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01.03.2011
Chiang Kai-shek, Staatspräsident der Republik China (ganz rechts), 1971 bei einer Begegnung mit Ronald Reagan, damals Gouverneur von Kalifornien. Die engen Beziehungen zwischen der Republik China und den USA hatten auch einen beträchtlichen kulturellen Einfluss der USA auf Taiwan zur Folge. (Foto aus unserem Archiv)
Kultur legt die Grundlage für Zivilisation. Allerdings hat die Politik bei der Konzeption und Entwicklung der chinesischen Kultur stets eine leitende Rolle gespielt. Die Kulturszene in der Republik China in den vergangenen hundert Jahren war keine Ausnahme. Die Gründung der Republik China im Jahre 1912 markierte zwar den Schlusspunkt der jahrtausendealten Geschichte kaiserlicher Herrschaft in China, aber manche der alten Denkweisen wirkten nach. Yuan Shi-kai 袁世凱 (1859-1916), der erste Staatspräsident der Republik China, unternahm den Versuch, sich selbst zum Kaiser erklären zu lassen, vermochte es andererseits nicht, sein „Reich“ vor den ausländischen Mächten zu schützen, die China in der Qing-Dynastie (1644-1911) ab Mitte des 19. Jahrhunderts bedrängt hatten.

Die Lage wurde schnell untragbar, und einige Mitglieder der aufstrebenden Mittelklasse und Kulturträger erhoben sich und forderten einen Wandel, indem sie 1915 die Bewegung für eine neue Kultur (新文化運動) initiierten. Führende Persönlichkeiten der Bewegung waren Chen Duxiu 陳獨秀 (1879-1942), Tsai Yuan-pei 蔡元培 (1868-1940), Lu Xun 魯迅 (1881-1936) und Hu Shih 胡適 (1891-1962). Sie glaubten, dass traditionelle chinesische Werte für die politische Schwäche des Landes verantwortlich seien, und befürworteten daher den Aufbau einer neuen chinesischen Kultur auf der Grundlage westlicher Standards, besonders „Mr. D“ und „Mr. S“, wie man Demokratie und Wissenschaft (auf Englisch science) damals zuweilen nannte.

Zahlreiche westliche Doktrinen und Übersetzungen wurden populär, besonders jene, welche die Kulturkritik und nationschaffenden Impulse der Bewegung verstärkten. Gelehrte verbreiteten eifrig ihre eigenen Ansichten durch Publikationen unterschiedlicher Art. Die Zeitschrift Neue Jugend (新青年), 1915 von Chen Duxiu gegründet, war ein führendes Forum in der Debatte, und ein beachtliches literarisches Establishment, darunter Verlage, Zeitschriften und Literaturzirkel, boten die Grundlage für eine lebendige literarische und intellektuelle Szene. Führende Persönlichkeiten der Bewegung, unter ihnen Chen Duxiu und Hu Shih, begannen sich für die Verwendung der modernen chinesischen Umgangssprache (白話) anstelle der klassischen chinesischen Schriftsprache (文言文) für geschriebenes Chinesisch einzusetzen. „Ich schreibe, was ich sage“, propagierten diese Gelehrten, nach deren Überzeugung klassisches Chinesisch nur von Gelehrten und Beamten verstanden wurde, wogegen die neue Schreibweise es auch Menschen mit weniger Bildung gestatten würde, zu lesen.

Die Bewegung für eine neue Kultur konzentrierte sich auf eine Reihe von Themen. Dank der Bemühungen durch die treibenden Kräfte der Bewegung konnten die Chinesen mehr über Ideen wie individuelle Freiheit und Emanzipation der Frauen erfahren, gleichzeitig wurden ihnen überdies die Werte der Demokratie und Gleichheit in der Gesellschaft vorgestellt. Auch der Marxismus, der den Aufstieg der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ab 1921 und letztendlich auch die Teilung des Landes 1949 mit verursachte, kam durch die Bewegung nach China, und manche Führungspersönlichkeiten wie Chen Duxiu wurden Gründungsmitglieder der KPCh. Zwar tobte 1916 bis 1928 in China ein Bürgerkrieg zwischen der Regierung und den „Warlords“ (lokale Militärmachthaber), doch Historiker betrachten die Periode der Neuen Kulturbewegung zwischen 1915 und 1927 im Hinblick auf Kulturentwicklung als eine der freiesten Epochen in der Geschichte Chinas.

Hu Shih, eine der Schlüsselfiguren in der Bewegung für eine neue Kultur ab 1915. (Foto aus unserem Archiv)

Nach dem Sieg der von Chiang Kai-shek 蔣介石 (1887-1975) geführten Regierungstruppen gegen die Warlords 1928 war das Land zwar wieder vereint, doch nun begann zunächst der erste Bürgerkrieg zwischen Chiangs Nationaler Volkspartei (Kuomintang, KMT) und der KPCh (1928-1936) und später der Widerstandskrieg gegen die japanischen Invasoren (1937-1945). Die Kulturpolitik jener Zeit bestand darin, „Dissens zu eliminieren“, daher hatten die meisten kulturellen Aktivitäten entweder einen anti-japanischen oder einen anti-kommunistischen Tenor. 1934 ließ Staatspräsident Chiang Kai-shek die Bewegung für ein neues Leben (新生活運動) vom Stapel. Ziel der Bewegung war, das Alltagsleben von den vier Tugenden Anstand (禮), Rechtschaffenheit (義), Redlichkeit (廉) und Schamgefühl (恥) zu durchdringen. „Die vier Tugenden sind wesentliche Prinzipien für die Förderung der Moral“, verkündete Chiang in einer Rede in der Republikhauptstadt Nanjing 1934. „Sie bilden die Grundregeln für den Umgang mit Menschen und menschlichen Angelegenheiten, für die Veredelung von sich selbst und die Verbesserung der eigenen Umgebung.“

In gewisser Weise kann man die Bewegung für ein neues Leben ansehen als ein gesellschaftliches Mittel für die Stärkung der Moral in einem Land, das unter Korruption, Querelen zwischen politischen Gruppierungen und Opiumsucht ächzte. Sie forderte auf zum guten Betragen des Einzelnen, etwa durch Freundlichkeit gegenüber Nachbarn, Befolgen der von der Regierung aufgestellten Regeln und andere Verhaltensmaßregeln. Man kann sie aber auch als Kulturbewegung interpretieren, die mit einer Mischung aus traditionellem Konfuzianismus, Christentum und Nationalismus ein Gegengewicht zur kommunistischen Ideologie schaffen wollte. Manche beklatschten die Bewegung für ihre Rolle, während des Widerstandkrieges gegen Japan zur Steigerung der Lebensqualität beigetragen zu haben, andere kritisierten sie als unpraktisch in einer Zeit, als die Menschen während des bewaffneten Konfliktes Entbehrungen durchmachten. Die Bewegung für ein neues Leben wurde im Jahre 1949, als die von der KMT geführte Regierung der Republik China sich nach Taiwan zurückzog, „ausgesetzt“.

Taiwans moderne Kultur wurde überwiegend von Phasen der Einwanderung und der Kolonisierung geprägt. Obwohl die reichen kulturellen Traditionen von Taiwans Ureinwohnern schon vor vielen Jahrhunderten bestanden, wurde ein beträchtlicher Teil davon in der Neuzeit marginalisiert oder ging verloren. Die ersten Zuwanderer vom chinesischen Festland brachten die chinesische Kultur auf die Insel, und dann waren da noch die Machthaber aus Holland, Spanien, von der chinesischen Ming-Dynastie (1368-1644), die mandschurischen Qing sowie die Japaner. Während dieser langen und bewegten Kulturgeschichte befand sich Taiwan selbst meistenteils eher am Rand, weit entfernt von den Zentren des zivilen und kulturellen Lebens ihrer jeweiligen Herrscher. Und doch verschob sich die kulturelle Identität Taiwans bei jedem Herrschaftswechsel ein wenig.

Als 1912 auf dem chinesischen Festland die Republik China gegründet wurde, war Taiwan eine japanische Kolonie — die Qing hatten die Insel 1895 nach einem verlorenen Krieg gegen das Land der aufgehenden Sonne im Vertrag von Shimonoseki abgetreten. Die Kolonialherren verfolgten zu Beginn eine verhältnismäßig tolerante Kulturpolitik. Während sie eine „Verwestlichung im japanischen Stil“ betrieben, hatte Taiwan die Gelegenheit, sich allmählich von einer lokalen zu einer zeitgemäßen globalen Kultur hin zu bewegen. Betätigung im Zusammenhang mit volkstümlicher Kultur und Religion war ebenfalls erlaubt. Neben der Gründung von Einrichtungen wie Museen und Forschungsinstituten kamen westliche und japanische Künste wie Theater und japanische Malerei nach Taiwan. Als sich Japan Mitte der dreißiger Jahre dagegen auf den großen Pazifikkrieg vorbereitete, verstärkte die Kolonialverwaltung ihre Anstrengungen, Taiwan zu „japanisieren“ und zur Mobilisierung gegen die Alliierten fester ans japanische Kaiserreich zu binden. Man zwang die Taiwaner, japanische Namen anzunehmen und Japanisch zu sprechen, und die Teilnahme an nicht-japanischen kulturellen Veranstaltungen und Aktivitäten wurde verboten.

Eine Protestkundgebung gegen den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Republik China und den USA. Außenpolitische Rückschläge während der siebziger Jahre brachten Taiwan dazu, sich auf die eigenen kulturellen Schätze zu besinnen. (Foto aus unserem Archiv)

Mit der Niederlage Japans am Schluss des Zweiten Weltkrieges fand auch die japanische Kolonialherrschaft ein Ende, doch jene fünfzig Jahre hinterließen viele Spuren in Taiwan. Heute noch sind recht viele japanische Begriffe in der Umgangssprache gebräuchlich, und die japanische Küche beeinflusst Taiwans kulinarische Welt.

Kulturkontrolle

Die Zentralregierung der Republik China verlegte ihren Sitz 1949 nach Taiwan und verhängte das Kriegsrecht. Sie brachte nicht nur Kulturschätze wie jene aus dem Palastmuseum in der Verbotenen Stadt (紫禁城) in Beijing mit, sondern auch die Kulturpolitik „Dissens eliminieren“. Als nun die Taiwaner sich anschickten, die kulturelle Betätigung, die unter den Japanern verboten gewesen war, wieder aufzunehmen, nahm die Regierung die Haltung ein, dass die Einheimischen zuerst eine Periode der moralischen und ideologischen Erziehung durchlaufen müssten, um ihre Werte mit denen der Regierung „in Einklang zu bringen“, bevor sie in den Genuss ihrer vollen Bürgerrechte kommen dürften. Die Regierung setzte eine strenge Zensur durch, und viele Mitglieder von Taiwans städtischen Eliten wurden inhaftiert oder hingerichtet, damit zur Ankunft der KMT-Getreuen vom Festland ihre Dominanz in den städtischen kulturellen Zentren gewährleistet sei.

1953 ließ Chiang Kai-shek seine erste maßgebliche Meinung über Kultur verlauten. Dazu gehörte ein obligatorischer nationalistischer Lehrplan für die Bildung und der Bau von Einrichtungen für geistige und körperliche Erholung, außerdem wurde ein wichtiges staatliches Kulturprogramm zur Verbreitung antikommunistischer Propaganda gestartet. Als Gegengewicht zur Kulturrevolution (文化大革命), die der KPCh-Boss Mao Zedong 毛澤東 (1893-1976) Mitte der sechziger Jahre auf dem Festland entfesselt hatte, leitete die Regierung der Republik China 1966 die Bewegung für chinesische kulturelle Renaissance (中華文化復興運動) ein. Die Bewegung umfasste eine Reihe von Programmen, die als Antwort auf die kommunistische Bewegung auf dem Festland, bei der alles Alte mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden sollte, die traditionelle chinesische Kultur zu fördern suchte. Bei den Programmen in Taiwan wurde die Veröffentlichung chinesischer Literaturklassiker finanziell unterstützt, man baute das Nationale Palastmuseum (NPM), und Schulbücher und Lehrpläne wurden gemäß der offiziellen Sichtweise auf die traditionelle chinesische Kultur konzipiert. Daneben sponserte die Regierung Gesellschafts- und Gemeindeveranstaltungen mit Schwerpunkt auf traditioneller chinesischer Kultur, und man propagierte den Konfuzianismus in Verbindung mit den Lehren des Staatsgründers Dr. Sun Yat-sen 孫逸仙 (1866-1925), genannt „Drei Volksprinzipien“ (三民主義).

Der Schwerpunkt auf der Bewahrung der traditionellen chinesischen Kultur brachte es allerdings mit sich, dass Ausdrücke der taiwanischen „Lokalkultur“ unterdrückt wurden. So gab es zum Beispiel in Schauspielhäusern und im Fernsehen reichlich Aufführungen der Pekingoper, doch Sendezeit für Taiwanoper und Handpuppentheatervorstellungen mit taiwanischem Dialekt war begrenzt. Tatsächlich war der Gebrauch von Mandarin, also der chinesischen Standardhochsprache, bereits seit 1951 im Bildungssystem vorgeschrieben, und 1963 mussten mindestens die Hälfte aller Radio- und Fernsehprogramme aus Sendungen auf Mandarin bestehen. 1976 wurde diese Quote auf 70 Prozent erhöht. Überdies musste die Thematik aller Publikationen, darunter literarische Arbeiten, Zeitungen, Filme, Fernseh- und Radioprogramme, der Staatsideologie folgen. Bei den visuellen Künsten galt traditionelle chinesische Tuschemalerei mehr als Gemälde im westlichen oder japanischen Stil. Insgesamt dominierte der Staat den öffentlichen kulturellen Raum, und chinesische nationalistische Verbünde wurden ein Teil kultureller Institutionen, so dass nur wenige Ressourcen übrig blieben, die das Wachstum der Basiskultur förderten.

Das National Taiwan Museum wurde 1908 von den Japanern errichtet. Ein halbes Jahrhundert kolonialer Herrschaft hinterließ Spuren japanischen Einflusses auf der ganzen Insel. (Foto: Huang Chung-hsin)

Der einzige „fremde“ Einfluss im Taiwan der fünfziger und sechziger Jahre war die US-amerikanische Kultur. Enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in vielen Bereichen ermunterte zahlreiche Taiwaner dazu, manche „neutrale“ kulturelle Betätigungen aus den USA wie Ausstellungen, Musik und Sport aufzunehmen. Zwar waren amerikanische Kulturveranstaltungen in Taiwan begrenzt, aber sie spielten eine wesentliche Rolle in Taiwans aufkommender Kulturszene, weil sie den ersten direkten Kontakt der Einheimischen mit der westlichen Kultur darstellten.

Veränderungen in der Weltpolitik in den siebziger Jahren bewirkten einen Wandel in Taiwans Kulturszene. Nach dem Verlust des Sitzes in den Vereinten Nationen im Oktober 1971 wurden die formalen diplomatischen Beziehungen zwischen der Republik China und einer Reihe von Staaten abgebrochen. In den Folgejahren lösten Rückschläge in der internationalen Politik ein gewisses Maß an antiamerikanischen und antijapanischen Ressentiments aus. Die Menschen begannen, über das nachzudenken, was sie in der Heimat hatten, und so kam die Bewegung für die heimatliche Scholle (鄉土運動) in Gang. Künstler verschoben den Schwerpunkt ihrer Arbeit von antikommunistischen und chinabezogenen Themen auf die Menschen und die Alltagsgeschichten, die sich in Taiwan ereigneten, auf dem Boden ihrer Heimat. Ausgehend von Kunst und Literatur weitete sich die neu entdeckte Aufmerksamkeit für die Lokalkultur auf Popmusik, Filme und andere Bereiche aus. Gleichzeitig fing auch die Regierung an, Taiwans einzigartige kulturelle Merkmale zu entwickeln. 1981 richtete der Exekutiv-Yuan (行政院), also Taiwans Regierungskabinett oder Ministerrat, den Rat für Kulturangelegenheiten (Council for Cultural Affairs, CCA) als höchste Institution des Landes für Planung und Aufsicht von Taiwans kulturellen Betrieben ein.

Schlüssel zu Multikulti

Während die Bewegung für die heimatliche Scholle oft als einer der bedeutendsten Faktoren bei der Entstehung einer „Taiwan-zentrierten“ Kultur angesehen wurde, erwies sich die Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 als Schlüsselereignis, das einem multikulturellen Taiwan den Weg ebnete. Die liberalisierten Massenmedien dienten einerseits als Kanal für das Hereinkommen ausländischer Kulturen, aber sie boten auch den einheimischen „Minderheiten“ – den Ureinwohnern, Hakkas und Nachfahren der frühen Einwanderer aus der festlandchinesischen Provinz Fujian — reichlich Raum, so dass sie ihren eigenen kulturellen Identitäten, die während der Ära des Kriegsrechts lange unterdrückt gewesen waren, Ausdruck verleihen konnten. Taiwanstudien, also die Untersuchung der Geschichte, Gesellschaft, Kunst, Literatur und aller anderen Aspekte der Lokalkultur, wurde ein renommierter Forschungsbereich. Die Anerkennung von Taiwans vielfältigen Stimmen durch die Regierung wurde durch die Gründung des Rates für Ureinwohnerangelegenheiten (Council of Indigenous Peoples, CIP) im Dezember 1996 und des Rates für Hakka-Angelegenheiten (Council of Hakka Affairs, CHA) im Juni 2001 reflektiert.

Die Aufhebung des Kriegsrechts öffnete auch die Pforte für Kulturaustausch über die Taiwanstraße. Zwar verlangsamte sich der Prozess zwischen 2000 und 2008, als die Demokratische Progressive Partei (DPP) die Geschicke des Landes lenkte und dabei eine Politik der Ent-Sinisierung verfolgte, doch der Austausch intensivierte sich aufs Neue ab 2008, als die KMT die Macht zurückeroberte und der Dialog mit Festlandchina wieder aufgenommen wurde. Im September 2010 trafen sich Emile C. J. Sheng (盛治仁), CCA-Minister der Republik China, und der festlandchinesische Kulturminister Cai Wu (蔡武), also die höchsten Kulturpolitiker beider Seiten, auf dem Kulturforum über die Taiwanstraße in Taipeh. „Politik, wie stark sie auch sein mag, wird letztendlich verschwinden, aber die Kultur wird von einer Generation an die nächste weitergegeben“, philosophierte Sheng auf dem Forum. „Der Kulturaustausch über die Taiwanstraße hat den Zweck, dass die Menschen auf beiden Seiten ein besseres Verständnis füreinander und mehr gegenseitigen Respekt gewinnen, und nur durch Austausch mit offenem Herzen können wir die großartige chinesische Zivilisation erneuern.“

Mit dem Nachlassen der Spannungen über die Taiwanstraße nahm der Kulturaustausch mit Festlandchina zu. Seit 1993 ist Taiwans berühmtes Tanztheater Cloud Gate schon oft zu Gastspielen nach drüben gereist. (Foto aus unserem Archiv)

Nach den Worten von Liu Chao-shiuan (劉兆玄), zwischen 2008 und 2009 Premierminister der Republik China und heute Vorsitzender des Nationalen Kulturverbandes, sollte Festlandchina sich für eine chinesische kulturelle Renaissance einsetzen und die Angelegenheiten über die Taiwanstraße mit Wohlwollen durchführen, wenn es eine großartige Weltmacht sein will. In einer Rede im Präsidialamt in Taipeh im Dezember 2010 zitierte Liu den britischen Historiker Arnold J. Toynbee, der sinniert hatte, die einzigen menschlichen Zivilisationen, welche die Welt im 21. Jahrhundert retten könnten, seien die chinesische Zivilisation auf der Grundlage des Konfuzianismus und jene, die den Lehren des Mahayana-Buddhismus folgten.

Toynbees Prophezeiung werde sich nicht verwirklichen lassen, außer Festlandchina leiste große Beiträge zur globalen kulturellen Entwicklung, unterstrich der Ex-Premier. „Festlandchina wird nicht in der Lage sein, das gleiche Format oder solchen Einfluss wie Großbritannien im 19. Jahrhundert oder die USA im 20. Jahrhundert zu erlangen, wenn es dem Land nicht gelingt, Großes zur menschlichen Zivilisation und Kultur beizusteuern“, sagte Liu. „Taiwan ist ein Einwanderungsland mit einer aufnahmebereiten und innovativen Kulturentwicklung. Taiwan kann diese wertvollen Eigenschaften dazu benutzen, neue Spielregeln für das 21. Jahrhundert mit zu gestalten und beim Streben nach einer chinesischen kulturellen Renaissance die Rolle einer Vorhut und eines Beschleunigers spielen.“

Von ihrem Wesen her kann Kultur so breitgefächert und vielfältig sein wie die Gesamtheit der gesellschaftlich vermittelten Glaubensvorstellungen, Künste und aller anderen Produkte menschlichen Schaffens und Denkens. Interessant dabei ist, dass der größere Zusammenhang oft in den kleinen Einzelheiten des täglichen Lebens erkennbar sein kann. In Taiwan hängen zum Beispiel die sich wandelnden Ernährungsgewohnheiten direkt mit den breiteren kulturellen Veränderungen zusammen, die sich hier ereigneten.

Vor mehreren hundert Jahren brachten die frühen Einwanderer vom Festland die fujianesische Küche nach Taiwan mit. Taiwans Küche wurde später von den Japanern während ihrer Kolonialherrschaft beeinflusst. Scheiben von rohem Fischfleisch japanischer Art namens Sashimi und eine Sauce aus Ketchup, Knoblauch, Ingwer, Sojasauce und Zucker zum Würzen von Meeresfrüchten sind auf den heutigen Speisetischen immer noch üblich.

Angehörige des Ureinwohnerstammes der Yami, auch Tao genannt, die auf der Orchideeninsel vor Taiwans Ostküste leben. Durch die Aufhebung des Kriegsrechts 1987 konnten zuvor vernachlässigte „Minderheiten“ ihrer kulturellen Identität eine Stimme verleihen. (Foto aus unserem Archiv)

Alle Kochkünstler chinesischer Lande

Als die KMT nach Taiwan übersetzte, brachten die Flüchtlinge aus allen Provinzen des chinesischen Festlandes ihre Kochkünste mit. Sie führten etwa Teigtaschen und Dampfnudeln ein und andere Nahrungsmittel aus Weizenmehl, die seit Jahrtausenden die Ernährungsgrundlage der Menschen im China nördlich des Yangtze-Flusses bilden. Diese Rolle spielt in den Gebieten Südchinas der Reis. In der frühen Nachkriegszeit wurden in „festlandchinesischen“ Restaurants indes zumeist Gerichte nach dem Geschmack der hochrangigen KMT-Beamten serviert, da die Preise dort die Möglichkeiten der durchschnittlichen Taiwaner in einer überwiegend armen und einfachen landwirtschaftlichen Gesellschaft weit überschritten.

Ab Mitte der achtziger Jahre kam Fastfood westlichen Stils herein, als Taiwans Wirtschaft boomte und mehr Menschen zum Essen ausgingen und auch zunehmend ins Ausland reisten. Allerdings setzte sich bei den Einheimischen nicht alles in gleicher Weise durch. McDonald’s und Kentucky Fried Chicken kamen in Taiwan besser an als Ketten wie Hardee’s und Wendy’s, die auf dem Markt nicht richtig Fuß fassen konnten und sich schließlich zurückzogen.

Gleichzeitig wurde die Küche vom Festland und anderswo allmählich an einheimische Vorlieben angepasst, und die taiwanische Küche selbst wird immer populärer. Im vergangenen Jahrzehnt wurden viele dieser Gerichte aus heimischer Cuisine sogar in die Speisefolge von Staatsbanketts aufgenommen. Obendrein sind im Zuge der Verbesserungen der Beziehungen über die Taiwanstraße zahlreiche gastronomische Unternehmen aus Taiwan auf dem Festland geschäftlich aktiv geworden.

Zu einem gewissen Grad spiegeln die Veränderungen bei Ernährung im vergangenen Jahrhundert die Kulturentwicklung der Republik China wider. Taiwan ist ein Gemisch aus chinesischer, japanischer und westlicher Küche und Kulturen, die zum Teil durch politischen und wirtschaftlichen Wandel zusammenkamen. Beide sind aufnahmebereit und dabei trotzdem einzigartig, und sie haben den Vorteil, dass jeder etwas nach seinem oder ihrem Geschmack finden kann.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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