27.12.2024

Taiwan Today

Kultur

Die Wissenschaft der Kunst

01.11.2013
Accordion von Chen Chin nach Abschluss der fast sechsmonatigen Restaurierungsarbeiten ein Restaurator leimt abblätternde Stellen an die Farbschicht; Chef-Restaurator Lin Huan-shen verstärkt die Rückseite des Bildes mit traditionellem japanischen Gewebepapier und Stärkepaste. (Fotos mit freundlicher Genehmigung des Taipei Fine Arts Museum)
Das Gemälde Accordion von Chen Chin (陳進, 1907–1998) gilt als Meisterwerk einer der bedeutendsten Künstlerinnen Taiwans im frühen 20. Jahrhundert. Es blieb indes über sieben Jahrzehnte lang der Öffentlichkeit verborgen, bis es 2009 vom Taipei Fine Arts Museum (TFAM) erworben wurde. Doch wie begeistert die TFAM-Mitarbeiter darüber waren, ein wichtiges Kunstwerk zu entdecken, so erschüttert waren sie über seinen Zustand. Zwar war das Bild, das die ältere Schwester der Malerin beim Akkordeonspielen zeigt, noch ebenso elegant wie am Tag der Fertigstellung im Jahr 1935, doch die empfindliche Gouache auf Seide war arg verknittert, Farbe löste sich ab, und es war dringend notwendig, den Schaden am Gemälde zu reparieren und weiteren Verfall zu verhindern. Nun kam die sorgfältige Disziplin der Kunstrestaurierung zum Einsatz.

Accordion war ein Kernelement einer Ausstellung, die neulich im TFAM stattfand und die Bemühungen des Museums vorführte, seine unschätzbare Sammlung moderner chinesischer Kunst zu bewahren. „Enthüllt: Restaurierung der ständigen Sammlung“ lief von Februar bis Juni dieses Jahres und präsentierte 76 Werke, die nach 1998 restauriert wurden, und die Ausstellung fügte sich ein in den Rahmen der Feierlichkeiten zum 30-jährigen Bestehen des TFAM.

TFAM setzt sich dafür ein, seine Sammlung zu bewahren, doch das ist kein kleines Unterfangen. „Restaurierung ist ein sehr breites Feld“, definiert Luo Hung-wen, Restaurator in der Beschaffungsabteilung von TFAM. Neben Reparaturen umfasst der Begriff zahlreiche Alltagsaufgaben wie Lagerung und Handhabung von Kunstwerken oder die Aufrechterhaltung der Milieukontrollen bei Beleuchtung und Luftfeuchtigkeit. Ölgemälde zum Beispiel sind nach Auskunft des Restaurators in Taiwans warmem und feuchtem Klima besonders anfällig für Schimmel. Luo hat sich auf Restaurierung von Arbeiten auf Papier spezialisiert und ist der einzige Restaurator im TFAM, deswegen muss das Museum bei der Restaurierung von Kunstwerken anderer Art mit auswärtigen Experten zusammenarbeiten.

Im Falle von Accordion wandte das Museum sich an Lin Hua-shen. Lins Studio, das Taipei Conservation Center, hat zwei fest angestellte Mitarbeiter, beschäftigt aber bei Bedarf mehr Personal. „In der Regel gehen wir zuerst zum Museum, um den Schaden [an dem Werk] zu begutachten und zu erfahren, welche Art von Ausstellung stattfindet“, berichtet Lin. „Danach fangen wir im Einklang mit den Bedürfnissen des Museums mit der Arbeit an. Als nächstes müssen wir entscheiden, ob wir das Werk so bewahren, wie es ursprünglich war, oder ob wir Veränderungen oder Anpassungen vornehmen.“

Der Ablauf vom Befund bis zur fertigen Restaurierung hängt vom Zustand des Kunstwerks ab, kann aber laut Lin im günstigsten Fall bereits binnen einem bis drei Monaten abgeschlossen sein. Accordion war eine Ausnahme, weil man fast sechs Monate bis zur Fertigstellung benötigte, teilweise wegen seines Zustandes und auch wegen der Größe — das Bild ist 180 Zentimeter hoch und 170 Zentimeter breit. „Das Problem war, dass es keinen Rahmen oder Befestigung hatte“, sagt Lin. „Die Pigmentschicht hatte großen Schaden gelitten, war in Stücken und zum Ausstellen nicht geeignet. Außerdem war es sehr groß, deswegen mussten wir einen Weg finden, es zu seiner ursprünglichsten Form zu restaurieren. Wir mussten nicht nur für einen stabileren Rahmen sorgen, sondern auch herausfinden, wie wir die Farben wiederfinden könnten. Für die Arbeit an diesen beiden Dingen wandten wir viel Zeit auf.“

Weil das Kunstwerk in Nihonga (日本畫), also im japanischen Stil, ausgeführt ist, wurden zwei Fachleute aus Japan eingeladen, um zu gewährleisten, dass die Aufhängung des Bildes mit den traditionellen Techniken übereinstimmte und die Arbeit dem höchsten Standard entsprach. Es wurde die gleiche Unterstützung benutzt wie beispielsweise für Kulturschätze in Japan, während die Experten zudem bei dem entscheidenden Schritt, in Handarbeit das Trägerpapier an dem fragilen Gemälde festzukleben und dabei Falten oder Luftblasen zu glätten (eine Aufgabe, die zügig erledigt werden muss, da der Leim schnell trocknet), ihre Erfahrung und Fertigkeiten einbrachten.

Die TFAM-Mitarbeiter wurden indes schnell gewahr, dass die Reparatur sichtbarer Schäden an Kunstwerken, damit sie sich für öffentliche Zurschaustellung eignen, nur ein Teil der Geschichte ist. Wissenschaftliche Tests, die während Restaurierungsverfahren vorgenommen wurden, führten zu einer Reihe von Entdeckungen im Bereich Kunstgeschichte, enthüllt Liliane Chang, Sektionschefin in der Beschaffungsabteilung von TFAM, und fügt hinzu, es habe ungefähr ein Jahr gedauert, die Ausstellung zu organisieren.

Direkt unter der Oberfläche

Mehrere der spektakulärsten Entdeckungen waren verdeckte Skizzen, die an den Tag kamen, nachdem man Gemälde mit Röntgenbildern, UV- und Infrarot-Verfahren untersucht hatte. Post War aus dem Jahr 1950 von Ho Te-lai (何德來, 1904–1986) zum Beispiel verbirgt nicht nur eine, sondern sogar zwei verdeckte Skizzen — das Porträt eines Mannes über einem Obst-Stillleben. Chang fand es besonders spannend, das Porträt des Mannes sichtbar zu machen, da das Museum auch die vollendete Version davon besitzt. „Der Künstler fertigte die endgültige Version des Porträts im Jahr 1963 an, also kann man erkennen, dass von der Skizze unter Post War bis zum fertigen Porträt 13 Jahre vergingen. Das ist wirklich erstaunlich. Der Künstler wollte das Motiv, also das Porträt, vollenden und dachte über einen so langen Zeitraum darüber nach, bis er es schließlich fertigmalte. Er weilt nicht mehr unter den Lebenden, doch durch unsere Entdeckungen können wir seine Idee sehen und die Art und Weise, wie er sich seiner Kunst näherte. Ich dachte, das ist echt unglaublich, etwas Wahrheit direkt unter der Oberfläche, und das kam durch die wissenschaftliche Untersuchung an den Tag.“

Nach Luos Worten hebt die Reinigung und Restaurierung des Werks A Turkey aus dem Jahr 1942 von Chen Yi-jang (陳宜讓, 1899–1986) die Notwendigkeit für solche Hightechmethoden hervor. Das Gemälde ist die realistische Darstellung eines Truthahns, doch Mitarbeiter im Museum waren sich nicht sicher, ob bestimmte Farben auf dem Bild so herauskamen, wie der Künstler es beabsichtigt hatte. „Man sieht Grau [auf den Federn], aber wir wussten nicht, ob das Schimmel war oder nicht, denn durch Schimmel sieht Schwarz immer heller aus, also untersuchten wir diesen Teil mit Röntgenfluoreszenzanalyse und Raman-Spektroskopie“, doziert er. Bei Röntgenfluoreszenzanalyse (X-Ray Fluorescence, XRF) wird ein Muster Röntgenstrahlen ausgesetzt, dabei zeichnet man die „sekundären“ Röntgenstrahlen auf, die davon ausgehen und je nach der Zusammensetzung der untersuchten Substanz unterschiedlich sein können. Raman-Spektroskopie zeichnet die Streuung von Licht auf, wenn eine einfarbige Lichtquelle, etwa ein Laser, auf ein Muster gerichtet wird. Die sich daraus ergebende Lichtstreuung kann man benutzen, um die Molekularstruktur der Substanz zu ermitteln. Luo: „Wir können von der XRF einen Spitzenwert [in der Anzeige] erkennen und diesen mit der Datenbank vergleichen, um zu sehen, was für ein Element das ist. Dies ist Kalzium — Maler fangen immer mit einer Kalziumschicht an. Nun gut, wir können die Kalziumschicht bestätigen, doch wir wissen nicht, was die Komponente der schwarzen Farbe ist. Mit der Raman-Spektroskopie betrachten wir ein anderes Spektrum und können attestieren, dass es sich um Holzkohle handelt. Jetzt können wir endlich zweifelsfrei mitteilen, dass dies kein Schimmel ist.“

Nach den Worten von Luo, der an der südtaiwanischen Tainan National University of the Arts (TNNUA) studierte und ein Praktikum bei George Eastman House in New York absolvierte, ist es in Taiwan nicht immer leicht, erfahrene Spezialisten aufzutreiben, die solche Arbeit durchführen können.

A Turkey von Chen Yi-jang. Zur Vorbereitung der Reinigung und anderer Restaurierungsarbeiten an dem Bild waren ausgiebige Tests erforderlich. (Foto mit freundlicher Genehmigung des Taipei Fine Arts Museum)

Fachliche Grundlage

Laut Chang Yi-feng, dem Leiter der kunsttechnologischen Schutz- und Restaurierungssektion der Cheng Shiu University in der südtaiwanischen Hafenmetropole Kaohsiung, bieten die TNNUA und die National Yunlin University of Science and Technology in Zentraltaiwan die maßgeblichen Kunstbewahrungs-Programme dieses Landes an. „In der Vergangenheit wurde [ein großer Teil der Restaurierungsarbeit von] Studierenden der TNNUA [durchgeführt] — sie hatten Kurse über Restaurierung, doch die Lehrer nahmen daneben auch Aufträge an, und die Studierenden beteiligten sich an der Arbeit“, erzählt Chang Yi-cheng. „Unsere Gruppe unterscheidet sich davon insofern, als wir alle Fachleute sind, die entweder außerhalb Erfahrungen gesammelt haben oder ein Diplom in Restaurierungsarbeit besitzen. Jedes Jahr reist unser Personal für pädagogischen Austausch ins Ausland, oder ausländische Lehrkräfte kommen dazu in unser Zentrum.“ Die Cheng Shiu-Gruppe arbeitet seit zwei Jahren mit dem TFAM zusammen und ist vielleicht die größte ihrer Art in Taiwan. Ihr gehören neun Restaurierungsspezialisten an, außerdem etwa ein Dutzend Kunst-Fachleute und Wissenschaftler mit Hintergrund in Chemie, Maschinenbau und Werkstofftechnik.

Nach Luos Ausführungen haben die einzelnen Konservatoren, mit denen das TFAM zusammenarbeitet, alle irgendwann im Ausland studiert wie Lin, der dazu in Japan war. Einheimische Konservatoren, die größere Lernmöglichkeiten außerhalb von Taiwan gewinnen, haben dagegen nach ihrer Rückkehr mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen. „Die Ölgemälde taiwanischer Künstler, besonders der frühen taiwanischen Maler, die von ihnen verwendeten Materialien, die Auswirkungen des Klimas — das alles unterscheidet sich total von Ölgemälden in anderen Ländern“, weiß Liliane Chang. „Wenn also ausländische Konservatoren herkommen und unsere Kunstwerke in Augenschein nehmen, ist es für sie ebenfalls eine Herausforderung, denn sie haben keine Ahnung, wie die Materialien vor 50 oder 60 Jahren in Taiwan waren oder wie das Milieu, die Gesellschaft oder Veränderungen des Klimas sich auf die Gemälde ausgewirkt haben.“ Chang fügt hinzu, dies sei ein weiterer Grund, warum das Museum seine Restaurierungsarbeit fest auf wissenschaftliche Untersuchungen stützt.

Trotzdem kann die Wissenschaft nicht alle Antworten auf die Frage liefern, welches die „besten“ Maßnahmen für ein Kunstwerk sind. „Es ist nicht Teil der Ausstellung, aber wir haben eine Eisenskulptur in unserer Sammlung, die recht ernsthaft korrodiert ist und weiterhin rostet“, bedauert Liliane Chang. „Wir hatten Leute hier, um sich das anzuschauen, und eine Person regte an, wir könnten eine Schicht Öl auftragen, um die Skulptur zu schützen und weiterem Rost Einhalt zu gebieten. Das würde jedoch die Farbe des Originals ein wenig verändern... Deswegen suchen wir weiterhin nach einer idealen Methode zur Restaurierung.“

Der Fall hebt die vielen Erwägungen hervor, die von Kunst-Restauratoren in Betracht gezogen werden müssen. „Vom Standpunkt eines Restaurators aus gesehen ist es am wichtigsten, zu verstehen“, definiert Lin. „Bevor wir uns zum Beispiel mit einem Werk befassen, wollen wir wissen, warum der Künstler oder die Künstlerin es so gemacht hat. Eine Form kann eine bestimmte Bedeutung haben. Müssen wir sie bewahren oder können wir sie ändern?“ Liliane Chang ergänzt: „Ein Konservator muss über sehr gute Kommunikationsfähigkeiten verfügen, vor allem wenn man mit einem Museum zu tun hat. Vielleicht ist der Künstler bereits verstorben, wie trifft man also eine gute Beurteilung darüber, welche Art von Behandlung man vornehmen möchte? Für die Kommunikation mit dem Museum, dem Künstler oder seiner Familie braucht man sehr gute Kommunikationsfähigkeiten; es erfordert eine Menge Teamarbeit, um zu einem guten Beschluss zu kommen, was zu tun ist.“

Gewisse „Hinweise“ belassen

Zuweilen führten solche Gespräche zu den Entschluss, bestimmte Kunstwerke nicht zu restaurieren. Ein Beispiel ist eine Reihe kleiner Gemälde aus der Frühphase des 20. Jahrhunderts, die früher in der Zhongshan-Halle in Taipeh hing. „Die Besucher mögen sich fragen, ,ist daran überhaupt irgendwelche Restaurierungsarbeit vorgenommen worden?‘ Man sieht ihnen nämlich an, dass sie nicht sauber sind, nicht wie neue Werke, doch das ist das Ergebnis der Gespräche mit dem Konservator, Forschern und auch mit dem Museum“, erläutert Yang Shun-wen, Mitarbeiterin im internationalen und öffentlichen Programm von TFAM. „Die Debatte drehte sich darum, ob man eine vollständige Restaurierung vornehmen oder stattdessen einige ,Spuren‘ bewahren solle, zum Beispiel über die Materialien, den Stil oder die Rahmung, damit Angehörige späterer Generationen die Gemälde betrachten und ihre Geschichte kennen könnten.“ Am Schluss einigten sich alle auf die weniger riskante Methode, die Werke im Großen und Ganzen in ihrem Originalzustand zu belassen, weil dadurch „die Menschen und Forscher späterer Zeiten von den Kunstwerken mehr Informationen erlangen könnten“, so Yang.

Trotz der aufwändigen Verfahren, die damit zusammenhängen, bringt eine Beteiligung an der Restaurierung großartiger Kunstwerke wie Accordion ihren eigenen Lohn mit sich, findet Lin: „Natürlich empfinden wir jedes Mal, wenn wir eine Arbeit vollenden, schlicht gesagt ein riesiges Erfolgsgefühl.“ Luo war von den Entdeckungen, die im Laufe der Restaurierung der Kunstwerke des Museums gemacht wurden, nicht vollständig überrascht. „Da ist immer mehr zu entdecken“, versichert er. „Die Analyse der Werke ist ein laufender Prozess, deswegen denke ich, naja, da ist immer mehr harte Arbeit für mich.“ Für Liliane Chang lohnt sich all die Arbeit wegen der neuen Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden. „Wenn wir diese Entdeckungen machen, scheint es, dass — selbst wenn die Maler [bereits gestorben sind], die Gemälde schon vollendet sind und all die Arbeit offenbar abgeschlossen ist — die Entdeckungen eine neue Sichtweise öffnen und uns zurück zu dem Punkt bringen, als der Künstler das Gemälde schuf. Es ist eine neue Methode, die Werke zu sehen, weswegen das so spannend ist.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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