22.05.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Eine sinologische "Reise nach dem Westen"

01.07.1989

Im Jahre 1851 fand im Londoner Hyde-Park eine ganz besondere Ausstellung statt. Beim Ausstellungsobjekt handelte es sich, den Plakatbeschreibungen zufolge, um eine Chinesin! Ein chinesischer Zitherspieler und zwei "interessante" Kinder leisteten ihr bei diesem Auftritt Gesellschaft. Von der Ein-Schilling-Attraktion "Besichtigung einer Chinesin" bis zum Ausruf des Historikers Arnold Toynbee, das 21. Jahrhundert sei das Jahrhundert des Fernen Ostens, wurden die geheimnisvollen Schleier, hinter denen sich das alte Asien verbarg, Tuch für Tuch gelüftet. Unter der ausdauernden Hingabe westlicher Sinologen ist die China-Forschung mittlerweile zu einer international anerkannten und beachteten Disziplin herangewachsen.

Angesichts dessen plädierten umsichtige Bürger im Lande in den letzten Jahren immer wieder dafür, die Republik China sollte unter Ausnutzung ihrer reichhaltigen Kulturschätze und der beachtlichen Finanzkraft des Landes in großem Rahmen wichtige Forschungsmaterialien sammeln und systematisieren und auf diese Art und Weise weltweit die Schlüsselposition in der Sinologie übernehmen. Der Ursprung des chinesischen Wortes für Sinologie, "Han-Schule" (漢學), liegt weit zurück. Es ist die Beschreibung des schriftlichen wie mündlichen Kommentierens der klassischen Texte während der Han-Dynastie, wozu neben der eigentlichen Textkommentierung auch Interprätation und Analyse gehörten. Ebenso, wie das Wort "Han" mittlerweile symbolisch für "Chinese" steht, bezeichnet "Han-Schule" heute umfassend die gesamte Chinaforschung in einem Rahmen, der von der Prähistorie bis hin zur Republik, zu Technik und zu Wirtschaft reicht.

Westlern galt das alte China, auf der einen Seite vom Meer, auf der anderen Seite von Bergmassiven eingeschlossen, mit seiner Kultur, so ganz und gar verschieden von den indoeuropäischen Zivilisationen, von jeher als ein rätselhaftes und exotisches Land. Marco Polo (1254-1324) beschrieb das China der Yüan-Dynastie als ein prosperierendes Paradies voller Höflichkeit und märchenhafter Errungenschaften. In der Vorstellung der Europäer war dieser Eindruck noch Jahrhunderte später lebendig. Die erste China-Forschung nennenswerten Umfangs jedoch wurde erst später der katholischen Kirche gewährt, besonders die Jesuiten taten sich dabei während des 16.-18. Jahrhunderts hervor. Aufgrund der zu dieser Zeit strikten Missionierungsbeschränkungen in China verbrachten die Mönche, bei denen es sich überwiegend um Gelehrte handelte, häufig ihre Zeit mit wissenschaftlichen Erkundungen.


Wie Konfuzius nach Europa gelangt
Matteo Ricci, der erste Missionar, der je nach China kam (1583) und für 27 Jahre blieb, war der erste, der den Westen mit Konfuzius vertraut machte. Die Aufzeichnungen seiner zahlreichen Erfahrungen in China werden noch heute häufig bei Forschungen über die Beamten- und Gelehrtenkultur der Ming-Dynastie zu Rate gezogen.

Mit Ausbruch des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Sinologie im Westen mit zunehmender Geschwindigkeit, jedoch gestützt auf neue Beweggründe: den Aufbau von Handelsbeziehungen und Kolonialismus. Ein Professor der Staatlichen Universität Taiwan, selbst Absolvent der Universität Cambridge, erklärt dazu: Die englische Sinologie hat in Hinsicht auf die Sitten und Gebräuche des chinesischen Volkes, wie zum Beispiel volkstümliche Feste, traditionelle Opern und religiöse Zeremonien, umfangreiche Forschungen betrieben. Dies geschah in dem Bewußtsein, daß, will man ein anderes Volk kolonialisieren und beherrschen, man zunächst mit dem täglichen Leben dieses Volkes in allen Einzelheiten vertraut sein muß. Ähnlich verhält es sich mit den Ergebnissen japanischer Forschung, die wesentlich zum Verständnis frühzeitlicher Sitten und Gebräuche auf Taiwan beigetragen haben.

Ebenfalls seit Anbruch des 19. Jahrhunderts begannen einige westeuropäische Wissenschaftszentren nach und nach Lehrstühle für Chinastudien einzurichten. Das Institut Français berief als ersten Abel Rémusat, einen Fachmann für Taoismus und traditionelle chinesische Medizin, auf den Stuhl, und legte damit den Grundstein für Frankreichs bis heute herausragende Taoismusforschung. In England wurde das "Institut für Ostasienstudien" der Universität London zur Wiege frühester britischer Diplomatie, so hatte der Englisch-Lehrer des letzten Kaisers P'u-I, Reginald Johnston, zuvor dort unterrichtet. Überdies vermachte er all seine in China gesammelten Bücher sowie die gesamte Korrespondenz mit der kaiserlichen Ch'ing-Familie der Bibliothek des Institutes. Bis heute ist die "School of Oriental and African Studies" (SOAS) das größte Zentrum der Sinologie in Europa. Ein weiteres bedeutendes Zentrum der Sinologie ist die holländische Universität Leiden, das dort herausgegebene Magazin "T'oung Pao" (Bulletin) zählt seit Jahren zur Pflichtlektüre eines jeden westlichen Sinologen.


Noch immer der "fest schlafende Riese"
Will ein Westler die komplizierte, "rätselhafte und exotische" Zivilisation Chinas verstehen lernen, so sind selbstverständlich zuverlässiges Übersetzen, Kritik am Text, das Vergleichen unterschiedlicher Ausgaben, sprich eine Einführung in die chinesische Kultur von allen Seiten, die erste und wichtigste Basisarbeit (ganz, wie es dem Grundgedanken der "Han-Schule" entspricht).

In der Blüte der französischen Sinologie wurden der Kanon der vier Klassiker (四書), die fünf Bücher Konfuzius (五經), das "Li-Sao"-Gedicht (離騷) und sogar Romane und Dramen, wie "Wistaria" (灰闌記), "Ein Waisenkind mit Namen Chao" (趙氏孤兒), "Die Legende von der weißen Schlange" (白蛇傳) und "Die westliche Kammer" (西廂記), der Reihe nach ins Französische übersetzt und in Europa verbreitet. In England übersetzte James Legge (1815-97), erster Chinesischprofessor der Universität Oxford, zahlreiche klassische Werke und betrieb umfangreiche Studien in Hinsicht auf die drei Lehren des Konfuzianismus, des Buddhismus und des Taoismus. Thomas T. Wade (1818-1895), erster Chinesischprofessor in Cambridge, widmete sich ganz der chinesischen Sprache und entwickelte dafür eine Lautumschrift in lateinischen Buchstaben. Diese Leistungen zusammengenommen waren und sind für das Verständnis von Westlern gegenüber China von unschätzbarem Nutzen.

Obwohl die Zahl der Sinologen auf der Welt stetig wuchs, blieb das lange verschlossene China in den Augen vieler Westler nachwievor eine autarke und eigenständige Welt, die sich im Stillstand zu befinden schien. Huang Chun-chieh (黃俊傑), Professor für Geschichte an der Staatlichen Universität Taiwan, stellt dazu fest, zu dieser Zeit habe man im Westen die Forschungen der Sinologie streng von den übrigen Disziplinen getrennt. Niemand habe den Versuch unternommen, die historische Entwicklung Chinas mit der der ganzen übrigen Welt einmal im Zusammenhang zu betrachten.

Wie lange also dauerte es, bis China zu einem festen und unabtrennbaren Glied im Weltsystem wurde? "Darauf mußte es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts warten. Nach dem chinesisch-englischen Opiumkrieg drangen die Mächte des Imperialismus in breiter Front ins Land und zwangen das verschlossene alte China, seine Tore zu öffnen und sich auf regelmäßige Kontakte einzulassen. Zu dieser Zeit begann auch das Denken in China sich drastisch zu wandeln", betont Chang P'eng-yuan (張朋園), Mitarbeiter des Instituts für Moderne Geschichte der Academia Sinica. "Dies ist der Ausgangspunkt des modernen Chinas, ebenso ist es der Ausgangspunkt für das Eintreten Chinas in das Weltsystem."


Der Löwe ist erwacht
Nachdem China genug unter den Mißhandlungen des Imperialismus gelitten hatte, begann es, mit aller Kraft mittels politischer Reformen und Neuerungen seine Modernisierung voranzutreiben. Vom feudalistischen Kaiser wechselte es über zu einer demokratischen Regierung, es folgten die 4. Mai-Bewegung, der Widerstandskrieg gegen Japan, die kommunistische Machtergreifung auf dem Festland, die Kulturrevolution mit anschließender Rehabilitation ihrer Opfer, ein weiterer Anlauf zur Modernisierung, diesmal auf der Grundlage der "Taiwanerfahrung",.... In kurzen hundert Jahren schien China sich in ständig neuer Aufmachung zu präsentieren. Somit ist es recht schwierig geworden, von der traditionellen Sinologie ausgehend nach dem wahren Gesicht des modernen Chinas suchen zu wollen.

So hat die Sinologie eine neue Definition erfahren, sind ihr neue Forschungsbereiche erschlossen worden. "Aus den unterschiedlichen Bezeichnungen für das Studienfach an europäischen Universitäten ist das kaum herauszuhören, an amerikanischen Universitäten hingegen gibt es deutliche Trennungen", meint Chang P'eng-yuan. "Die gesamte prä-moderne Forschung, d. h. in Hinsicht auf das traditionelle China, bevor es dem Einfluß des Westens ausgesetzt war, fällt in den Bereich 'Zivilisation und Sprachen des Fernen Ostens'. Das Studium der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in China gehört dagegen zur 'Geschichte'''. Natürlich läßt sich häufig die Erklärung für die verworrenen Pfade, denen die Entwicklung des modernen Chinas folgte, in seiner Tradition finden, man muß dabei nur stets vor Augen haben, daß ein solcher "Abriß von der alten Zeit bis heute" außergewöhnlich tiefschürfende Arbeit und Mühe erfordert.


Europa, der Stützpfeiler der Sinologie
Die politische Lage beeinflußt von jeher die Definition der Sinologie, gleichermaßen beeinflußt sie das jeweilige Zunehmen oder Abnehmen der Studienintensität in Europa und Amerika. In Europa mit seinem eigenen tief verwurzelten kulturellen Hintergrund entwickelte sich die Sinologie, ausgehend von Übersetzungen und Textuntersuchungen, zu einem ausgesprochen soliden und gewissenhaften Forschungsgebiet, mit besonderem Schwerpunkt auf dem traditionellen China. Dieses Umfeld brachte bis zur Mitte dieses Jahrhunderts zahlreiche in aller Welt hochgeschätzte Gelehrte hervor.

Der Schwede Bernhard Karlgren (1889-1978) galt als Autorität auf dem Gebiet der chinesischen Philologie und der Analyse klassischer Texte.

Der Franzose Paul Pelliot (1878-1945) war Fachmann für die Orakelknochenschrift, ebenso wie für Bronzeinschriften und untersuchte die Geschichte auf dem Wege sprachlicher Textanalyse. Auch war er es, der gemeinsam mit dem Engländer Sir Aurel Stein tausende alter Schriftrollen aus den Tun-Huang Grotten ans Licht der Öffentlichkeit brachte.

Der Holländer R.H. van Gulik (1910-67) ist ein noch offenkundigeres Beispiel eines China-Fanatikers. Er spielte Ku-Ch'in Zither (古琴), sammelte chinesische Bücher, Gemälde und Antiquitäten, schnitzte Stempel und war ein beachteter Kalligraph.

Der altehrwürdige Joseph Needham (1908- ) erarbeitete in seinen Ausführungen eine völlig neue Bewertung der bis dahin vernachlässigten Errungenschaften alter chinesischer Technologie, und rückte sie damit in ein positiveres Licht.

Dazu Chang P'eng-yuan: "Unglücklicherweise ist dieser Schlag von Sinologen im Aussterben begriffen, was den Niedergang der ganzen europäischen Sinologie recht bezeichnend darstellt." Zudem verlor Europa nach dem zweiten Weltkrieg seine Position als Mittelpunkt der Welt, seine Macht war geschwächt, die Wirtschaft zusammengeschrumpft, das alles blieb natürlich nicht ohne Wirkung auf die europäische Chinaforschung.

Chu Hung-yuan (朱浤源), Assistent am Institut für Moderne Geschichte der Academia Sinica, der sich besonders mit der gegenwärtigen Situation der Sinologie in England befaßt, meint dazu: "Der Einflußbereich der englischen Regierung ist geschrumpft, die Kolonien wurden eine nach der anderen in die Unabhängigkeit entlassen. Somit ist die Nachfrage nach 'Regionalspezialisten' weitgehend zurückgegangen. Die geringen Existenzmöglichkeiten, die sich Absolventen eines Chinesisch-Studiums bieten, beeinflussen Studenten natürlich stark bei der Wahl ihrer Fächer."


Amerika - Vorzüge eines neuen Anfangs
Da in Anbetracht eines unzureichenden Bildungsetats die nun einmal weniger alltagsbezogenen Geisteswissenschaften bereits als Luxusartikel gelten, wird eingespart, wo immer es nur geht. Lu Ch'ing-pin (盧慶濱), Dozent am SOAS der Universität London, kommentiert die gegenwärtige Situation folgendermaßen: "Wenn jetzt an einer Universität eine Lehrstelle frei wird, bleibt sie oft für Jahre unbesetzt. Früher konnten mittelfristige Forschungspläne für drei bis fünf Jahre aufgestellt werden, jetzt muß bei jedem Schritt gerechnet werden. Wieviel Geld da ist, soviel kann geforscht werden." Daß es nicht ausreichend Bücher gibt, bereitet vor allem den Dozenten Sorgen: "Oft kommt es vor, daß man dringend ein Buch sucht, und feststellen muß, daß es das in der Bibliothek überhaupt nicht gibt!", meint Lu resigniert.

Auch das Abwandern qualifizierten Personals ist ein schwerwiegendes Problem. So wechselte der Verfasser der "Cambridge History of China", Professor Denis C. Twitchett, über zur amerikanischen Universität Princeton, aus keinem anderen Grund als der Aussicht auf reichhaltige Budgets und großzügige Bezahlung, den Schubkräften einer jeden akademischen Forschung. Wen hätte das nicht verlockt? Auf der anderen Seite sind es vor allem nationale Stärke und Finanzkraft, aufgrund derer die USA nach dem zweiten Weltkrieg schließlich die Schlüsselrolle in der Sinologie einzunehmen vermochten.

Die USA hatten ursprünglich keine eigene Tradition in der Sinologie. Nach der kommunistischen Machtübernahme auf dem Festland jedoch flohen viele hervorragende chinesische Wissenschaftler nach Amerika, wie zum Beispiel Li Fang-kuei (李方桂), der zu Lebzeiten in Washington, Hawai und an vielen anderen amerikanischen Universitäten eine Stellung als Kapazität auf dem Gebiet der Linguistik einnahm. Er und viele andere leisteten einen großen Beitrag dabei, das Niveau der amerikanischen Sinologie deutlich anzuheben.


Besonders neugierig auf das moderne China
"Als eine Folge der üppigen Budgets sind in den USA groß angelegte kollektive Langzeit-Forschungsprojekte weit verbreitet", betont Professor Huang Chun-chieh. So zum Beispiel das zeit- und arbeitsaufwendige Zusammenstellen von Nachschlagewerken, eine Serie, die die Abhandlungen zur konfuzianischen Schule erörtert, sinologische Seminare zu jedweden Fachthemen ... , alles ohne Zweifel erstaunliche Leistungen. "Allein zwischen 1950 und 1970 hat Amerika wenigstens 1 000 Doktoren der Chinaforschung hervorgebracht. Anhand dessen läßt sich leicht vorstellen, welch rasante Entwicklung die Sinologie dort durchmacht", erklärt Chang P'eng-yuan.

Die amerikanische Sinologenschaft ist von jeher vornehmlich am neuzeitlichen China interessiert. Ununterbrochen produzieren leidenschaftliche Erörterungen neue Erkenntnisse, besonders zu Fragen wie dem Verlauf der imperialistischen Agression, der dadurch heraufbeschworenen chinesischen "Kriegsherausforderung" und der "Antwort" darauf, sowie zu der Frage, warum die Modernisierung Japans so erfolgreich verlief, während China dabei scheiterte, und noch vielem mehr, sodaß sich chinesische Kollegen mitunter minderqualifiziert vorkommen mögen.

Die amerikanische Wissenschaft tendiert zu "fachübergreifender Ausbildung" (multiple discipline), häufig werden alle möglichen Theorien aus verschiedenen Sozialwissenschaften wie Philosophie, Geschichte, Anthropologie, Archäologie, Psychologie und anderen Bereichen zu sinologischen Forschungen herangezogen.

Dieses Vorgehen, bei dem die traditionelle europäische Methode der Textanalyse durch zahlreiche weitausholende Schlußfolgerungen ersetzt wird, ruft bei den altehrwürdigen Sinologen Europas nur Kopfschütteln und Seufzen, mit einem Wort Kundgebungen tiefster Mißbilligung hervor. Doch, wie noch immer, sind auch in diesem Falle die Umstände stärker als die Menschen. Begabte amerikanische Sinologen treten auf den Plan, zahlreiche Bücher werden veröffentlicht, beides tragende Kräfte der Wissenschaft, sodaß sich nunmehr umgekehrt Europa den Einflüssen Amerikas ausgesetzt sieht. Nun mag es Zweifler geben, die fragen: "Das Auf-und-Ab in der europäischen und amerikanischen Sinologie, die Verschiebung ihrer Forschungsbereiche und -methoden, was für einen Einfluß kann denn das auf China haben?" Oder, um die Sache bei der Wurzel zu packen: "Können westliche Sinologen besser sein als chinesische? "


Ist die Kultur im eigenen Lande versunken, so muß man ihre Spuren in den Ländern der Barbarei suchen
In mancherlei Hinsicht lautet die Antwort "ja". Im Hinblick auf die traditionelle Forschung innerhalb Chinas erscheint die Art der Westler, ein Studium zu betreiben, wissenschaftlicher, ihre Einstellung dazu ernsthafter, häufig erlangen sie damit überzeugende Ergebnisse. Ein deutliches Beispiel dafür ist, wie hilfreich moderne Vermessungsinstrumente bei der Bestimmung von Aufbau, Struktur und Herkunftsepoche archäologischer Ausgrabungsstücke sind.

Ebenso ist für Westler, wollen sie ein Problem erörtern, das Erstellen einer vollständigen Materialiensammlung der erste Schritt. Soll ein Satz zitiert werden, so werden Quelle, jeweilige Ausgabe, Datierung und Seitenzahl deutlich angegeben, es wird niemals vorkommen, daß Fakten aus dem Zusammenhang gerissen, zeitlich falsch eingeordnet oder schlicht verwechselt werden. Im Vergleich zur Gepflogenheit traditioneller chinesischer Gelehrter, "irgendwelche Sätze aus irgendwelchen schon vor 500 Jahren verlorengegangenen Büchern" zu zitieren, ist diese Methode natürlich um vieles verläßlicher. Dies ist besonders bei der Untersuchung von Opern und Romanen aus der Ming- und Ch'ing-Zeit in Hinsicht auf deren Verfasser, Ursprung und Entwicklung von großem Vorteil.

Davon einmal ganz abgesehen, scheint das Herz eines jeden Sinologen, der sich mit dem alten China auseinandersetzt, von tiefem Respekt und Verehrung für die chinesische Kultur erfüllt zu sein. "Die Kultur Chinas geht derart tief, ist derart umfassend, daß ein Menschenleben nicht ausreicht, sie vollends zu studieren. Was ich vermag, ist einzig, soviel wie möglich von ihr verstehen zu lernen, das Gelernte zu konservieren und es den Menschen im Westen vertraut zu machen ...." So sprach der große französische Meister der Sinologie Schipper, eine Kapazität auf dem Gebiet des Taoismus.

Mit dieser vorsichtigen Einstellung, dazu noch mit solidem Fleiß und dem Bildungshintergrund der eigenen westlichen Kultur, können diese Sinologen oft tatsächlich China besser verstehen als es Chinesen vermögen, sind sie eher in der Lage, Chinas Schönheit zu genießen. "Ist die Kultur im eigenen Lande versunken, so muß man ihre Spuren in den Ländern der Barbarei suchen", oder, etwas prosaischer: Angesichts der täglich zunehmenden Verwestlichung Chinas werden die in Übersee aufbewahrten sinologischen Ressourcen in Zukunft wohl noch wertvoller erscheinen.


Der Unbeteiligte hat den besten Überblick
"Ausländer haben bei der sinologischen Forschung noch einen weiteren Vorteil: Sie unterliegen nicht den Fesseln traditionellen Denkens, ihr Horizont ist weiter und auch freier", betont Lu Ch'ing-pin, der gerade dabei ist, ein bereits in Vergessenheit geratenes Kartenspiel der Scholaren der Ming-Zeit zu untersuchen, und nimmt sich selbst als Beispiel. "Kartenspielen gilt in China als nutzlose Beschäftigung, die von Wichtigerem ablenkt, warum sollte so etwas wert sein, näher untersucht zu werden? Im Westen hingegen bedient man sich aller möglichen Objekte, um das Verständnis für China zu vertiefen."

Der Satz, der Unbeteiligte habe den besten Überblick, läßt sich zuweilen auch auf westliche Sinologen anwenden. Chu Hung-yuan führt den China-Experten J.K. Fairbank von der Universität Harvard als Beispiel an. Fairbank wurde mit seiner "Verneuzeitlichungstheorie" in der China-Forschung berühmt, seine vor 30 bis 40 Jahren aufgestellten Prognosen hinsichtlich der Entwicklung der Situation auf beiden Seiten der Taiwanstraße haben sich eine nach der anderen bewahrheitet, seine Folgerungen waren von bewundernswerter Präzision. Westlern drängen sich bei der Beschäftigung mit China oft ungewöhnliche Fragen auf. Dazu Chu Hung-yuan: "Diese Fragen mögen oft eine Folge unzureichenden Verständnisses sein, möglicherweise auch unbeantwortbar, aber wie auch immer, sie können uns inspirieren und anspornen, die eigene Kultur und Geschichte einmal unter neuen Gesichtspunkten näher zu betrachten."

Dazu einige Beispiele, allesamt geeignet, Diskussion und Selbstprüfung auszulösen: "In China gab es schon früh freien Handel, weshalb hat sich daraus kein Kapitalismus entwickelt?" "Chinesischer Imperialismus behauptete sich über Jahrtausende, weshalb führte die Berührung mit englischem und französischem Imperialismus schließlich zu einer solch heftigen Reaktion?".... Ungeachtet der Tatsache, daß die Meinungen auseinandergehen, wird das Verständnis für China auf dem Wege kontinuierlicher Auseinandersetzung und fortwährenden Austauschs Schritt für Schritt klarere Vorstellungen gewinnen.


Statt nach den Fehlern anderer zu suchen, gilt es, selbst stets mit ganzem Herzen und ganzer Kraft bemüht zu sein
Natürlich können sprachliche und kulturelle Barrieren bei westlichen Sinologen zuweilen zu grotesken und komischen Mißverständnissen führen. Im kleinen Rahmen werden da aus an einen Titel angehängten Ehrenbezeichnungen Personennamen, schon etwas schwerwiegender wird da aufgrund von Voreingenommenheit verallgemeinert, das einem poetischen Drama entnommene "heimliche Heiratsversprechen hinten im Blumengarten" gerät zum üblichen Benehmen in der chinesischen Gesellschaft, all dies ist schon vorgekommen. Dadurch, daß der Westen in der China-Forschung als maßgebend betrachtet wird, führt so etwas natürlich noch leichter zu Verzerrungen und ungerechten Beurteilungen.

Doch dazu meint Chu Hung-yuan ganz recht: "Nutzt man die schwachen Seiten westlicher Sinologen aus, um sie herauszufordern, dann kann man natürlich zahlreiche Probleme herbeizitieren, aber darum sollte es nicht gehen! Was wir vom Westen lernen sollten, ist seine Methodik, seine Logik, ist die international übliche Wissenschaftssprache. Ebenso sollten wir die unterschiedlichen Situationen studieren, die bei der Berührung allermöglichen verschiedenen Kulturen entstehen können." Noch einen Schritt weiter gedacht, wenn wir uns auf Vorurteile versteifen, dann erlegen wir uns damit nicht nur Selbstbeschränkungen auf, sondern berauben uns gleichzeitig der Möglichkeit, die Erfolge der chinesischen Sinologie auf die Bühne der internationalen Wissenschaft zu bringen.

(Deutsch von Matthias Voß)

Meistgelesen

Aktuell