04.05.2025

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Wie in der Verfassung vorgesehen

01.05.2011
Chan Hou-sheng betrachtet das Prinzip der Volkswohlfahrt und die Verfassung der Republik China als die beiden Leitlinien für die soziale Entwicklung des Landes. (Foto: Huang Chung-hsin)
So wie in den meisten anderen Gesellschaften geht die soziale Entwicklung in der Republik China von den wirtschaftlichen Rechten der Bürger aus, läuft weiter mit Fortschritten bei ihren politischen Rechten und schließlich ihren sozialen Rechten. Ich denke, bei der sozialen Entwicklung der Republik China gibt es zwei Leitlinien. Die erste ist das Prinzip der Volkswohlfahrt (minsheng 民生) aus den Drei Volksprinzipien (sanmin zhuyi 三民主義) des Staatsgründers Sun Yat-sen 孫逸仙 (1866-1925). 1896 verbrachte Dr. Sun viel Zeit damit, Dokumente und Papiere im Britischen Museum in London zu studieren. Als er später nach China zurückkehrte und die Drei Volksprinzipien formulierte, beruhten viele Konzepte bei dem Prinzip der Volkswohlfahrt auf europäischen — vor allem britischen und französischen — Konzepten darüber, wie eine ideale Gesellschaft erreicht werden könnte.

Die zweite Leitlinie ist die Verfassung der Republik China. In dem Abschnitt der Verfassung über soziale Sicherheit von Artikel 152 bis Artikel 154 wird festgelegt, dass der Staat für geeignete Gelegenheiten zum Arbeiten für Jene sorgen solle, die zum Arbeiten in der Lage seien; dass der Staat, um die Lebensverhältnisse der Arbeitnehmer und Bauern zu verbessern und ihre Produktivität zu steigern, zu ihrem Schutz Gesetze verabschieden und politische Maßnahmen ausführen solle, wogegen Frauen und Kinder in Arbeitsverhältnissen je nach ihrem Alter und Gesundheitszustand besonderen Schutz genießen sollen; und dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Einklang mit den Prinzipien Harmonie und Zusammenarbeit produktive Unternehmen fördern sollten, wobei Einigung und Schlichtung bei Konflikten zwischen beiden Seiten gesetzlich geregelt werden sollten. Die Drei Volksprinzipien und die Verfassung der Republik China bildeten unbestreitbar den Entwurf für die Entwicklung der sozialen Rechte der Bürger, nachdem sich die Regierung der Republik China 1949 nach Taiwan zurückgezogen hatte.

Als Taiwan nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 der Herrschaft der Republik China unterstellt wurde, blieben einige Einflüsse aus der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) in Taiwan wirksam, etwa die Bauernverbände. Die Japaner hatten jedoch die Errungenschaften ihres Mutterlandes bei gesellschaftlicher Entwicklung nicht nach Taiwan übertragen. So hatte Japan in Taiwan kein Sozialversicherungssystem aufgebaut, obwohl es in Japan schon eine Weile eines gegeben hatte. Allerdings gibt es ein paar private Organisationen für soziale Wohlfahrt, die während der japanischen Kolonialzeit gegründet worden waren und heute noch aktiv sind. Als die von der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) geführte Regierung der Republik China 1949 nach Taiwan kam, machte sie sich sehr bald daran, die Insel auf Grundlage der Drei Volksprinzipien und der Verfassung der Republik China zu entwickeln. In den vergangenen 60 Jahren wandelte sich Taiwan nach und nach zu einer Gesellschaft, in der die Menschen faire soziale Rechte haben, die gesetzlich geschützt sind.

Die Kosten der staatlichen Krankenversicherung, die heute 99,9 Prozent von Taiwans Bevölkerung erfasst, werden von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Staat gemeinsam getragen. (Foto: Huang Chung-hsin)

Das kann durch verschiedene Entwicklungen belegt werden. Zuallererst richteten wir bereits 1950 ein Arbeitnehmerversicherungssystem (laobao 勞保) ein. Nach Japan war Taiwan das zweite Land in Asien mit einem solchen Versicherungssystem. Außerdem haben wir Systeme für Einkommenssicherheit aufgebaut, etwa einen 1999 verabschiedeten Arbeitslosenversicherungsplan — damals betrug die Arbeitslosenquote unter 3 Prozent. Momentan sind über 8 Millionen Menschen in Taiwan vom Arbeitslosenversicherungsplan erfasst, der damit eines unserer wichtigsten Sozialversicherungsprogramme ist. Das System hat mehrere Anpassungen erfahren, bei denen eine Neuerung 2009 besonderen Stellenwert hatte, nämlich die Verabschiedung des Arbeitnehmer-Rentenplanes. Der Plan garantiert Arbeitnehmern im Ruhestand eine monatliche Pension anstelle einer einmaligen Pauschalzahlung, die vor der Änderung vorgesehen war, und die Monatsrente erhöht die finanzielle Sicherheit der Ruheständler. 2008 starteten wir zudem ein nationales Rentensystem, durch das Senioren ein stabiles Monatseinkommen erhalten. Auch hier war Taiwan das zweite Land in Asien, das ein solches Rentensystem initiierte. Andererseits müssen wir bei der Verwaltung der Altersrenten und Arbeitnehmerpensionen große Vorsicht walten lassen. Die beiden Programme stellen große Fortschritte bei der gesellschaftlichen Entwicklung dar, aber ohne korrektes Management könnten sie für spätere Generationen zu einem finanziellen schwarzen Loch werden.

Der zweite Meilenstein unserer Fortschritte bei sozialen Rechten ist das staatliche Krankenversicherungssystem. Das System steht im Einklang mit Artikel 157 der Verfassung der Republik China, der besagt, dass der Staat für eine Verbesserung der Volksgesundheit umfassende Dienstleistungen für Hygiene und Gesundheitsschutz sowie ein System für öffentliche medizinische Fürsorge bereitstellen soll. In manchen Ländern wie Großbritannien werden staatliche Krankenversicherungsprogramme mit einem staatlichen Budget unterhalten. In unserem System werden die Kosten von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Staat gemeinsam getragen. Das staatliche Krankenversicherungssystem der Republik China erfasst heute 99,9 Prozent von Taiwans Bevölkerung. Paul Krugman, der 2008 mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, lobte das System als „eines der besten der Welt“. Trotzdem sehen wir bei dem staatlichen Krankenversicherungssystem Bedarf für Nachbesserungen. Deswegen drängte die Regierung auf die Verabschiedung von Gesetzen, um ein staatliches Krankenversicherungssystem der zweiten Generation einzuführen.

Überdies hat sich die Regierung außerordentlich darum bemüht, sich um sozial und wirtschaftlich benachteiligte Gruppen zu kümmern wie körperlich und geistig Behinderte, Familien mit niedrigem Einkommen, Ureinwohner und Neu-Zuwanderer. Wir haben besondere Gesetze und spezielle Programme, um die sozialen Rechte von Menschen aus diesen Gruppen zu schützen, etwa das Recht auf Bildung und Arbeit. Ureinwohner zum Beispiel können mit 55 Jahren Anspruch auf eine Rente erheben, wogegen die Altersgrenze für andere Bürger bei 65 Jahren liegt. Daneben wurden Maßnahmen ergriffen, die Ureinwohnerkulturen zu bewahren und bei der wirtschaftlichen Entwicklung von Ureinwohnergemeinden zu helfen. Da Taiwan sich zu einer alternden Gesellschaft wandelt, misst die Regierung der Fürsorge für Senioren hohe Bedeutung bei, wozu auch der Aufbau von Einrichtungen für langfristige Seniorenpflege zählt.

Die Arbeitnehmer-Rechte von Körperbehinderten und anderen benachteiligten Gruppen werden gesetzlich geschützt. (Foto: Chang Su-ching)

In den vergangenen Jahrzehnten verschob sich in Taiwan der Schwerpunkt von Wirtschaftsentwicklung auf ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftsentwicklung und Lebensqualität der Menschen. Meiner Ansicht nach sollte die Verbesserung der Lebensqualität in Zukunft eine noch höhere Wertschätzung erhalten als Wirtschaftsentwicklung. Im Jahre 2009 unterzeichnete Staatspräsident Ma Ying-jeou (馬英九) den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights, ICCPR) sowie den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, ICESCR). Taiwan ist kein Mitglied der Vereinten Nationen (United Nations, UN), doch die Unterzeichnung der beiden Pakte unterstreicht unsere Entschlossenheit, unseren Bürgern ihre sozialen Rechte zu garantieren. Der Schritt zeigte zudem unser Bestreben, uns in diesen Bereichen an internationale Standards zu halten.

Im vergangenen Jahrhundert — um genau zu sein, in den vergangenen sechzig Jahren — wandelte Taiwan sich von einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft zu einer Industriegesellschaft und anschließend zu einer postindustriellen Gesellschaft. In den Jahrzehnten zwischen 1950 und der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 spielte die Regierung eine eher paternalistische — manche würden sagen diktatorische — Rolle dabei, Taiwans gesellschaftliche Entwicklung zu leiten. Der nichtstaatliche Sektor wiederum hatte insofern eine Schlüsselrolle inne, als mehrere soziale Bewegungen die Regierung dazu trieben, zu reagieren und voranzuschreiten.

(Englische Übersetzung von Taiwan Review, Deutsch von Tilman Aretz)

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