Beide Preise würdigen lebenslange Errungenschaften in der Kunst, wobei der eine Preis vom Exekutiv-Yuan 行政院 (also dem Regierungskabinett oder Ministerrat der Republik China) und der andere von der Nationalen Kultur- und Kunststiftung vergeben wird. In der Laudatio zu Chang im Januar dieses Jahres verlautete der Exekutiv-Yuan, wegen seiner meisterhaften Beherrschung verschiedener Kalligrafieformen und Innovation bei der Landschaftsmalerei sei Chang einer der bedeutendsten Künstler im heutigen Taiwan. In der Lobrede der Nationalen Kultur- und Kunststiftung im Juni pries man Changs andauernde, innovative Bemühungen bei kreativem Schaffen und Forschung sowie das sehr moderne Gefühl, das seine Arbeiten mit einer feinen Verbindung von Tuschemalerei und einzigartigen Kalligrafiestrichen vermitteln.
Während einer Ausstellung im Februar und März dieses Jahres, kurz nachdem Chang den Nationalen Kulturpreis erhalten hatte, wurde eine Auswahl seiner Werke, die er nach der Vollendung seines 90. Lebensjahres geschaffen hatte, in der Nationalen Sun Yat-sen-Gedächtnishalle in Taipeh gezeigt. Die Schau mit dem Titel „Mit Malerei und Kalligrafie voller Vergnügen alt werden“ umfasste nicht nur kleinere Bilder, deren Herstellung Chang nicht allzugroße körperliche Anstrengung abverlangt hatte, sondern auch eine 20-teilige Serie großformatiger Landschaftsmalereien, bei der jeder Teil der Serie fast 2,5 Meter hoch war.
Kursive Rolle, eine Arbeit aus dem Jahr 2007 von dem herausragenden Kalligrafen Chang Kuang-bin. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chang Kuang-bin)
Chang, 1915 in der südwestchinesischen Provinz Sichuan geboren, machte 1945 an einer staatlichen Kunstakademie auf dem Festland Examen mit Hauptfach traditionelle chinesische Malerei. Während des Studiums hatte er teilweise bei einigen der erlesensten Meister der Kunstform Unterricht gehabt, unter ihnen Fu Baoshi (傅抱石, 1904-1965) und Li Keran (李可染, 1907-1989). Am 18. Juli 1948, einem Datum, an das er sich mühelos erinnert, traf der von Shanghai kommende Chang im Hafen von Keelung an der Nordspitze Taiwans ein. Als Verwaltungsangestellter der Kriegsmarine war Chang im Rahmen des Rückzugs der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) gegen Ende des Bürgerkrieges der KMT gegen die chinesischen Kommunisten vom Festland nach Taiwan gekommen.
1967 errang Chang den höchsten Preis der Kalligrafiesektion der jährlichen Kunstausstellung der Provinz Taiwan, die ab 1946 von der mittlerweile nicht mehr bestehenden Provinzregierung Taiwan organisiert wurde und eine Fortsetzung der Kunstausstellung des Taiwan-Generalgouvernements darstellte, die während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) ins Leben gerufen worden war.
1968 nahm Chang seinen Abschied von der Marine und begann, im Nationalen Palastmuseum (NPM) in Taipeh als Redakteur und Forscher zu arbeiten. Neben dem Verfassen von Artikeln und Ausstellung seiner Kunstwerke zu zahlreichen Anlässen wurde er außerdem gebeten, in der Kunstabteilung des Nationalen Instituts der Künste zu unterrichten, das heute Taipei National University of the Arts (TNUA) heißt.
Kursive Zentral-Rolle (2007), 68 x 47 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chang Kuang-bin)
Als chinesischer Kunsthistoriker hat Chang sich auf Werke aus der Yuan-Dynastie (1279-1368) spezialisiert. „Es fing damit an, dass ich Ausstellungen mit Werken aus dieser Periode zu organisieren hatte“, begründet er seine Expertise über jene Zeit. Tatsächlich konnte dank seiner profunden Kenntnisse und seinem Verständnis der Yuan-Kunst schließlich ein seit langem schwelender Streit über die Echtheit zweier verschiedener Versionen einer Landschaftsmalerei beigelegt werden, die beide dem bedeutenden Yuan-zeitlichen Maler Huang Gongwang (黃公望, 1269-1354) zugeschrieben wurden. Ende der siebziger Jahre wurde eine Meinungsverschiedenheit zwischen Chang, damals ein unbekannter Museumsangestellter, und dem nahmhaften Gelehrten Hsu Fu-kuan (徐復觀, 1904-1982) über die Frage, welche der Versionen die echte sei, zu einem der fesselndsten Dispute in Taiwans Kunstgeschichte. Hsu verfocht die Echtheit der Version, die weithin als Originalschöpfung von Huang akzeptiert worden war, während Chang die andere Version für echt hielt. Am Schluss überzeugte Changs Forschung die meisten Mitglieder in Taiwans Kunstkreisen, dass die von ihm propagierte Version wirklich die authentische war. „Damals musste Hsu kaum erwarten, von einem Niemand wie mir herausgefordert zu werden“, schmunzelt Chang.
Vier Meister
Zu den nennenswerten Früchten von Changs Forschung zählt das Buch Vier Meister der Yuan-Dynastie (元四大家), welches das NPM im Jahre 1975 herausgab, und von 2000 bis 2001 erschien seine Chronologie der vier Yuan-Meister (元四大家年表) in drei Heften der Zeitschrift, die das Graduierteninstitut für Kunstgeschichte an der National Taiwan University (NTU) in Taipeh veröffentlicht. Die Chronologie der vier Yuan-Meister wurde dieses Jahr in der Form eines Gesamtbandes neu aufgelegt. Neben Huang Gongwang behandeln Changs Schriften die drei anderen Yuan-Meister Wu Zhen (吳鎮, 1280-1354), Ni Zan (倪瓚, 1301-1374) und Wang Meng (王蒙, 1308-1385).
Changs Interesse an und Fachwissen über die Yuan-Zeit sind im Stil seiner eigenen kreativen Arbeiten klar erkennbar. Seine Tuschemalerei folgt der Tradition der chinesischen Literaten, die dazu neigt, die Natur, wie sie dem Auge erscheint, weniger zu betonen, und stattdessen eine abstraktere, abgehobene Sichtweise der Welt bevorzugt. Die idealisierten Landschaften des Literatenstils, die in der Regel mit nur sparsamem Einsatz von Farbe gemalt werden, galten üblicherweise als höhere Kunstform gegenüber den detaillierten, realistischeren Variationen professioneller Maler, die keine Literaten waren. Häufig präsentieren die Literaten-Maler mit dem Schreibpinsel in der Hand ein Bild auf sehr ähnliche Weise, wie sie Worte schreiben. Beispielsweise wird ein Bambusblatt oder ein Bambusschaft mit einem Strich dargestellt, nicht viel anders als beim Schreiben eines chinesischen Schriftzeichens. Literatenmalerei gewann ab dem zehnten Jahrhundert wegen Vorlieben des Kaiserhofes der Song-Dynastie (960-1279) Anerkennung in der Gesellschaft und von Kritikern; die Song-Dynastie ist bekannt für ihren Wohlstand und gilt als Blütezeit der Kunst.
Die Darstellung des Steinkanals (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chang Kuang-bin)
Wang Chia-chi, ein taiwanischer Kurator und Kunstkritiker, schrieb in einer Einführung zu Changs Ausstellung in Taipeh 2010, dass während der Yuan-Dynastie die Technik der Anwendung von Schreibstilen bei Gemälden sogar noch vorherrschender wurde, da die Literatenmaler die kalligrafischen Aspekte der Malerei betonten. Namentlich Zhao Mengfu (趙孟頫, 1254-1322), ein hochrangiger Beamter am mongolischen Yuan-Hof, wurde nach Ansicht vieler der erste Maler, der eine Theorie über die Integration von Malen und Schreiben vertrat. Ein berühmtes Gedicht von Zhao erklärte, dass alle Bilder — als Beispiele wurden Steine, Bäume und Bambus genannt — mit kalligrafischen Formen und Fertigkeiten geschaffen werden könnten.
Chang propagiert eine ähnliche Philosophie und sagt, dass sowohl Malerei als auch Kalligrafie aus den Grundelementen Linien und Punkte bestehen. Mitte der neunziger Jahre entwickelte er einen unverwechselbaren Stil, der wie eine Tuschemalerei-Version des Pointillismus aussieht. Ob wie bei seiner früheren Arbeitsweise wahllos verteilt oder in seinen Werken der jüngeren Zeit nach Linien angeordnet, Chang verwendet in seinen Landschaftsbildern zahlreiche Tuschepunkte, überwiegend zu dem Zweck, Schatten und Texturen von Felsen oder Bergen zu zeigen. „Größere oder kleinere Tuschepunkte werden durch stärkeres oder sanfteres Aufdrücken aufs Papier gebracht“, lehrt Chang. „Ich höre erst dann damit auf, die Punkte aufzutragen, wenn der Pinsel vollständig trocken ist.“ Eine solches Verfahren ist eine Alternative zur traditionellen Tuschemalerei-Methodologie, nach der man durch leichte Tuschestriche mit der Seite eines trockeneren Schreibpinsels Landschaftselemente malt.
Zugleich hat der Punktekünstler nach und nach den Gebrauch von Farbe aufgegeben, indem er seine Hingabe für das verstärkt, was er „Tuschespiel“ nennt. Wang macht darauf aufmerksam, dass trotz des Fehlens von Farben die Anordnung von Tuschepunkten den Kontrast zwischen Licht und Schatten verstärkt und einen neuen Effekt erzeugt. „Zwar folgt Chang traditionellen Mustern der Landschaftsmalerei, doch seine Kunstfertigkeit, das Bild mit Punkten zu füllen, bereichert die Landschaftsgemälde um eine stark abstrakte Qualität und einen bezwingenden visuellen Aspekt“, schrieb Wang Chia-chi.
Darstellung des Wasserlaufes der Yuan-Familie (2003), 69 x 69 cm (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chang Kuang-bin)
Wilde Kursivschrift
In einer Einführung in eine Kunstbuchserie aus dem Jahr 2009, in der Chang als einer der herausragendsten Künstler Taiwans der vergangenen 100 Jahre genannt wird, wies TNUA-Dozent Chao Yu-shiu darauf hin, dass in Changs Tuschepunkt-Arbeiten dreidimensionale Landschaftsdarstellungen im zunehmenden Maße von zweidimensionalen ersetzt wurden. „Seine früheren gewundenen Linien lösen sich in überwältigende Punkte mit einem wild-kursiven Kalligrafiestil darin auf“, beschreibt Chao. „Mit solch einem tiefen, essenziell kursiven Schreibgefühl wird die Malerei im Prinzip mit der Kalligrafie eins.“
Abgesehen von seinen Tuschegemälden ist Chang ein herausragender Fachmann für wichtige Kalligrafieformen, darunter die altertümliche Siegelschrift (篆書), die Kanzleischrift (隸書) und ganz besonders die kursive Grasschrift (草書). Für ihn veranschaulicht das Aufkommen des kursiven Stils während der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) die Vervollkommnung der Schreibkunst. „Am Anfang reckten sich die Schriftzeichen nach oben, und dann wurden sie flach, wie ein Imperium, das waagerecht seine Arme ausstreckt, um die Welt zu umarmen“, findet Chang. „Später hatten wir die eckige Zeichenform, die dann beim Kursivstil ,rückgängig gemacht‘ und wie eine grobe Skizze geschrieben wurde.“ Seine Romanze mit der schönen Kursivschrift begann schon vor Jahrzehnten. Als er lernte, die kursiven Schriftzeichen auf Yuan-zeitlichen Gemälden zu lesen, mit denen er im NPM zu tun hatte, schrieb er jeden Tag mehrere Zeichen und prägte sie sich ein.
1981 brachte Chang ein Buch mit dem Titel Eine Geschichte der chinesischen Kalligrafie (中華書法史) heraus, das über 2000 Jahre Schreibkunst abdeckt. Nach seiner Pensionierung im NPM 1987 begann er, das Malen kursiver Schriftzeichen im Rahmen seines normalen Tagesablaufes zu üben und orientierte seine Bemühungen nach Meisterwerken wie Selbstausdruck von Huai Su (懷素, 725-785). Huai war ein Mönch während der Tang-Dynastie (618-907) und einer der einflussreichsten Grasschrift-Kalligrafen aller Zeiten. Chao von der TNUA vergleicht Changs Neu-Interpretierung von Klassikern wie Selbstausdruck mit der Art und Weise, wie ein brillanter Musiker Variationen eines bekannten Stückes vorträgt. Im Jahre 2008 publizierte Chang außerdem eine kursivschriftliche Version des klassischen chinesischen Literaturwerks 300 Gedichte aus der Tang-Dynastie (草書唐詩三百首).
Ausschnitte aus Trockene Tusche-Landschaft auf 12 Rollen (2008). Jede Rolle hat eine Höhe von 3,6 Metern, und es war für den damals schon über 90 Jahre alten Chang eine Strapaze, sie zu malen. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Chang Kuang-bin)
Hinsichtlich seiner Liebe zur Kursivschrift und zu anderen altertümlichen chinesischen Schriftarten ist es verständlich, dass Chang sich über die moderne Entwicklung vereinfachter chinesischer Schriftzeichen reserviert äußert. Vereinfachte Schriftzeichen sind auf dem chinesischen Festland gebräuchlich, vorgeblich um das Lesen und Schreiben zu erleichtern, während in Taiwan nach wie vor die komplizierteren traditionellen chinesischen Schriftzeichen benutzt werden. Zwar basieren manche der vereinfachten Schriftzeichen in Wirklichkeit auf ihrer kursiven Schreibweise, doch Chang urteilt: „Als sie beschlossen, die Kursivschrift weiter zu vereinfachen, machten sie es oft falsch.“
Der Kalligraf ist überzeugt, dass viele vereinfachte Schriftzeichen irgendwie willkürlich gestaltet wurden und so die semantische Verbindung mit ihrer Originalform verloren ging. Er glaubt zum Beispiel, dass das traditionelle Schriftzeichen für „Staub“ (塵), in dem die Elemente der Schriftzeichen für „Hirsch“ (鹿) und „Erde“ (土) verbunden sind, eine angemessene Verbindung zum altertümlichen Schriftzeichen für Staub enthält. Jenes Schriftzeichen bestand aus drei Hirschen, womit gesagt werden sollte, dass mehrere laufende Paarhufer eine Staubwolke in der Luft aufwirbeln können. Die vereinfachte Form von „Staub“ (尘) ersetzt jedoch den ursprünglichen Hirsch-Teil durch das Schriftzeichen für „klein“ (小), was leichter zu schreiben ist. Chang wiederum findet das daraus entstandene Schriftzeichen ein wenig unsinnig. „Manche Leute sagen, das wäre eine vernünftige und recht kreative Vereinfachung“, murrt er. „Doch wie kann ,kleine Erde‘ in der Luft schweben?“
Chang merkt an, es gebe praktische Regeln für die Umformung traditioneller Schriftzeichen in kursive Zeichen. So ist beispielsweise vorgeschrieben, dass bestimmte Teile eines traditionellen Schriftzeichens in ein oder zwei Punkte verwandelt werden, oder dass nur ein bestimmter Teil des Originalzeichens erhalten bleibt. Wegen dieser Umwandlungen sind manche kursiven Schriftzeichen mitunter schwer zu lesen, doch Chang verweist darauf, dass „der Zusammenhang eines Abschnitts dabei helfen kann, die kursiven Zeichen zu erkennen“.
Um die Fähigkeit, kursive Schriftzeichen lesen und schreiben zu können, zu bewahren und zu fördern, rät Chang dazu, junge Schüler darin zu unterweisen. Das betrachtet er als Ausgleich gegenüber dem Vorschlag, der sich in jüngster Zeit in Taiwan vernehmen ließ, laut dem man den Kindern beibringen sollte, die traditionellen Schriftzeichen zu lesen, ihnen aber zu erlauben, vereinfachte Schriftzeichen zu schreiben. Mit der Sichtweise des Kalligrafiemeisters regt Chang an, die Kinder sollten stattdessen lernen, die Kursivformen zu schreiben, da sie nicht nur für einfacheres Schreiben modifiziert sind, sondern auch bedeutungsvollere Verbindungen mit den Ursprüngen traditioneller Schriftzeichen beibehalten. Der Streit darüber, wie man chinesische Schrift leichter zu lesen und schreiben machen soll, ist weiterhin im Gange, aber die Stimme der Persönlichkeit, die in der Kunstform zwei Preise für ihr Lebenswerk erhielt, verdient in dem Dialog sicherlich einen herausragenden Platz.
(Deutsch von Tilman Aretz)