26.04.2025

Taiwan Today

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Wider die Vorurteile oder Das Märchen von der Amerikanisierung

01.07.1989
Ein Essay

"Aber Taiwan ist doch völlig amerikanisiert!" Dieser in der Schweiz oft gehörte Standardsatz hat mich seit meiner vor über 18 Monaten erfolgten Abreise nach Taiwan mehr oder weniger konstant beschäftigt. Ist Taiwan wirklich "amerikanisiert"? Ich versuche, mir meine ersten fernöstlichen Eindrücke auf der Inselrepublik in Erinnerung zu rufen: 'Extrem hohe Luftfeuchtigkeit', 'subtropische Vegetation', 'seltsame Gerüche', 'Straßen - und Nachtmärkte', 'überall (mir größtenteils noch unverständliche) Schriftzeichen' sowie eines der Hauptmerkmale hiesigen Lebens: 'Menschen', 'Menschen' und noch einmal 'Menschen'.

Bis jetzt noch keine Spur von "Amerikanisierung"! In Absicht einer Begriffsklärung greife ich zum Fremdwörterbuch der DUDEN-Ausgabe. Dort heißt es unter "amerikanisieren": "Sitten und Gewohnheiten der USA bei jemandem oder in einem Land einführen; nach amerikanischem Vorbild gestalten". Mein Augenmerk richtet sich sofort auf "Sitten und Gewohnheiten der USA". In rascher Folge denke ich beim Wort "Amerika" an Phänomene wie 'Religiöser Fundamentalismus', 'Gewalt und Kriminalität', 'Fast Food', 'Micky Mouse', 'Hollywood', 'Mobilität', 'Zwei-Parteien-Demokratie' und 'Auto-Kult(ur)'. Diese Aufzählung spiegelt selbstverständlich nur meine ganz persönlichen Assoziationen zum Reizwort "American Way of Life" wieder und beinhaltet wohl ebensoviel stereotypes Denken wie der eingangs dieses Artikels zitierte Satz. Aber hatten meine vormaligen Gesprächspartner in der Schweiz damit tatsächlich diese oder ähnliche Phänomene sozio-kultureller Art gemeint? Keineswegs! Denn bohrte ich im Verlaufe solcher Diskussionen jeweils hartnäckig weiter ("Was genau verstehst Du unter 'amerikanisiert'?"), so fielen Worte wie: 'Autobahnen', 'Hochhäuser', 'Supermärkte', 'Textilindustrie' oder 'Fabriken'. Und natürlich findet man sämtliche dieser Dinge in Amerika überall vor. Nur, überlege ich jetzt, das alles gibt es bei uns doch auch, wäre demnach die Schweiz ebenfalls mit dem Adjektiv "amerikanisiert" zu charakterisieren? Kopfschüttelnd ziehe ich deshalb ein erstes Fazit: Die (rein oberflächlich betrachtet) anscheinend überzeugend wirkende Behauptung einer "Amerikanisierung Taiwans" führt uns bei näherem Hinsehen schnell in eine Sackgasse!

Rekapitulieren wir: Meine Gesprächspartner meinten mit ihrer Behauptung "Aber Taiwan ist doch völlig amerikanisiert!" - also nicht, daß die Republik China Sitten und Gebräuche der USA übernommen habe, sondern wollten damit vielmehr sagen: In Taiwan wimmle es doch nur so von Autobahnen, Hochhäusern, Supermärkten, Textilindustrien und Fabriken. Nimmt man diese Äußerungen näher unter die Lupe, dann läßt sich erahnen, was mit dem Terminus "Amerikanisierung" tatsächlich gemeint ist: Technische Errungenschaften (z.B. Hochhäuser) und bestimmte Produktionsweisen (z.B. Fabriken) der Neuzeit. Jener eingangs zitierte Standardsatz müßte demnach so lauten: "Aber Taiwan ist doch (bereits) völlig industrialisiert!"

Plötzlich erinnere ich mich auch wieder daran, in welchen Gesprächssituationen das Vorurteil von der "Amerikanisierung Taiwans" jeweils ausgesprochen worden war: In den meisten Fällen hatten die Diskussionspartner/innen beabsichtigt, eine Reise nach Festlandchina zu machen - und so auf meine Frage reagiert, weshalb sie nicht die Gelegenheit beim Schopfe packten, anschließend an ihre Tour im Reich der Mitte auch Taiwan einen Besuch abzustatten. Ihre Antworten könnte man auf einen Nenner gebracht folgendermaßen wiedergeben: "Wir wollen doch keine Autobahnen, Hochhäuser, Supermärkte, Textilindustrien oder Fabriken sehen, sondern die Große Mauer, den Himmelstempel und die Verbotene Stadt!" Ich ließ nicht locker: "Aber die Republik China hat ebenfalls einiges zu bieten: Das Nationale Palastmuseum in Taipei etwa oder das Welthandelszentrum; denn," so fügte ich hinzu, "die Modernisierung schließt doch das Eigenständige nicht völlig aus!" Aber meine Anstrengungen blieben vergebene Mühe, sie, die Reiselust verspürenden Schweizer/innen wollten partout das "richtige", das "wahre" China sehen. Was aber verstanden sie folglich unter dem Begriff "wahres China"? Nicht ein allfälliges neues oder modernes, sondern das fremde, mystische, geheimnisvolle, das alte China, dessen Zauber und Anziehungskraft - kurz, sie wollten das exotische China. Und jene Eingangsphrase muß demnach richtigerweise lauten: "Aber Taiwan ist doch viel zu wenig exotisch!"

Natürlich, die Exotik! Beim Nachdenken über diesen magisch eingefärbten Begriff wird mir vieles klar: Der Reiz des Fremden, bunte Gewänder, schillernde Vögel, Tempelglöckchen, tippelnde Chinesinnenfüße, Räucherstäbchen, wundersame Speisen; alle diese Chinoiserien zusätzlich um farbenfrohe Neujahrsdrucke aufgestockt und durch nebelumrankte Landschaftsmalereien verstärkt, da kann Fu Manchu nicht mehr weit entfernt sein, da wachsen schnell wieder Chinesenzöpfe, werden faule Eier und Schwalbennester verzehrt, und ... - doch halt, halt, waren das nicht verkrüppelte Füße, die da scheinbar so anmutig trippelten, und, ja wahrhaftig, wurden die Chinesen nicht von den Vertretern der letzten Kaiserdynastie erbarmungslos dazu verdonnert, jene legendären Zöpfe zu tragen? Überhaupt: Was war denn dieses geheimnisvolle, fremde, anscheinend "wahre" China tatsächlich? Auf welchen Fundamenten ruhte es, wie wurde es organisiert, welches waren seine Vertreter? Markierten nicht Kaisertum und Drachenthron die politische Struktur, repräsentierten nicht Lehenswesen und leibeigene Bauern die ökonomische Seite? Oder um es mit zwei deutlicheren Begriffen zu sagen: Feudalismus und Agrargesellschaft charakterisierten doch in Tat und Wahrheit jenes sog. "wahre" China! Wendet man nun diese Sehweise auf den bereits mehrmals abgeänderten Eingangssatz an, dann müßte dieser sinngemäß lauten: "Aber Taiwan ist doch gar kein feudalistischer Agrarstaat mehr!"

Deutlich höre ich da einen vielleicht nicht unberechtigten Einwand: "Da hast Du aber folgende Tatsache wohl absichtlich unterschlagen: Das Festland ist doch kommunistisch!" Will sagen, jenes Vorurteil von der "Amerikanisierung Taiwans" könne man auch dahingehend interpretieren, daß auf dem Festland ein kommunistisches System ausprobiert werde, und daß genau dies der Faktor sei, welcher die Touristen anziehe. Ein Vorwurf, der mir gleichzeitig einseitige Parteinahme zugunsten der kapitalistischen Wirtschaftsform unterschiebt; ein Vorwurf, den ich so nicht auf mir sitzen lassen will. Deshalb versuche ich, mich noch einmal möglichst genau an jene in der Schweiz vor zwei bis drei Jahren geführten Gespräche zurückzuerinnern. Interesse für den Kommunismus tauchte darin höchstens ganz am Rande auf. Die ernüchternden Resultate der Kulturrevolution hatten da wohl manchen revolutionären Enthusiasmus zum Erlöschen gebracht. Und auch der kommunistischen Produktionsweise wurde keinerlei Beachtung mehr geschenkt; Eisenhüttenkombinate interessierten die reiselustigen Schweizer/innen ebensowenig wie auf genossenschaftlicher Basis organisierte Konservendosenfabriken oder die verstaatlichte Textilindustrie. Was zählte, war eindeutig jenes alte, fremde, geheimnisvolle, das sog. "wahre" China. Und ich behaupte ja auch gar nicht, das alles (Kunst, Architektur, Geschichte des alten Chinas) sei nichts wert, nein, es liegt mir fern, den Stab über eine mehrtausendjährige Kultur zu brechen. Im Gegenteil: Ich versuche doch nur, mich an die Ursprünge eines hartnäckig immer wieder vorgebrachten Vorurteils heranzugraben; ein Vorurteil, das die "Amerikanisierung Taiwans" im Munde führt und dabei gar nicht merkt, was dahintersteckt: Neben einer gewaltigen Sehnsucht nach Exotik wahrscheinlich in erster Linie ein starkes Unbehagen gegenüber der ökonomischen Entwicklung der Neuzeit, der Industrialisierung. (Die Diskussion pro und contra Industrialisierung sowie deren Verknüpfung mit Phänomenen wie "Internationalisierung" resp. "Verwestlichung" lasse ich hier lieber weg. Sie würde nicht nur ausufern, sondern auf die Schnelle auch viel zu ungenau ihren Niederschlag finden.)

Aber - und ich bleibe dabei, was mit jenem sog. "wahren" China gemeint ist, muß mit Begriffen wie Feudalismus bzw. Agrargesellschaft benannt werden. Wobei natürlich gegen das Weiterbestehen der auf Landwirtschaft basierenden Produktionsweise überhaupt nichts einzuwenden ist. Falls aber mit der "Amerikanisierung Taiwans" gleichzeitig ausgedrückt werden soll, daß die Republik China kein Feudalstaat mehr sei, so dürfte man dem Eingangssatz eigentlich aus ganzem Herzen zustimmen: "Gottseidank ist Taiwan völlig amerikanisiert!"

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