Der Movimentos-Titel ist nur einer von vielen nennenswerten Preisen, die Lin und seinen Werken in der internationalen Tanzgemeinschaft zuerkannt wurden, nachdem er 1972 einen Magister im Fach Kunst an der University of Iowa in den USA erworben hatte. Im Jahr darauf gründete Lin das Tanztheater Cloud Gate, das erste professionelle Ensemble für modernen Tanz in Taiwan oder jeder anderen chinesischsprachigen Gesellschaft. Wie verlautet, war die Movimentos-Jury tief bewegt von Lins Trilogie Cursive (行草, 2001), /I>Cursive II (行草二, 2003) und Wild Cursive (狂草, 2005) — die Titel verweisen auf einen fließenden, „kursiven“ Schreibstil in der traditionellen chinesischen Kalligrafie. In einer Kritik aus dem Jahr 2006 über die Berlin-Tournee der drei Werke schrieb der bekannte deutsche Tanzkritiker Jochen Schmidt, es gebe derzeit in der internationalen Tanzszene nichts, das es an künstlerischer Bedeutung mit Lins Trilogie aufnehmen könne.
Cloud Gate entwickelte sich in den frühen siebziger Jahren entgegen dem damals von der Regierung geförderten Paradigma chinesischer Volkstänze und rief irgendwie auch die Einführung von Ballett und modernem Tanz in Taiwan in den dreißiger Jahren während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) ins Gedächtnis zurück. Anstatt den Stilen chinesischer „volkstümlicher“ Tänze nachzustreben, die oft mehr erfunden als traditionell waren, machten Lin und seine Tänzer sich daran, in Werken wie Legacy (薪傳, 1978), My Nostalgia, My Songs (我的鄉愁,我的歌, 1986) und Portrait of the Families (家族合唱, 1997) Taiwans soziale, historische und politische Angelegenheiten zu erkunden.
Kulturelle Identität
Der deutsche Kritiker Schmidt schrieb, dass Lin, dem es schon früh am Herzen gelegen habe, für eine taiwanische Tanzkunst die eigenen Wurzeln fruchtbar zu machen, durch sein ganz neues, eigenes Vokabular dazu beigetragen habe, seinen taiwanischen Landsleuten ein Gefühl der kulturellen Identität zu vermitteln, und die Cursive-Trilogie könne als eine perfekte Verschmelzung von westlichem modernen Tanz mit asiatischen Stilen und Themen betrachtet werden. Im Grunde genommen repräsentiert die Trilogie die jüngsten Anstrengungen ihres Choreografen, vor allem und besonders die Sehnsucht der Tänzer nach Bewegung zu erfüllen. „Meine Mission ist, meinen Tänzern zu dienen“, verkündet Lin. „Ihre Bewegungen sind die einzige Wahrheit des Tanzes.“
In einer Szene von Cursive werden mit Projektionen Schriftzeichen auf die Tänzer „tätowiert“. (Foto: Central News Agency)
Im September vergangenen Jahres wurden die drei Episoden der Cursive-Trilogie erstmals nacheinander in der taiwanischen Heimat aufgeführt. Die Einhaltung des Zeitplans war körperlich und geistig eine sehr anspruchsvolle Aufgabe für die gut zwei Dutzend Tänzer des Ensembles. In drei aufeinanderfolgenden Wochen fanden von jeder der drei Episoden fünf Aufführungen plus Proben am Nationaltheater in Taipeh statt. „Bei jedem der einzelnen Stücke werden unterschiedliche Muskeln und Geisteshaltungen beansprucht“, erläuterte Lin nach einer der Abendvorstellungen in einem Gespräch mit dem Publikum. „Dies war das erste Mal, dass wir hinter der Bühne Masseure in Bereitschaft hielten.“
Sung Chao-chiun, Tänzer bei Cloud Gate, deutet einige dieser Anforderungen an, indem er die Arbeiten als „eine Jagd durch unendlichen Raum und Zeit, um eine entfernte, geheimnisvolle Kultur zu enthüllen“ beschreibt. Das Geheimnisvolle beruht im Schreiben der Han-chinesischen Schriftzeichen, die häufig als eine der höchsten Kunstformen in der chinesischen Zivilisation angesehen werden. Die Cursive-Stücke erwecken die Tausenden von Jahren kalligrafischer Tradition zum Leben, indem der Körper eines Tänzers auf der Bühne zu einem riesigen Schreibpinsel umgewandelt wird — so vergleicht es Cloud Gate-Tänzerin Liu Hui-ling, die im Rahmen der Vorbereitungen auf die Vorstellungen gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Ensemble Kalligrafiestunden nehmen musste.
Eine solche metaphorische Verbindung zu Kalligrafie und nicht so sehr der künstlerische Wert des Schreibens selbst macht einen großen Teil jedes Cursive-Tanzes aus. „Die Cursive-Trilogie hatte nie die Absicht, eine Repräsentation von Kalligrafie zu sein, sondern vielmehr ein Motiv, eine Richtung oder ein Vorwand für Tanz“, sagt Lin. Für den Choreografen ist Kalligrafie ein unendlicher Quell der Inspiration, der ihn zu der Frage brachte, wie ein Körper sich im Verhältnis dazu bewegen könne, wie ein chinesisches Schriftzeichen auf einem Bogen Reispapier geschrieben wird. Dies trug dazu bei, einen einzigartigen Stil zu gestalten, der sich von westlichen Tanz-Paradigmen unterscheidet, und er half nach Lins Worten auch dabei, in Taiwans Gesellschaft eine „kollektive unbewusste Ästhetik“ hervorzurufen.
Lin erinnert sich, dass er während seiner Studienzeit unmittelbar nach einer Aufführung von Swan Lake mit einem internationalen Ensemble in Taipeh den lauten Kommentar einer Zuschauerin hörte, das Genre sei für die einheimischen Tänzer „wegen ihrer kurzen Beine“ unmöglich. Damals war Lin mit ihrer Meinung nicht einverstanden, doch fand er später heraus, dass das nur zu sehr stimmte. Lin erklärt, dass bei Ballett, einer von Linienführung bestimmten Kunst, die Tänzer lange Arme und Beine brauchen, damit sie anmutig auf den Zehenspitzen dastehen und in perfekten Bögen durch die Luft springen können. „Es gibt aber auch Tänze für kurze Beine“, verrät Lin.
Bevor er sich dem modernen Tanz zuwandte, war Lin ein erfolgreicher Schriftsteller, und deswegen kann er die theoretischen Aspekte seiner Arbeit meisterhaft darlegen. So bemerkt er beispielsweise, dass die westlichen Kulturtraditionen wie etwa gotische Baukunst aufwärts streben und nach dem Himmel greifen, wohingegen asiatische Traditionen wie die Architektur in der Verbotenen Stadt (紫禁城) in Beijing sich horizontal auf verschiedenen Ebenen ausstrecken. Die westliche Tradition entwickelt gerade Linien, die hoch hinaufsteigen, die östliche Tradition bevorzugt Linien, die sich waagerecht ausbreiten. Im Hinblick auf Aufführungsstile sind viele der Bewegungen in Choreografien von Lin abwärts gerichtet und im Boden verwurzelt.
In Cursive dienen kalligrafische Meisterwerke als Kulisse. (Foto: Liu Chen-hsiang, mit freundlicher Genehmigung von Cloud Gate Dance Theatre)
Seit Anfang der neunziger Jahre benutzt Lin beim Trainingsprogramm der Cloud Gate-Tänzer traditionell chinesische oder asiatische physische Disziplinen, darunter Meditation, Kampfkunst und Schattenboxen (Taijiquan 太極拳, auch unter den Bezeichnungen „Tai Chi Chuan“ oder „Taichi“ bekannt). „Nach anfänglicher Ablehnung, die schon an eine regelrechte Revolte grenzte, sind unsere Tänzer heute mit den überwiegend abwärts gerichteten Bewegungen recht zufrieden und glücklich“, behauptet Lin. Nach den Worten des Choreografen beginnen solche Bewegungsübungen häufig an einem inneren Teil des Körpers und konzentrieren sich auf Bewegungen nach außen, etwa vom Bauch ausgehend in einem fortlaufenden Energiefluss hin zu den Gliedmaßen. Nennenswerte Ergebnisse dieser Methode umfassen Songs of the Wanderers (流浪者之歌, 1994) und Moon Water (水月, 1998), das letztere Stück wurde von der New York Times im Jahr 2003 zum Tanz des Jahres gekürt.
Gerade Moon Water kann als künstlerischer Ausdruck von Taiji Daoyin (太極導引) betrachtet werden, ein Stil von Taijiquan, den die Cloud Gate-Tänzer praktizieren und der in den siebziger Jahren von Hsiung Wei (熊衛) entwickelt worden war. Für Lin und eine Reihe von anderen prominenten darstellenden Künstlern gilt Hsiung mit seinen kreativen, revolutionären Ansichten über die Bewegungen des menschlichen Körpers — die eine Menge mit der Cursive-Trilogie gemeinsam haben — selbst außerordentlich als Künstler. Taijiquan, im 15. Jahrhundert in China entstanden und mit Taoismus im Zusammenhang stehend, ist eine nach innen schauende Form der Kampfkunst, die sich mehr auf Entspannung, Wahrnehmung und Körperausrichtung konzentriert als auf Zurschaustellung von Muskeln oder andere äußerliche Entwicklungen. Hsiungs Variationen beschränken die Übungen auf die seiner Ansicht nach 12 wesentlichen Taiji-Bewegungen auf Grundlage der allgemeinen Disziplinen des dao (導), um die Atmung zu leiten, und des yin (引), um den Körper zu führen.
Den Regeln trotzen
Anders als bei den traditionellen Formen von Taijiquan, welche präzise Bewegungen in einer festgelegten Reihenfolge betonen, erlaubt Taiji Daoyin die freie Gestaltung von Variationen je nach dem Grad der individuellen körperlichen Fitness und Stärke. Entsprechend gestattet es die Cursive-Trilogie den Tänzern, die altehrwürdige Schreibkunst mit ihrer eigenen Phantasie zu interpretieren, besonders in Wild Cursive, vom deutschen Kritiker Schmidt beschrieben als „von jeglicher Tradition befreit... in einem von jeglicher Vorschrift befreiten Ausdruck“.
Wild Cursive wurde als Eröffnungsvorstellung des 2007 Next Wave Festival präsentiert, welches die Brooklyn Academy of Music in New York organisierte. In einer Kritik der Aufführung lobte die namhafte Tanzkritikerin Deborah Jowitt das Werk als „eine Mischung von Disziplin und Freiheit, von meditativer Geduld und plötzlich entfesselter Kraft“, welche „altertümliche Praxis auf beispielhafte Weise mit moderner Innovation verbindet und sich dabei der ausdrücklichen Gewalt enthält, die wir heutzutage so oft auf der Bühne sehen“. Alles in allem sei die Trilogie poetisch oder „friedvoll“, wie Jowitt Wild Cursive kommentierte, „wie kraftvoll die Trittbewegungen und implizit feindselig die Posituren auch sein mögen“. Die Tanzkritikerin bemerkte, dass in allen drei Episoden der Serie „die Tänzer die Umrisse der Symbole nicht nachahmen, sondern die Qualität des Flusses verkörpern, mit dem Schrift auf Papier erscheint“.
In Cursive werden klassische Kalligrafiewerke auf eine Kulisse projiziert. In einer eindrucksvollen Szene bewegt sich eine Tänzerin, während hinter ihr nach und nach ein Bild des Schriftzeichens für „Ewigkeit“ (yong 永) — das normalerweise dazu benutzt wird, Anfängern der chinesischen Kalligrafiekunst die acht grundlegenden Pinselstriche vorzuführen — erscheint. In einer anderen Szene wird ein durchsichtiger Schirm an der Vorderseite der Bühne mit Projektionen kursiver Schriftzeichen bedeckt, während die Tänzer sich mit den Wörtern bewegen, die sich auch über ihre Körper bewegen. „Das erinnert an die einflussreiche volkstümliche Praxis des Tätowierens“, schrieb Chiang Hsun, ein Maler, Schriftsteller und Förderer von Alltagsästhetik, in seinem jüngsten Buch Die Schönheit der Han-Kalligrafie: Kursiv Tanzen, das voriges Jahr erschien. „Wörter oder Symbole auf den Körper zu tätowieren [indem man Bilder von Schrift auf die Tänzer projiziert] ruft ein ganz anderes Gefühl hervor und ist sogar noch bedeutungsvoller als das Gravieren von Wörtern auf Metall oder Stein.“
Eine Szene aus der entspannteren Episode Cursive II. (Foto: Central News Agency)
In einer weiteren erinnerungswürdigen Szene von Cursive tanzt eine schwarz gekleidete Tänzerin vor einem riesigen Schriftzeichen, geschrieben von der bekannten Kalligrafin Tong Yang-tze (董陽孜), als ob sie mit den langen, fließenden Ärmeln ihres Kostüms, die man im traditionellen chinesischen Tanz „Wasser-Ärmel“ (水袖) nennt, schreiben würde. Tong schuf auch die vier chinesischen Schriftzeichen des chinesischen Namens von Cloud Gate, yun men wu ji (雲門舞集), der auf eine heute verlorene Form altertümlichen chinesischen Tanzes verweist. Lin macht darauf aufmerksam, dass seine Tänzerinnen mit den Wasser-Ärmeln nicht schnuckelig oder verführerisch sind wie einst die Frauen am chinesischen Kaiserhof, wo die Form der Kleidung herstammt, sondern eher ernst und ohne Lächeln. Lin meint, in der ersten Episode der Trilogie sind die Tänzer in einem derart dichten „kalligrafischen Rahmen“, in den so viele Dinge hineingepackt wurden, dass sie wohl eher die Standardschrift „schreiben“ werden als den freieren Kursivstil.
In der leichteren, entspannteren Folge Cursive II bewegen sich die Tänzer nicht mehr wie fleißige Kalligrafieschüler. Anstelle von kalligrafischen Meisterwerken erscheinen nun Projektionen von antikem weißen Eierschalenporzellan mit Glasur im Stil „gebrochenes Eismuster“ (冰裂紋). Der Einsatz unmelodiöser, elliptischer Musik von John Cage (1912-1992), einem der einflussreichsten Komponisten und Musiktheoretiker des 20. Jahrhunderts, steigert noch die schwer fassbare Atmosphäre des Werks.
Blätter im Wind
In Wild Cursive bewegen die Tänzer sich zwischen mehreren langen weißen Schriftrollen, die von Zeit zu Zeit während der Vorstellung abgesenkt oder hochgezogen werden. Gelegentlich rinnt Tusche die Rollen hinab, bildet aber keine erkennbaren Schriftzeichen. Chiang Hsun sagt, beim Schreiben von Han-chinesischen Schriftzeichen sei das geheimnisvollste Element die Tusche, die er mit Rauch, Licht oder Erinnerungen vergleicht. Der Schriftsteller schildert die Tänzer in Wild Cursive, die ihre Körper extrem einsetzen, als „unordentliche Blätter in einem wilden Wind“, „eine fallende Blüte, die sich vom Stängel zu befreien strebt“ oder „die einsamste Kampfkunst, in der man niemand als sich selbst bezwingen kann“.
Lin Hwai-min glaubt, dass kulturelle Traditionen wie ein zweischneidiges Schwert sind, das sowohl ein unerschöpflicher Brunnen der Inspiration als auch eine Quelle großer Hemmnis sein kann. „Jede Generation muss aber Versuche unternehmen, etwas zu schaffen, das man aus diesen Traditionen sein Eigen nennen kann“, sinniert er. Oft ist die größte Hürde, die der Choreograf und sein Ensemble nehmen müssen, ihr eigenes rastloses Verlangen, eine Lösung für manches Rätsel in der Kunst oder im Leben zu finden, „als ob man sich in einem Wald verlaufen hat und dabei doch angeregt ist durch die Notwendigkeit, einen Weg hinaus zu finden“, wie Lin ergänzt. Diese Erregung wird weiterhin eine der kreativsten und intelligentesten kulturellen Kräfte in Taiwan antreiben. Auch wenn es vielleicht kein Cursive IV geben wird, so werden die Tänzer von Cloud Gate doch weiter mit ihren Körpern auf der Bühne schreiben.
(Deutsch von Tilman Aretz)