29.04.2025

Taiwan Today

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Bevölkerungswandel im Griff?

01.11.1989

Zu viele Menschen auf zu kleinem Raum? Die Antwort wird durch Probleme wie Bevölkerungsstruktur und -verteilung noch kompliziert.

"Die Menschen sollten vom Nahen einer Alten-Ära Kenntnis nehmen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bevölkerungspolitik muß wesentlich mehr in Betracht ziehen als lediglich den einfachen quantitativen Zuwachs. Die Regierungsplaner haben sich über Veränderungen in der Altersverteilung der Bevölkerung Gedanken zu machen, müssen gleichermaßen aber auch die Größe des Arbeitskräfteangebotes, die Nachfrage nach Bildungseinrichtungen und einen Haufen anderer sozialer wie wirtschaftlicher Themen bedenken.

Das Erreichen einer Rekordmarke in der Einwohnerzahl kann allerdings eine allgemeinere Neubewertung der Bevölkerungspolitik nach sich ziehen. Und genau dies geschah im Juli, als Taiwans Bevölkerung die 20 Millionen-Grenze erreichte (siehe Kasten). Das Ereignis veranlaßte Demographen, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler dazu, die Medien mit Analysen zum Bevölkerungswandel auf der Insel zu überfluten. Ihr Ziel war es, die Politiker zu ermuntern, den Einflüssen, die eine wachsende Bevölkerung auf die langfristige Gesundheit der Insel haben kann, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Einer dieser Gelehrten, Dr. Chen Kuan-cheng, ein Demograph und Forscher an der Academia Sinica, sorgt sich besonders über Taiwans Bevölkerungszuwachs im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Ihm zufolge hat "die absolute Zahl 20 Millionen [...] keine demographische Bedeutung, wenn sie nicht zu solchen Charakteristika wie der Struktur und Verteilung der Bevölkerung oder der natürlichen Ressourcen auf Taiwan in Beziehung gesetzt wird."

Chen drängt darauf, den Bevölkerungsstatistiken mehr Beachtung zu schenken. Obwohl die Familienplanungspolitik der Regierung während der letzten zwei Dekaden recht erfolgreich dabei war, das allgemeine Bevölkerungswachstum auf der Insel zu verlangsamen, bemerkt Chen, daß Taiwans Bevölkerungszunahme bei der gegenwärtigen jährlichen Wachstumsrate von 11 pro 1 000 Personen "in den kommenden 30 bis 40 Jahren nicht aufhören wird". Was, wenn es stimmt, bedeutet, daß die Inselbevölkerung dann 25 Millionen erreichen wird.

Aber ist diese Zahl mit Überbevölkerung gleichzusetzen? Die Antwort erfährt man bei einem Blick auf die Statistiken wie jenen zu Geburts- und Sterberaten, zur Lebenserwartung, zur Verteilung der Geschlechter und den Austauschraten. Vor allem letztere ist von größter Wichtigkeit bei der Beurteilung der Bevölkerungsstruktur. Austauschraten setzen sich aus der "Netto-Reproduktionsrate" sowie der "Brutto-Reproduktionsrate" zusammen. Erstere wird von den Demographen als durchschnittliche Anzahl der von einer Frau während ihrer fruchtbaren Jahre (im allgemeinen wird der Altersabschnitt von 15 bis 49 angenommen) geborenen Töchter definiert. Letztere hingegen bezeichnet die Zahl der lebenden Söhne und Töchter pro Mann bzw. Frau (im reproduktionsfähigen Alter) in der Gesamtbevölkerung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Diese Begriffe verhelfen zu einem Verständnis der größten Herausforderung, der Taiwans soziales und wirtschaftliches Wohlergehen ausgesetzt ist: dem, was Experten als "alternde Gesellschaft" bezeichnen. Dies ist einer der weniger offensichtlichen Effekte des Bevölkerungswandels, und bis vor kurzem wußten die meisten der heimischen Bürger nichts von diesem Konzept. Chen erklärt den gegenwärtigen demographischen Trend wie folgt: "Die jetzt arbeitende Bevölkerung wird sich in 30 bis 40 Jahren zur Ruhe setzen, so daß der geschätzte Anteil der Pensionsempfänger im Jahr 2024 etwa 25 Prozent der Bevölkerung betragen wird. 1984 lag der Anteil bei nur 8,73 Prozent. Hinzu kommt, daß die gegenwärtige Reproduktionsrate niedriger ist als die Austauschrate."

Dies bedeutet, daß im Jahr 2024 jeweils vier arbeitende Mitglieder der Bevölkerung eine pensionierte Person zu unterstützen haben. Zusätzlich zu dieser Bürde gibt es den Anteil der die Schule oder die Universität besuchenden jungen Leute (die zur Zeit den Hauptanteil der abhängigen Bevölkerung ausmachen) , wodurch sich die sozialen und wirtschaftlichen Probleme noch verstärken. Allgemein gesagt: Taiwan entwickelt sich zu dem, was Bevölkerungsexperten eine "typische überalterte Gesellschaft" nennen. Eine solche Bevölkerungsstruktur belastet die arbeitende Bevölkerung mit einer schweren sozialen Bürde und wird mit großer Wahrscheinlichkeit dafür sorgen, daß sich die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamt.

"Die gegenwärtige Netto-Reproduktionsrate liegt bei knapp 0,7841, und die Brutto-Reproduktionsrate bei ungefähr 1,70", erläutert Chen. "Wenn diese Raten unverändert bleiben, wird erstere sich nach zwei Generationen auf 0,6148 verringern, und ab dem Punkt wird die verminderte Anzahl junger Menschen die Versorgung mit Arbeitskräften beeinflussen und das zukünftige Wirtschaftswachstum gefährden."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die gegenwärtige Netto-Reproduktionsrate indiziert, daß jeweils zwei Töchter von drei Frauen geboren werden. Ändert sich dieses Verhältnis nicht, wird die Anzahl der von den Töchtern der jetzt reproduktiven Generation geborenen Töchter noch weiter sinken - bis nur noch ungefähr eine Tochter je zwei Frauen geboren werden wird. So wird es mit jeder weiteren Generation weniger potentielle Mütter geben.

Zusammengefaßt zeigt eine Bevölkerung ein von den Demographen so genanntes "rückläufiges Reproduktionsverhalten", das zum Altern einer Bevölkerung führt, wenn die Netto-Reproduktionsrate niedriger als 1 und die Brutto-Reproduktionsrate niedriger als 2 ist. Dies ist in Taiwan der Fall.

Während einige Beobachter die Meinung vertreten, daß das eine unvermeidbare Auswirkung einer effektiven Familienplanungspolitik - und ein möglicherweise zu zukünftigem Arbeitskräftemangel führender Trend - sei, ist Familienplanung tatsächlich aber nur zum Teil Schuld an den sinkenden Geburtenraten in Taiwan. Chen verweist darauf, daß der wirkliche Grund für den Bevölkerungsschwund woanders liegen könnte. So wurde z.B. während der ersten zehn Jahre dieses Jahrhunderts die stabil bleibende Sterberate von ca. 45 pro 1 000 durch die Geburtenrate ausgeglichen. Doch obwohl die Sterberate in den 20er Jahren aufgrund verbesserter medizinischer Versorgung und besserer sanitärer Bedingungen zurückging, sank die Geburtenrate erst 1951. Die Sterberate sank während der 20er Jahre auf 5 pro 1 000, und darüber hinaus verminderte sich ab der 20er Jahre bis in die 50er Jahre hinein auch die Säuglingssterblichkeit, wodurch es bereits eine ganze Weile vor 1951 zum "Babyboom" kam.

In Taiwan gab es - und das ist eine oft übersehene Tatsache - bis 1981 keine formale Politik zur Familienplanung. Daraus läßt sich schließen, daß der Rückgang der Geburtenrate eher eine natürliche Entwicklung denn ein von der Regierung künstlich verursachter Trend war. Die Menschen brauchten nicht länger "Extra"-Babys zur Vorsorge gegen das Sterben eines oder mehrerer ihrer Kinder zu zeugen, und der Rückgang des landwirtschaftlichen Sektors auf der Insel hat es für die Familien überflüssig gemacht, eine große Zahl Kinder in die Welt zu setzen, nur um zusätzliche Hilfskräfte zu Hause und auf den Feldern zu haben. Die Entwicklung einer städtischen Lebensweise und wachsender Ausbildungsmöglichkeiten wirkten ebenfalls in Richtung einer Begrenzung der Familiengröße.

Das Jugendliche Gesicht der Insel könnte sich in den kommenden 40 Jahren schon wieder ändern - dann haben jeweils vier arbeitende Mitglieder einen Pensionsemfänger zu unterstützen.

Die sozialen Meinungen haben sich deshalb über die letzten drei Jahrzehnte umgekehrt: von einer "Je mehr Kinder, desto besser"-Ideologie hin zu einer, der zufolge viele Kinder zu haben als Bürde empfunden wird. Und dies zeigt, daß die Dynamik in der Bevölkerungsstruktur mehr umfaßt als einfach nur Wachstumszahlen. "Die Öffentlichkeit muß sich der Situation stärker bewußt werden, wenn sie zur Planung der Zukunft mit der Regierung zusammenarbeiten soll", betont Chen. "Auch wenn die Regierung keinerlei Intentionen hat, die Richtung ihrer Familienplanungspolitik drastisch zu ändern, sollten die Leute das Nahen einer Alten-Ära zur Kenntnis nehmen. Vierzig Jahre sind in der langen Geschichte der Menschheit eine vergleichsweise kurze Zeitspanne, aber in den kommenden drei, vier Jahrzehnten werden wir uns allen möglichen Problemen gegenübersehen und schnelle Lösungen gibt es nicht."

Chang Pei-chi (張丕繼), Direktor der Abteilung für Arbeitsmarktplanung des Rates für Wirtschaftsplanung und -entwicklung der Republik China, ist, was Taiwans demographische Zukunft angeht, optimistischer, selbst wenn die Veränderungen eine Verkleinerung des Arbeitskräfteangebotes mit sich bringen sollten.

"Ich bin optimistisch, was unsere alternde Bevölkerung betrifft, und ich bin der Ansicht, daß ein weiteres Ansteigen der Bevölkerungsdichte nur die Lebensqualität mindern würde", sagt er. "Mit einem ganz kleinen Arbeitskräftemangel ist dies die goldene Gelegenheit, Taiwans Industrie auf Vordermann zu bringen. Da diese den Angebots- und Nachfragemechanismen des Marktes ausgesetzt ist, könnten die Probleme eines Arbeitskräftemangels und die Notwendigkeit industrieller Verbesserungen Hand in Hand gehen und eine stärkere Wirtschaft schaffen."

Ein kleineres Arbeitskräfteangebot könnte für die Unternehmer tatsächlich den Anstoß bringen, ihre Betriebe zu modernisieren. Solche Modernisierungen der industriellen Struktur sind niemals einfach zu bewerkstelligen, ganz egal, wie einleuchtend sie theoretisch sein mögen, und ein Mangel an Arbeitskräften könnte diese Umwandlungen forcieren. Bislang waren Taiwans Unternehmer im allgemeinen eher unwillig, erneuernde Umstrukturierungen von Management und Technologie vorzunehmen, zumal solche Versuche teuer und risikoreich sind. Aber falls Verfügbarkeit und Kosten der Arbeitskräfte noch problematischer werden sollten, dürfte den heimischen Geschäftsleuten wenig anderes übrigbleiben, als ihre Betriebe zu modernisieren.

"Taiwan stand in dem Ruf, über ein unbegrenztes Arbeitskräftepotential zu verfügen, aber das war", so Chang, "nicht unbedingt positiv. Es impliziert verarmte wirtschaftliche Verhältnisse und eine Gesellschaft mit wenig Kapital, einem unterentwickelten industriellen Sektor, niedrigem Bruttosozialprodukt, niedrigem Pro-Kopf-Einkommen, einem niedrigen Lebensstandard und einem unzureichenden Wohlfahrtssystem." Chang fügt hinzu, daß im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders auf Taiwan die meisten dieser Bedingungen überwunden würden, ganz besonders, da zu erwarten sei, daß das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen bis zum Jahr 2000 bei 18 000 bis 20 000 US-Dollar liegen werde, wenn man von den jetzigen Steigerungsraten ausgehe.

Gegenwärtige Veränderungen beim Arbeitskräftebedarf verweisen bereits darauf, daß sich Taiwan rapide in Richtung einer postindustriellen Gesellschaft entwickelt, in der arbeitsintensive Billig-Industrien Platz machen für High-tech- und Dienstleistungsbetriebe. In den vergangenen dreißig Jahren unterstützte die Regierung das industrielle Wachstum mittels Primärproduktion, Landreform (durch das "Land dem Bebauer"-Programm), Protektion der Bauern vor ausländischer Konkurrenz sowie durch eine schrittweise Mechanisierung der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Vergrößerung des industriellen Sektors. Das Ergebnis war ein beständiges Abwandern der Bevölkerung in die Städte, wo sich das Arbeitsangebot vergrößerte. Unterstützt wurde das industrielle Wachstum außerdem durch ein ausgedehntes Berufsbildungssystem, das den für die wirtschaftliche Entwicklung und größere Produktivität so wichtigen Bestand an Facharbeitern schuf.

Aber die Industrialisierung hat jetzt einen wesentlichen Wendepunkt erreicht. Arbeitskraft wird zu einer wertvolleren Ressource, und verbesserte technische Ausbildung und Automatisierung sind nötig, um den neuen Arbeitserfordernissen Folge leisten zu können. Während die Regierung zur Modernisierung der Industrie aufruft, bemüht sie sich, die Einstellung "importierter" ungelernter Arbeitskräfte zu verhindern, da die übermäßige Einstellung solcher Arbeiter die arbeitsintensiven Industrien dazu ermutigen würde, ihre Neustrukturierung aufzuschieben.

Da High-tech-Industrien weniger Energie verbrauchen, weniger Umweltverschmutzung verursachen und mehr hochwertige Güter produzieren, sieht Chang keinen Grund, den verschwindenden "Schwitzschuppen"-Industrien oder unlukrativen landwirtschaftlichen Betrieben hinterherzuweinen. "Der offensichtliche Trend geht heute überall auf der Welt in Richtung einer ungenauen Arbeitsteilung", sagt er. "Und Taiwan hat eine typische, vom Außenhandel abhängige Inselwirtschaft, so daß die Idee von wirtschaftlicher Subsistenz nicht als Entschuldigung benutzt werden sollte, um die Wirtschaft gegen ausländische Importe zu schützen."

Wegen Taiwans Abhängigkeit vom Handel können internationale Verhältnisse einen großen Einfluß auf nationale Angelegenheiten haben. Mit der Liberalisierung des heimischen Marktes und der Aufhebung weiterer Handelsbarrieren kam es zu einem gewaltigen Anstieg des hiesigen Konsums. Die Konsumsteigerung wiederum hat zu einer Expansion des Dienstleistungssektors geführt, und die höheren Gehälter für Angestellte von Dienstleistungsbetrieben haben die Ausweitung dieses Sektors in den letzten Jahren noch verstärkt. "In der Vergangenheit hatten die meisten größeren Firmen und Betriebe ihre eigene Werbe- und Frachtdienstabteilung", erläutert Chang. "Aber der Großteil dieser Firmen hat diese Abteilungen jetzt stillgelegt und vergibt die Arbeit an spezialisierte, effektivere Dienstleistungsbetriebe. Eine solche funktionale Differenzierung in Sekundär- und Dienstleistungssektoren war unvermeidbar."

Da die Dienstleistungsindustrie größere Fähigkeiten erfordert, gibt es bei dem jetzt existierenden Arbeitskräfteangebot Schwierigkeiten, den von den Arbeitgebern verlangten Ausbildungsgrad zu erfüllen. "Allerdings können weibliche Arbeitskräfte", sagt Chang, "den Druck auf den Arbeitsmarkt reduzieren helfen." Und weil die Ausbildungschancen für beide Geschlechter gleich seien, gründe sich die Arbeitsteilung heutzutage auf geistigen Fähigkeiten statt auf körperliche Kraft, so daß sich die Geschlechterrollen auf dem Arbeitsmarkt verwischt hätten. "Bereits jetzt sind Frauen", ergänzt er, "auf dem Arbeitsmarkt in einer besseren Position als noch vor kurzem."

Trotz dieser positiven Einschätzung ist Chang über Taiwans Konsumboom besorgt: "Der Dienstleistungssektor ist der am schnellsten wachsende Teil des Marktes. Da er konsumorientiert ist, sind seine Produktivität und seine Löhne noch immer relativ niedrig. Die Erfahrung zeigt, daß Länder mit einem prosperierenden Dienstleistungssektor normalerweise auch hohe Arbeitslosenraten haben. Da Taiwan sich von der Agrar- zur Industrieproduktion und schließlich auf den Dienstleistungssektor hin bewegt, wird der Strom seines Arbeitskräfteangebots natürlicherweise demselben Weg folgen."

Chang zeichnet ein mögliches Szenario für die Zukunft: "Was geschieht, wenn die Angestellten des tertiären Sektors während einer Wirtschaftskrise ihre Stellen verlieren? Es ist für die Arbeitskräfte nicht einfach, zum industriellen Sektor zurückzukehren, zumal die Arbeit jetzt stark technisiert ist und gut ausgebildete Arbeiter erfordert. Darüber hinaus können arbeitslose Arbeiter nicht einfach auf den landwirtschaftlichen Sektor verpflanzt werden, da sie in den Städten verwurzelt sind. Selbst wenn sie willens wären, auf dem Lande zu arbeiten, so gäbe es dort doch keinen Platz für sie. Und wenn dazu noch billige ausländische Arbeitskräfte ins Land geholt würden, würde das sowohl die Verbesserung der Industrie behindern als auch heimische Arbeitslosigkeit verstärken."

Da eine größere Bevölkerung noch mehr Druck auf den Arbeitsmarkt ausüben wird, befürwortet Chang eine Aufhebung der Familienplanungspolitik nicht. Eher hält er eine technologische und wirtschaftliche Umstrukturierung für angebracht. "Wir stecken in einem Dilemma", sagt er. "Ein schnelles Anwachsen der Bevölkerung resultiert in einer großen Bevölkerungsdichte. Aber wenn die Rate des Bevölkerungswachstums sinkt, altert die Gesellschaft. Wir können eine so widersprüchliche Situation nicht unter Kontrolle halten, wir müssen uns für das eine oder andere Übel entscheiden".

Jetzt ist "zwei" die "perfekte" Zahl.

Aufgrund der Besorgnis über Taiwans "alternde Bevölkerung" hat die Regierung gewählt. Der Familienplanungs-Slogan der früheren Regierung, "Ein Kind ist nicht zu wenig, zwei sind genau richtig", wurde jetzt geändert. Das Staatliche Gesundheitsamt hat angedeutet, "zwei" sei die "perfekte" Zahl.

Angesichts der weitverbreiteten Meinung, die Welt sei sowieso bereits überbevölkert, mag diese Entscheidung auf den ersten Blick unklug erscheinen. Die Revision der Planungspolitik ist jedoch auch eine Reaktion auf das rapide Niedrigerwerden der Fruchtbarkeitsrate auf der Insel und zielt darauf ab, ein ausreichendes kontrolliertes Bevölkerungswachstum zu stimulieren, um einige der von einer "alternden Bevölkerung" verursachten Probleme zu vermeiden. Während das komplexe Wachstum der Inselbevölkerung auch weiterhin viele soziale und wirtschaftliche Herausforderungen aufwerfen wird, spielt die Regierung letzten Endes nur eine kleine Rolle bei der eigentlichen Entscheidung: Es sind die Eltern selbst, die zu entscheiden haben, wieviele Kinder sie haben und unterstützen wollen.

(Deutsch von Arne Weidemann)


Willkommen auf der überfüllten Welt

Die Geburt von Shen Yen-chen (沈燕禎), einem siebendreiviertel Pfund schweren Mädchen, wurde von nahezu jeder Zeitung mit viel Getöse auf der Titelseite verkündet. Als Yen-chen am 12. Juli um 10.32 Uhr nachts ihren ersten Atemzug tat, erreichte Taiwans Bevölkerung die 20 Millionen-Marke. Die großen Schlagzeilen verschleierten allerdings nicht die von den Medien ebenfalls verbreiteten themenverwandten Analysen hiesiger Demographen und Wirtschaftswissenschaftler, die vor den profunderen Implikationen des glücklichen Ereignisses in der Shen-Familie warnten.

Dr. Chang Hou-sheng (詹火生), Professor der Abteilung für soziale Wohlfahrt an der National Taiwan University, bezeichnet die Freude der Öffentlichkeit über Yen-chens Geburt als von einem Hauch traditioneller Einstellungen getragen: "Die von der Regierung und der allgemeinen Öffentlichkeit veranstaltete Glückwunschzeremonie [..] ist vor allem die Manifestation eines rückständigen Wertesystems, das heute zu einem großen Teil noch immer unsere Einschätzungen regiert." Obwohl Chang mit den von den Medien verbreiteten warmen Glückwunschgefühlen übereinstimmt, betont er, daß die Menschen nicht gewisse mit Taiwans sich verändernder Bevölkerungsstruktur einhergehende soziale Probleme übersehen sollten.

Taiwans Größe beträgt lediglich 36 000 Quadratkilometer, hinzu kommt, daß beinahe zwei Drittel der Insel bergig und für Ackerbau oder dichte Besiedlung ungeeignet sind. Mit einer Gesamtbevölkerungsdichte von 556 Personen pro Quadratkilometer - in der westlichen Ebene allerdings sehr viel mehr - ist Taiwan das am zweitdichtesten besiedelte Gebiet der Welt. Die große Bevölkerungsdichte schafft ernsthafte Herausforderungen für die Entwicklung der Insel.

In der Vergangenheit, als Taiwan eine Agrarwirtschaft aufwies, waren große Familien ein Segen, da die primäre Produktionsweise viele Arbeitskräfte erforderte. Mehr helfende Hände auf den Höfen bedeuteten mehr Reichtum, so daß es wirtschaftlich gesehen günstig war, eine große Familie zu haben. Über Jahrtausende wurde China durch solch eine Wirtschaft gestützt, aber die modernen Produktionsweisen in Taiwan haben inzwischen die Regeln des Spieles verändert. Was jetzt zählt, ist eher die Qualität der Arbeitskräfte, nicht mehr so sehr ihre Anzahl.

Taiwan entwickelt sich rapide zu einer postindustriellen Gesellschaft. In vieler Hinsicht ist die Insel schon jetzt reich, bei einem ständig steigenden Pro-Kopf-Anteil am BSP und stattfindenden wirtschaftlichen Veränderungen. Aber der Reichtum könnte von einem unerwarteten Lager aus bedroht werden: dem der Senioren. Eine niedrigere Geburtenrate, verbunden mit längerer Lebensdauer, bedeutet, daß die Senioren im Jahr 2000 bereits 8,4 Prozent der Bevölkerung stellen werden. Diese abhängigen älteren Menschen werden nicht länger für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, und das für ihren Unterhalt ausgegebene Geld geht als Investitionskapital für die Entwicklung verloren. Während erwartet wird, daß das Pro-Kopf-Einkommen zur Jahrhundertwende bei 20 000 US-Dollar liegen wird, könnte dieses Ziel in immer weitere Ferne rücken, da die alternde Bevölkerung einen zunehmend größeren Anteil der Inselressourcen aufzubrauchen beginnt.

Chang hat jedoch Hoffnungen, daß Taiwans Ökonomie mit den von einer alternden Bevölkerung hervorgerufenen Problemen fertig werden wird, indem sie in größerem Maße gebildete Arbeitskräfte in die produktiven Sektoren aufnimmt. Er sagt, daß Frauen einen wesentlichen Teil dieser Arbeitskräfte ausmachen werden: "In Zukunft werden Geisteskraft und weibliche Arbeitskräfte eine Hauptrolle in der Entwicklung spielen. Bildung ist der Schlüsselfaktor, der Taiwan dabei helfen wird, die entwickelten westlichen Länder einzuholen, und durch formale Ausbildung ermöglichte hochqualifizierte Arbeit kann die Zeitspanne verkürzen, die nötig ist, um eine neue Klasse von Arbeitern zu schaffen."

Regierungsstatistiken erweisen, daß die Umschichtung auf dem Arbeitsmarkt bereits fortschreitet: 1988 waren 45,6 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter offiziell als Arbeitnehmer eingestuft, und dies ist, im Vergleich zu den meisten anderen sich entwickelnden Ländern, ein hoher Anteil. Und es wird erwartet, daß der prozentuale Anteil arbeitender Frauen an der Bevölkerung in naher Zukunft noch weiter ansteigen wird. Gleiche Ausbildungschancen für Frauen, politische Liberalisierung und ein vom Westen beeinflußter Lebensstil haben ein Mosaik zusammenwirkender sozialer Kräfte geschaffen, die die soziale Position der einheimischen Frauen verbessern helfen.

Bezüglich der Altenfürsorge in Taiwans "alternder Gesellschaft" besteht Chang darauf, daß die Versorgung der Senioren nicht allein der Regierung überlassen werden sollte. "Die Regierung kann auch kein Geld aus dem Sack zaubern; sie kann die Ressourcen nur sammeln und neu verteilen. Alle Wohlfahrts- und Sozialversicherungssysteme basieren auf dem Gesetz der großen Zahl - einem mathematischen Prinzip, das benutzt wird, um Mittel der besitzenden Mehrheit der nichtbesitzenden Minderheit zuzuweisen. Die Regierung fungiert dabei am besten als Regulator, nicht als der Hauptversorger."

Eine größere Bevölkerungsdichte verursacht aber auch Streß, der die zwischenmenschlichen Beziehungen belastet. So verweist Chang darauf, daß die Veränderungen der sozialen Werte potentiell explosiver seien als die wirtschaftlichen Herausforderungen. Ihm zufolge gibt es eine große Kluft zwischen Taiwans wirtschaftlicher und seiner sozialen Entwicklung: "Innerhalb der privaten vier Wände ist Taiwan eine entwickelte Nation, aber wenn man auf die Straße tritt, befindet man sich in einem unterentwickelten Land. Dies ist sowohl ein ethisches wie auch ein erzieherisches Problem."

Er fügt hinzu, daß es schmerzhaft sei, die Verkehrsstaus, die öffentliche Unhöflichkeit, Umweltverschmutzung und die allgemeine Verantwortungslosigkeit zu beobachten, ganz besonders, wenn man sie direkt vor der Haustür von mit elektronischem Haushaltszubehör ausgestatteten und auch mit Nahrungsmitteln überreichlich versorgten Wohnungen sähe. Seine Schlußfolgerung ist, daß einige der alten chinesischen Traditionen wie die Sorge für die Nachbarn und die Familie in Verbindung mit moderner westlicher Ethik helfen könnten, den von einer hohen Populationsdichte hervorgerufenen Streß zu vermindern.

Solche Probleme berühren Shen Yuan-cheng, den Vater des gefeierten Babys wahrscheinlich kaum. Er entstammt einer armen Bauernfamilie aus dem Süden Taiwans, aber heute leben drei Generationen und vier Familien des Shen-Clans zusammen in ihrem eigenen zweistöckigen Appartement, was nach Jahren des sich Durchbeißens eine wesentliche Steigerung des Familienglückes ausmacht. Obwohl die Shens für Tausende von Familien, die mithalfen, das Taiwanwunder zu schaffen, repräsentativ sind, arbeiteten sie doch in einer von der gegenwärtigen Gesellschaft sehr verschiedenen Umwelt. Wenn die kleine Yen-chen erwachsen wird, wird sie einer Menge neuer Probleme gegenüberstehen, die von dem durch ihre eigene Geburt so beredt betonten Anwachsen der Bevölkerung verursacht wurden.

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