Im folgenden Artikel bewertet Dr. Schive Chi (薛琦), Professor an der Staatlichen Universität Taiwan und einer der angesehensten Wirtschaftswissenschaftler in Taiwan, diese komplexen Tendenzen und ihre Auswirkungen auf Taiwans Wirtschaft aus der Perspektive von Taiwans Handelsungleichgewicht und seinem gegenwärtigen wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß.
Taiwans schnelles wirtschaftliches Wachstum in den 80-iger Jahren - die durchschnittliche Wachstumsrate liegt bei etwa 7,9 Prozent - ist durch hohe Handelsüberschüsse und exzessives Sparkapital gekennzeichnet. Tabelle 1 zeigt, daß das Export/BSP Verhältnis (Exporte in Prozenten vom Bruttosozialprodukt) zwischen 1980 und 1983 bei etwa 48 Prozent lag, dann 1987 und 1988 auf 55 Prozent anstieg.
Das Import/BSP Verhältnis nahm jedoch bis 1987 stetig ab. Das Resultat ist klar: Taiwan entfernte sich 1980 von einer ausgeglichenen Handelsbilanz und begann einen schnell wachsenden Handelsüberschuß anzusammeln. 1986 machte der Handelsüberschuß 21,2 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Dies war nicht nur ein Rekordergebnis für Taiwan, sondern war auch im Vergleich mit anderen Ländern, die Handelsüberschüsse auswiesen, ohnegleichen. Obwohl diese Ziffer im letzten Jahr auf genau 10 Prozent sank und damit ausgleichend auf die Import/Export Bilanz wirkte, stellt das Handelsungleichgewicht weiterhin ernste Probleme auf.
Das außenwirtschaftliche Handelsungleichgewicht, das in Tabelle 1 dargestellt ist, kann aus der Perspektive der Binnenwirtschaft interpretiert werden. Nach Angaben von Wirtschaftswissenschaftlern setzen sich die Volksausgaben wie folgt zusammen: Verbrauch, Staatsausgaben, Investitionen, und Exporte minus Importe. Das Volkseinkommen, demgegenüber, setzt sich aus Verbrauch, Sparkapital, und Staatssteuern zusammen. Demzufolge gleichen die Netto-Exporte (Exporte minus Importe) dem Staatshaushaltsüberschuß (Steuern minus Ausgaben) plus Netto-Sparkapital (Sparkapital minus Investitionen). Ist der Staatshaushalt in etwa ausgeglichen, dann entspricht der Handelsüberschuß der Summe des Netto-Sparguthabens. Ersteres wird auch als außenwirtschaftliches Ungleichgewicht bezeichnet und letzteres als innenwirtschaftliches Ungleichgewicht.
Die Zahlen in Tabelle 1 belegen nachdrücklich diese Interpretation. Das Sparkapital/BSP Verhältnis fluktuierte zwischen 1980 und 1985 in Taiwan zwischen 30 Prozent und 33 Prozent, schnellte aber 1986 und 1987 auf 38,7 Prozent bzw. 40,4 Prozent, bevor es im letzten Jahr auf 34,7 Prozent abfiel. Das Investitions/BSP Verhältnis nahm jedoch von 1980 (34,5 Prozent) bis 1986 (15,8 Prozent) stetig ab, verbesserte sich dann allerdings mäßig, indem es 1987 und 1988 leicht anstieg. Demzufolge sind die sich über Jahre streckenden inadequaten Investitionen der Hauptgrund für die sich weitende Kluft von Investitionen und Sparkapital gewesen. Dieses Problem ist durch eine extrem große Spar-Neigung der Bevölkerung verstärkt worden und hat damit dazu beigetragen, daß das Netto-Sparkapital/BSP Verhältnis 1986 und 1987 auf einen außergewöhnlich hohen Stand angewachsen ist.
Realer effektiver Währungswechselkurs (Real Effective Exchange Rate, REER)
Untersucht man den Ursprung des außenwirtschaftlichen Ungleichgewichts, wie in Tabelle 1 dargestellt, so behauptet die Wirtschaftstheorie, daß jedes Marktungleichgewicht einer Funktionsstörung des Preissystems zuzuschreiben ist. Dies bedeutet, daß die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage durch Preisregulierungen beseitigt werden kann, sowie eine anhaltende Kluft zwischen Angebot und Nachfrage Unzulänglichkeiten im Preisregulierungsmechanismus andeutet.
Karte 1 zeigt Taiwans Zahlungsbilanz sowie zwei Meßwerte des "realen effektiven Währungswechselkurses" (REER), die in reziproken Werten angegeben sind und nach Exportanteil und Gesamthandel gewichtet sind. Berücksichtigt man die Änderungen der nominalen Währungswechselkurse sowie die Preisschwankungen in Taiwans Haupthandelszweigen, dann reflektiert der REER-Kehrwert des NT-Dollars die Wettbewerbsfähigkeit von Taiwans Exporten (Importen) auf dem internationalen (Binnen) Markt. Daraus folgt, daß unter sonst gleichen Umständen ein schwacher NT-Dollar Taiwans Exportindustrie belebt und einen Handelsüberschuß erwirtschaftet.
Da sich Taiwans Außenhandel 1980 im Gleichgewicht befand, sind die REER-Kehrwerte des NT -Dollars mit 1980 als Basisjahr gemessen worden. Die drei Kurven, die in Karte 1 dargestellt sind, verlaufen alle in ähnlicher Weise. Genauer gesagt, ein Zeitabstand von einem Jahr kann zwischen dem Verlauf des REERs und dem Handelsungleichgewicht festgestellt werden. Zum Beispiel, der erste Rückgang des REER-Kehrwerts im Jahr 1980 und dann ein sechs Jahre lang ansteigender Trend des REER-Kehrwerts gingen der Ansammlung des Handelsüberschusses voran, während ein starker Rückgang des REERs, wie geschehen im Jahr 1987, den Handelsüberschuß erst ein Jahr später dämpfte.
Es ist einleuchtend, daß Taiwans Exportboom in den frühen 80-iger Jahren von einem schwachen NT-Dollar profitiert hat. Demgemäß ist trotz einer starken Aufwertung des NT-Dollars gegenüber dem US-Dollar - eine Aufwertung von 40 Prozent seit Mitte 1986 - der REER des NT-Dollars im Jahr 1988 auf 100 Prozent gestiegen (oder: der REER-Kehrwert ist auf 100 Prozent gefallen). Folglich ist die im letzten Zeitabschnitt durchgeführte Aufwertung gegenüber dem US-Dollar, unter Berücksichtigung der Währungsfluktuationen von Taiwans Haupthandelspartnern, grundsätzlich eine Korrekturmaßnahme für den unterbewerteten NT-Dollar gewesen.
Inlands-Investitionen
Ein unzulängliches Investitionsniveau in Taiwan ist die Hauptursache für überschüssiges inländisches Sparkapital gewesen. Tabelle 2 illustriert diesen Verfall. Während eine Steigerung des Aktienkapitals normalerweise zwei bis drei Prozent des BSP (Bruttosozialprodukt) ausmachte, oder etwa zehn Prozent der Bruttokapitalformation in den 70-iger und frühen 80-iger Jahren, begann die absolute Summe des Inventars (Aktienkapitalbestand) im Jahr 1980 aufgrund von Deflation und in einigen Fällen aufgrund eines verbesserten Inventar-Managements zu verfallen. Der Großhandelsindex fiel zwischen 1983 und 1987 im Durchschnitt um 1,68 Prozent. Tabelle 2 deutet an, daß der Rückgang des Inventars ab 1982 im Durchschnitt 0,8 Prozent vom BSP ausmachte, bzw. 1,2 Prozent und 2,3 Prozent in den Jahren 1985 und 1986. Demzufolge haben ein rückläufiges Preisniveau und einige Verbesserungen im Inventar-Management zu einem negativen Wachstum des Aktienkapitals geführt. Dies erklärt den Rückgang des Investitionsverhältnisses auf etwa drei bis vier Prozent seit 1982.
Zweitens, in der Hauptsache resultierte der Investitionsabfall aus den fortlaufenden Rückgängen der Bruttosozialformation auf allen drei Sektoren: Regierung, staatliche Unternehmen und privater Sektor. Unter diesen drei Sektoren ging besonders der Anteil der staatlichen Unternehmen von 10,6 Prozent (1980) auf 4,2 Prozent (1988) zurück. Aber auch die Anteile von Regierung und privatem Sektor fielen zwischen einem Viertel und einem Drittel zwischen den Jahren 1980 und 1987.
Das Grundprinzip hinter den Veränderungen im Investitionsverhalten variiert unter diesen drei Sektoren. In Kürze: Der Investitionsrückgang auf dem öffentlichen Sektor dürfte, was die Leistungsfähigkeit betrifft, positive Auswirkungen nach sich ziehen. Allerdings können staatliche Investitionsverzögerungen auf dem Energiesektor in der nahen Zukunft dazu führen, daß das Angebot die Elektrizitätsnachfrage nicht befriedigen kann. Außerdem hat die Regierung die schnell wachsende Nachfrage nach öffentlichen Gütern nicht richtig beurteilt, dies hat in vielen öffentlichen Investitionsbereichen zu schwerwiegenden Mängeln geführt.
Zum Beispiel, das Angebot öffentlicher Verkehrseinrichtungen steht im allgemeinen in keinem Verhältnis zum Bedarf, einmal ganz davon abgesehen, daß mit dem Bau eines Untergrundbahnnetzes in Taipei-Stadt erst kürzlich begonnen wurde. Autofahren in Taipei ist nahezu unmöglich geworden, nicht etwa wegen der hohen Autopreise, sondern wegen unzureichender Infrastruktur und Mangel an Parkplätzen.
Tatsächlich stehen zahlreiche Infrastrukturprobleme im Zusammenhang mit inadequaten Investitionen. Zum Beispiel sind viele Gebiete in Taiwan inklusive Taipei häufig von Überschwemmungen bedroht, weil geeignete Schutzeinrichtungen noch nicht fertiggestellt worden sind. Es besteht außerdem dringender Bedarf an modernen Abwassersystemen, öffentlichen Parks, reiner Luft und stark verbesserten Umweltschutzeinrichtungen. In Kürze: Es gibt viele Probleme, die es durch öffentliche Investitionen zu lösen gilt. Die Wirtschaft sollte in der Lage sein, diese zu verdauen; immerhin hat Taiwan, nach Japan, die größten ausländischen Währungsreserven der Welt.
Herstellung
Tabelle 3 liefert einige Hinweise über den gegenwärtigen und zukünftigen Stellenwert des Herstellungssektors in Taiwan. Taiwans extrem großer Herstellungssektor machte im Jahr 1987 43,5 Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts aus. Dieser Anteil ist im Vergleich mit anderen Ländern ausgesprochen hoch. Zum Beispiel hatten die zwei führenden Industrieländer Japan und die Bundesrepublik Deutschland in den 80-iger Jahren einen Herstellungssektor, der nur 30 Prozent vom gesamten Bruttosozialprodukt ausmachte. Süd-Koreas Herstellung/BSP Verhältnis lag 1985 bei 28,1 Prozent und das der U.S.A. bei 20,9 Prozent. Unter Bezugnahme neuester Daten ist daraus zu schließen, daß Taiwans Herstellungssektor in der Vergangenheit nicht nur besonders groß war, sondern daß er auch gegenwärtig allen anderen Ländern mit großem Abstand voraus ist.
Bedeutet dies, daß Taiwans gegenwärtige Wirtschaftsstruktur beispiellos ist? Karte 2 zeigt Muster wachsender Herstellungssektoren, relativ zur Gesamt-Wirtschaft, für verschiedene Länder zwischen den Jahren 1970 und 1984. Drei charakteristische Modelle beziehen sich auf drei Gruppen von Ländern, die nachfolgend genannt werden. Zur ersten Gruppe zählen Taiwan, Süd-Korea, Malaysia und Indonesien, die als Schwellenländer eine ansteigende Tendenz zeigen, da ihre wirtschaftliche Entwicklung - innerhalb des beobachteten Zeitraums - durch einen wachsenden Herstellungssektor manifestiert wurde.
Zweitens, die entwickelten Länder wie West-Deutschland, die U.S.A., Belgien und die Niederlande zeigen alle eine rückläufige Tendenz. Dies deutet eine graduelle Verminderung des Herstellungssektors im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft an. Japan und in gewisser Weise West-Deutschland gehören zur letzten Gruppe; sie haben in Proportion zum BSP zuerst einen sich ausdehnenden Herstellungssektor, der später in Form der sogenannten U-Kurve dekliniert.
Die in Karte 2 enthaltenen Informationen deuten an, daß der Herstellungssektor eine zunehmend wichtige Rolle in den frühen Stadien der Entwicklung spielt, wie dies anhand des steigenden Kurvenverlaufs der Entwicklungsländer gezeigt wird. Im Gegensatz dazu stützt sich eine voll entwickelte Wirtschaft immer weniger auf den Herstellungssektor. Deshalb zeigen Japan und West-Deutschland, für die die Daten einen längeren Zeitraum abdecken (1950-1984), ein interessanteres und langfristigeres Entwicklungsmuster für den Herstellungssektor. Dieser Sektor führte anfänglich zu einer Wirtschaftsexpansion, aber sein Anteil nahm ab, als die Wirtschaft ein bestimmtes Einkommensniveau erreichte.
Im Fall von Taiwan hat der Herstellungssektor eindeutig und in relativ kurzer Zeit ein weites Gebiet von Entwicklungsmöglichkeiten sondiert und hat einen maximalen Anteil am wirtschaftlichen Wachstum gehabt. Falls Taiwan den Industriemodellen von Japan, West-Deutschland und anderen entwickelten Ländern folgt, dürfte seine Industrialisierung den Höchststand erreicht haben und der Anteil des Herstellungssektors sollte bald zu fallen beginnen.
Schlußfolgerungen und Konsequenzen
Taiwans Wirtschaft hat sich während ihres schnellen Entwicklungsprozesses ständig verändert. In den 80-iger Jahren stützte sich die Wirtschaft hauptsächlich auf den Handel und wurde vom Herstellungssektor dominiert, innerhalb dessen die Schwerindustrie und die chemische Industrie mehr als 60 Prozent ausmachten. Aber die spektakulärsten Eigenschaften der Wirtschaft Taiwans in den 80-iger Jahren sind die hohen Handelsüberschüsse und das exzessive Sparkapital gewesen. Ein schwacher NT-Dollar war neben anderen Faktoren hauptsächlich für den Handelsüberschuß verantwortlich. Inadequate inländische Investitionen führten zur Ansammlung von überschüssigem Sparkapital und sind als Hauptgrund für das Inlandsungleichgewicht anzusehen.
Hohe Importe, geringe inländische Investitionen - ein Anzeichen dafür, daß die Jahre des unbekümmerten Aufschwungs vorbei sind.
Eine Analyse der Investitionsquellen deutet an, daß der Mangel an staatlichen Investitionen und neuen Projekten öffentlicher Unternehmen großen Anteil am Rückgang der Inlands-Kapitalformation hatte. Mit Blick auf die Investitionen des privaten Sektors scheint es, daß auch die Verlangsamnung der zunächst schnellen Ausweitung des Herstellungssektors teilweise für diese Situation verantwortlich ist.
In den 80-iger Jahren ist der Anteil des Herstellungssektors am BSP in Taiwan einer der höchsten weltweit gewesen. Falls Taiwan einem Entwicklungsmodell der westlichen Länder oder im besonderen dem Modell von Japan folgen sollte, dann dürfte der Herstellungssektor nicht länger seine führende Rolle bei der Expansion der Wirtschaft innehalten. Dies bedeutet nicht, daß dieser wichtige Sektor nun bedeutungslos wird, sondern vielmehr, daß sein relativer Stellenwert in der Wirtschaft höchstwahrscheinlich abnehmen wird.
Innerhalb des Herstellungssektors sind einige strukturelle Veränderungen zu erwarten. Die arbeitsintensiven und umweltschädlichen Industrien werden zu wachsen aufhören und werden sogar schrumpfen, denn ihre relativen Vorteile ändern sich, wenn die sozialen Kosten mit in Rechnung gezogen werden. Die arbeitsintensiven Industrien betreffend, wird der Abfluß inländischer Investitionen mit Sicherheit den Prozeß struktureller Veränderungen beschleunigen. Neue Industriezweige wie die Informations- und Serviceindustrie werden schneller wachsen, und die konventionelle Exportindustrie wird eine größere Automation erfahren, um überleben zu können.
Falls die Entwicklungstendenzen, wie oben in groben Zügen dargestellt, richtig sind, dann sollten folgende Verfahrensweisen angenommen werden: (l) öffentliche Investitionen sollten erhöht werden; (2) es sollte weitere Deregulationen im privaten Sektor geben und im Finanzbereich im besonderen; (3) weiterreichende förderliche Maßnahmen zur Entwicklung von Hochtechnologie und Automationsindustrie sollten eingeleitet werden, sodaß der Prozeß des wirtschaftlichen Wandels reibungslos verläuft.
(Deutsch von Frank Schrader)