jüngste und schlimmste Unfall ereignete sich im März 2003, als ein entgleister Zug einen Hang hinabstürzte. 17 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben, rund 160 wurden verletzt.
Doch trotz solcher Tragödien führten diese Gleise, welche die Lasten für ein destruktives Gewerbe transportierten, viele Menschen wie Su -- für die das Pfeifen des Alishan-Zuges eine Kindheitserinnerung ist und für die sich die Landschaft an der 70 Kilometer langen Strecke in ihren Gedanken wie ein Film abspult -- durchs Leben.
Der Generaldirektor des Forstamtes Yen Jen-teh ist einer dieser Menschen, und nach seinen Worten setzt sich das Amt dafür ein, das Erbe der Alishan-Eisenbahn zu bewahren: "Es ist wichtig, dass diese alten Loks weiter laufen, nicht nur, um das Gedeihen des Fremdenverkehrs am Alishan zu gewährleisten, sondern auch, damit sie die Erinnerungen an Taiwans Vergangenheit weiter tragen können."
Als Su am Bahnhof Chushan aus dem Zug steigt und den neuen Tag begrüßt, weilen seine Gedanken bei vergangenen Tagen. Abgeholzte Flächen sind nun von neuen Bäumen bewachsen, und die Züge, die einst von den Gleisen verschwunden waren, sind wieder zurück, wenn auch nur zu besonderen Anlässen.
"Diese Loks haben so viel von diesem Wald weggetragen", sinniert er. "Ich bin froh, dass sie lang genug überlebt haben, um Menschen herzubringen und ihnen zu zeigen, dass Alishan immer noch ein sehr schöner Ort ist."
(Deutsch von Tilman Aretz)
David Momphard ist Journalist und
lebt in Taipeh.
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