09.05.2025

Taiwan Today

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Schrei nach Freiheit und Demokratie

01.07.1989
Die Göttin der Demokratie - am 30. Mai von Studenten der Pekinger Zentralen Kunstakademie auf dem Tienanmen enthüllt, steht diese Kopie der New Yorker Freiheitsstatue nur wenige Tage. Als die kommunistischen Truppen sie niederreißen, zerstören sie mit ihr den Traum der Demonstranten von Freiheit und Selbstbestimmung.
Lee Teng-hui,
Präsident der Republik China, 4. Juni 1989

Sehr geehrte Damen und Herren!

Heute in den frühen Morgenstunden haben die Truppen der chinesischen Kommunisten schließlich begonnen, unter Einsatz von Waffengewalt gegen die Studenten und andere Bürger, die auf dem Tienanmen in Peking friedlich für Demokratie und Freiheit demonstrierten, vorzugehen. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Obwohl wir mit dieser wahnsinnigen Maßnahme der chinesischen Kommunisten bereits gerechnet hatten, sind wir darüber zutiefst betroffen, entrüstet und schockiert.

Wir sind der festen Überzeugung, daß jedwede politische Macht ihr Fundament im Willen des Volkes haben muß. Zwar waren die chinesischen Kommunisten in der Lage, das chinesische Festland mit Gewalt und Lügen an sich zu reißen, doch die letzten 40 Jahre waren geprägt von fortwährenden internen Machtkämpfen und kontinuierlicher Unterdrückung des Volkes. In Anbetracht der Tatsache, daß unsere Landsleute auf dem Festland nunmehr allgemein erwacht sind, wird die unmenschliche Vorgehensweise der chinesischen Kommunisten ganz sicher ihr Urteil in der Geschichte finden, Sie wird noch stärkere Opposition hervorrufen und den Untergang der chinesischen Kommunisten beschleunigen.

Zutiefst betroffen und mit schwerem Herzen möchte ich im Namen der Regierung und des Volkes der Republik China alle friedliebenden Länder und Völker der Welt, die sich um die Menschenrechte sorgen, aufrufen, die chinesischen Kommunisten mit Nachdruck zu verurteilen, von ihnen zu fordern, dem blutigen Massaker umgehend ein Ende zu bereiten, und den Verwundeten sowie den Familien der Toten bestmögliche Fürsorge zuteil werden zu lassen.

Ebenso rufe ich alle Chinesen in China und im Ausland auf, ihre tiefe Liebe zu ihren Landsleuten in Taten umzusetzen, sich eng zusammenzuschließen und den Landsleuten auf dem Festland bei ihrem Kampf um Überleben und Freiheit den Rücken zu stärken, sie in jeder nur denkbaren Art und Weise zu unterstützen, ihnen Beistand zu leisten und mit den chinesischen Kommunisten in jeder Hinsicht einen klaren Bruch zu vollziehen.

Gleichzeitig möchte ich die Menschen hier in unserer Bastion einer wiederaufblühenden Nation, gleich ob Soldat oder Zivilist, daran erinnern, der Neigung der chinesischen Kommunisten zur Anwendung von Gewalt und Militär gegenüber wachsam zu bleiben und am Vorabend des Zusammenbruchs der chinesischen Kommunisten auf jede Maßnahme vorbereitet zu sein, die diese zu ergreifen riskieren könnten.

Die Tyrannei der chinesischen Kommunisten ist eine Schande für das ganze chinesische Volk. Die Regierung und das Volk der Republik China haben die Pflicht, mit Entschlossenheit alle antikommunistischen und patriotischen Kräfte zu vereinen und ihr Äußerstes dabei zu geben, diese Tyrannei zu stürzen. Wir geloben, nicht eher aufzuhören als bis wir dieses Ziel erreicht haben."


In einer weiteren Rede am fünften Juni im Rahmen der Abschlußveranstaltung zur zweiten Plenarsitzung des 13. Kuomintang-Zentralkommitees nahm Präsident Lee noch einmal Stellung zu den erschütternden Vorgängen auf dem chinesischen Festland.

Er machte deutlich, daß die chinesischen Kommunisten, indem sie den "geschlossenen Aufruf der Weltöffentlichkeit nach Menschlichkeit und Mäßigung" ignorierten und schließlich ein blutiges Massaker unter den unbewaffneten Studenten und Demonstranten auf dem Tienanmen anrichteten, "den Bruch in ihrer Führung noch vertieft haben" und diese Maßnahme zu "verschärften Machtkämpfen" und "stärkerem Widerstand in der Bevölkerung" führen werde.

Er unterstrich, das chinesische Festland sei nun dringend auf die Hilfe aller Landsleute angewiesen. Es würde von allen Chinesen in China und im Ausland erwartet, daß sie den Menschen auf der anderen Seite der Taiwanstraße ihre größte Bruderliebe und jede nur denkbare Hilfe bei deren Kampf gegen die chinesischen Kommunisten zuteil werden ließen. Das Blut des chinesischen Volkes sei nicht umsonst vergossen worden. "Diejenigen, die auf dem Tienanmen ihr Leben ließen, haben mit ihrem Blut die letzte Seite in der Geschichte der Verbrechen der chinesischen Kommunisten geschrieben."

Präsident Lee forderte einen jeden, "der noch immer davon träumt, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde im Rahmen der 'Vier Prinzipien' der chinesischen Kommunisten zu erlangen", auf, aufzuwachen. Für Chinas Zukunft gebe es keine andere Alternative, als sich der "Taiwan-Erfahrung" anzuschließen. Allein die Kuomintang sei in der Lage, diese schwere Verantwortung auf sich zu nehmen, und die Nation auf ihrem Weg in ein vereintes demokratisches China zu führen.

Doch sie ersteht von neuem, diesmal unter den Händen von Studenten der Staatlichen Kunsthochschule Taiwan und vor der Chiang Kai-shek Gedenkhalle in Taipei - hier darf sie fortbestehen.


Als in den frühen Morgenstunden des vierten Juni bewaffnete Truppeneinheiten der "Volksbefreiungsarmee" mit Panzern auf den Tienanmen dringen und die ersten Meldungen und Bilder aus Peking in den Sonntagsnachrichten auftauchen, sind überall in der Welt Resignation, Bestürzung und Wut die ersten Reaktionen. Was bewog die chinesischen Kommunisten, in derart brutaler und unmenschlicher Weise gegen friedliche und unbewaffnete Demonstranten vorzugehen? Wer konnte einen solchen Befehl geben, Menschen mit schwerem Kriegsgerät niederzuwalzen und wahllos das Feuer auf die Menge zu eröffnen? Die Welt steht fassungslos daneben, während die Situation in Peking weiter eskaliert.

Das Blutbad auf dem Tienanmen ist der Höhepunkt einer Konfrontation zwischen der von Studenten initiierten Demokratiebewegung und der Führung der chinesischen Kommunisten, die bereits am 18. April mit den Trauerfeierlichkeiten für den drei Tage zuvor verstorbenen Führer der KP auf dem chinesischen Festland Hu Yaobang ihren Anfang genommen hat. Es kommt zu Massendemonstrationen, Hunderttausende ziehen auf die Straßen, um ihrem Ärger über Korruption und galoppierende Inflation Luft zu machen. Begleitet werden diese friedlichen Kundgebungen von einzelnen Unterrichtsstreiks an den Hochschulen und vorübergehenden "Camps", die von Demonstranten auf dem Tienanmen aufgeschlagen werden. Ursprünglich auf Peking beschränkt, breiten sich die Aktionen schnell auch auf andere Städte wie Shanghai und Nanking aus. Der 70. Jahrestag der "4. Mai-Bewegung", in deren Tradition sich die heutige Demokratiebewegung Gehör verschafft, gibt den Protesten neuen Aufschwung: Auf dem Tienanmen versammeln sich hunderttausend Menschen. Neun Tage später beginnen erst 1 000, später dann beinahe 3 000 Demonstranten einen Hungerstreik auf dem Platz, um so der Ignoranz der Regierung zu begegnen.

Der Zeitpunkt ist klug gewählt, der sowjetische Regierungs- und Parteichef Gorbatschow wird am 15. Mai zu einer Visite in Peking erwartet. Von ihm erhoffen sich die Demonstranten moralische Unterstützung. Tatsächlich erklären sich die Führer der kommunistischen Partei am 19. Mai bereit, eine öffentliche, vom Fernsehen ausgestrahlte Diskussion zwischen Studentenführern und "Premierminister" Li Peng zu arrangieren. Die Diskussion führt jedoch zu keinerlei Ergebnis, die Studenten, einer von ihnen lediglich mit einem Schlafanzug bekleidet, fordern, die "Volkszeitung" müsse eine offizielle Entschuldigung für ihre Verleumdungen drucken; Studenten dürften nicht mehr als Chaoten verunglimpft werden; die patriotischen Vorschläge der Studenten müßten offen diskutiert werden und Li Peng sowie der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Zhao Ziyang, der Führer des liberalen Parteiflügels, sollten sich auf dem Tienanmen der Öffentlichkeit zeigen. Die Rehabilitierungsbestrebungen der Studenten stoßen bei Li Peng auf völlige Ablehnung. Immerhin, Li und Zhao suchen noch in derselben Nacht gemeinsam die Hungerstreikenden auf dem Tienanmen auf. Während Zhao Ziyang noch mit Tränen in den Augen den Studenten "gute Absichten" unterstellt und versichert, die angeschnittenen Probleme würden letztendlich gelöst werden, hat der fundamentalistisch orientierte Li Peng bereits ganz anderes im Sinn. Am darauffolgenden Tag marschieren Truppenverbände in Peking ein, über weite Teile der Stadt wird das Kriegsrecht verhängt.

Zeitungen contra Nachrichtensperre - für den Transport per Heißluftballon in Richtung Festland vorzubereiten.

In Peking versucht die aufgebrachte Menge mit Sitzstreiks und Barrikaden, die Soldaten nicht bis ins Stadtzentrum zum Tienanmen vordringen zu lassen. Während es auf der Straße zu bewegenden Szenen kommt, in denen sich friedliche Demonstranten teilweise erfolgreich bemühen, bei den Soldaten Verständnis zu erwecken und sie zur Unterstützung zu bewegen, werden in der Parteispitze der Kommunisten die Weichen für einen härteren Kurs gestellt. Zhao Ziyang, als führender Vertreter der Reform- und Öffnungspolitik auf dem chinesischen Festland, teilt nunmehr das Schicksal seines Amtsvorgängers Hu Yaobang, der 1987 infolge der Studentenunruhen in Shanghai seinen Hut nehmen mußte. Ihm werden Unfähigkeit und grobe Nachlässigkeiten vorgeworfen. Es beginnt sich abzuzeichnen, daß die Demokratiebewegung mit ihren Forderungen in ein Wespennest gestochen hat, dessen Größe den Studenten vermutlich anfangs kaum bewußt gewesen sein dürfte.

Sie sind vor allem bemüht, ihr Prinzip des gewaltlosen Protests durchzuhalten. Mit bewundernswerter Selbstkontrolle sind die Studenten in der Lage, es nicht ein einziges Mal zu aggressiven oder destruktiven Ausschreitungen kommen zu lassen. Als am 23. Mai das Mao-Bild am Tienanmen mit Farbbeuteln beschmutzt wird, distanzieren sich ihre Führer umgehend von dieser, ihrer Meinung nach von Einzelgängern begangenen Tat, um deutlich klarzustellen, daß das Ziel der Demokratiebewegung bei aller Kritik am bestehenden System keineswegs Zerstörung, Gewalt und Anarchie sei. Die Spannung im Lande wächst.

Die Vorahnung, es könnte zu einer gewalttätigen Zuspitzung kommen, veranlaßt einige der Studentenführer, die Demonstranten zur Beendigung der Besetzung des Tienanmen aufzurufen. Als es in Peking und in den übrigen Städten im chinesischen Festland ruhiger zu werden scheint, werden jedoch im Ausland die Stimmen immer lauter, die ein Ende der Einparteienherrschaft der chinesischen Kommunisten fordern.

Während am 28. Mai in Peking nur etwa 50 000 und in Shanghai 100 000 Menschen einem Demonstrationsaufruf der Studentenführer folgen, bringen zwischen 500 000 und 1 500 000 aufgebrachte Chinesen und Ausländer den Verkehr auf den Straßen Hongkongs zum Erliegen. Überall in den Metropolen der westlichen Welt bieten Protestkundgebungen den Freiheitskämpfern im chinesischen Festland moralische Unterstützung. Die Studentenführer beschließen, ihre gewaltlosen Aktionen bis zum 20. Juni fortzusetzen, für den ein Zusammentreffen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei anberaumt ist. Am 30. Mai wird auf dem Tienanmen unter den Augen der Weltpresse und dem Jubel der Volksmassen eine Nachbildung der amerikanischen Freiheitsstatue enthüllt, die als "Göttin der Demokratie" all das verkörpert, wonach sich die geduldigen Demonstranten sehnen.

Zeitungen contra Nachrichtensperre - überall in Taiwan opfern Studenten ihre Freizeit, um Zeitungsberichte sorgfältig auszuwählen.

Unter den aktuellen Stellungnahmen aus aller Welt gibt es auch einige wenige, die Kritik an den überwiegend umjubelten Studenten üben. So meint zum Beispiel Hsiung Chieh, Professor für politische Wissenschaften an der New York University, der sich während der Studentenproteste gerade zu Forschungen in Peking aufhält, die Studenten hätten sich einen Bärendienst erwiesen. Ihre mangelnde Kompromißbereitschaft habe letztendlich zum Machtverlust des "Reformflügels", sprich genau zum Gegenteil dessen geführt, was urspünglich das Ziel gewesen sei. Die Studentenbewegung habe sich von einer anfänglich wohl durchdachten und straff organisierten Aktion immer mehr zu einer Angelegenheit entwickelt, die seiner Meinung nach jeder politischen Weisheit entbehre, die Studenten seien "nicht intelligent genug, ihre guten Ideen in die Tat umzusetzen". Die Demokratiebewegung von 1989 sei durchaus mit der "4. Mai-Bewegung" von 1919 zu vergleichen. In beiden Fällen hätten sich Intellektuelle mit dem Bürgertum aus den Städten zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen Machthaber und politisches System vorzugehen. Doch diesmal habe die Studentenbewegung einen ausgesprochen "machtnegierenden" Charakter, wie die Bilder von der bereits erwähnten Fernsehdiskussion beeindruckend belegt hätten. In jeder Gesellschaft werde irgendeine Institution von Macht benötigt, die Maße und Grenzen festlege und die Menschen ermutige, sich nach oben zu arbeiten. Daß das Gefühl dafür auf dem chinesischen Festland verlorengegangen sei, könne schwerwiegende Folgen für die Entwicklung dort haben. Professor Hsiung Chieh rät den Studenten zu Mäßigung und zur umgehenden Räumung des Tienanmen, ein Aufruf, dem die Studenten in Anbetracht der weltweiten Unterstützung ihrer Aktionen nicht folgen.

Doch die Unklarheit, die durch das lange Schweigen und die Tatenlosigkeit der Parteiführung entstanden ist, und die Hoffnungen, die sich überall in der Welt hinsichtlich der weiteren Entwicklung auf dem chinesischen Festland daran anknüpften, sind nur von kurzer, trügerischer Dauer. Zunächst versuchen unbewaffnete Soldaten am 2. Juni vergeblich, auf den Platz zu dringen. Am darauffolgenden Tag verschaffen sich Militärtrupps unter Einsatz von Tränengas Zugang zum Tienanmen, unweit des Platzes werden Demonstranten von Soldaten zusammengeschlagen. In der Nacht zum 4. Juni schließlich durchbrechen Panzer die Barrikaden und walzen quergestellte Busse genauso nieder, wie hilflose Demonstranten, denen der Fluchtweg verbaut ist. Begleitende Trupps von Soldaten schießen wahllos zuerst in die Luft, dann in die Menge. Der Traum von Freiheit und Demokratie wird mit dem Blut von wenigstens 3 000 friedlichen unbewaffneten Menschen erstickt.

Die folgenden Tage sind geprägt von sich widersprechenden Informationen und Gerüchten, doch es beginnt sich abzuzeichnen, daß das Massaker von höchster Stelle angeordnet wurde. Das Ausland, einerseits zutiefst schockiert, andererseits noch vorsichtig darauf bedacht, nicht voreilig eine Krise in den diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen heraufzubeschwören, reagiert zuerst zurückhaltend, dann jedoch mit der Verhängung zunehmend konkreter Sanktionen gegen die chinesischen Kommunisten.

"Respekt und Trauer für unsere Landsleute" - Tausende gedenken vor der Sun Yat-sen Gedenkhalle in Taipei der Tienanmen-Opfer.

Zwischen den USA und den chinesischen Kommunisten kommt es zu einem verschärften Konflikt über die Frage des Dissidenten Fang, der sich vor den Massenverhaftungen in die amerikanische Botschaft in Peking geflüchtet hat. Die Botschaft wird von Militäreinheiten eingekreist. In den Vereinigten Staaten werden Stimmen laut, das bereits 5. Juni verhängte Waffen- und Handelsembargo zu erweitern. Am 17. Juni fordern 83 Abgeordnete des Kongresses, die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Festland auf dem nuklearen Sektor umgehend einzustellen, da der Austausch derart sensibler und gefährlicher Technologie einen vertrauenswürdigen Partner erforderlich mache. Präsident Bush jedoch zieht derartigen Strafmaßnahmen eine "langfristige und pragmatisch orientierte" Politik vor.

Die deutsche Bundesregierung bricht vorübergehend alle Kontakte auf offizieller Ebene ab und erteilt Touristen und Geschäftsleuten die Warnung, nicht nach Peking zu reisen. Bundeskanzler Kohl richtet in einem Schreiben vom 18. Juni an Li Peng die Bitte, die bereits gegen drei Arbeiterführer gefällten Todesurteile nicht zu vollstrecken und generell Milde walten zu lassen. Der Sprecher des Innenministeriums Bachmeier erklärt, Festlands-Chinesen, die sich in der Bundesrepublik befinden und nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen, bekämen ihre Visa verlängert, bis sich die Situation auf dem Festland geklärt habe.

Die britische Regierung ist als offiziell höchste Regierungsinstanz Hongkongs in einer ganz besonderen Zwickmühle. Durch die bereits geschlossenen Übergabeverträge an die chinesischen Kommunisten sind ihr weitgehend die Hände gebunden, auf die Forderungen der chinesischen Einwohner Hongkongs nach Sanktionen gegen das unmenschliche Regime in Peking und nach Verweigerung der Rückgabe der Kolonie 1997 einzugehen. Während in Hongkong Millionen von Menschen in Demonstrationen und Kundgebungen ihrem Protest gegen das Massaker auf dem Tienanmen Ausdruck verleihen, reagiert das britische Außenministerium mit dem Versprechen einer größeren Flexibilität bei der Bearbeitung von Einbürgerungsanträgen auf den zunehmenden Andrang von Hongkong-Chinesen, die sich um die britische Staatsbürgerschaft bemühen. Zwar werden die regelmäßigen Treffen zwischen Vertretern der britischen und der festlandschinesischen Seite vorläufig symbolisch ausgesetzt, doch läßt Premierministerin Thatcher keinen Zweifel daran, daß Hongkong weder über 1997 hinaus britisch bleiben werde, noch daß für jeden Hongkong-Chinesen ein britischer Paß ausgestellt werden könne.

Studenten aus ganz Taiwan bilden am 31. Mai eine mehr als 400 km lange Menschenkette von nördlichsten bis zum südlichsten Punkt der Insel.

In der Republik China auf Taiwan finden tagtäglich Massenkundgebungen zur moralischen Unterstützung der Landsleute auf dem Festland statt. Auf dem Platz vor der Chiang Kai-shek Gedenkhalle in Taipei enthüllen Studenten am 10. Juni eine orginalgetreue Nachbildung der Pekinger "Göttin der Demokratie", Studenten schreiben Trauer- und Protestplakate mit ihrem eigenen Blut. Die Regierung beschließt am 7. Juni einen Katalog von Maßnahmen, der unter anderem folgende drei Maßnahmen vorsieht: Wissenschaftlern und Studenten vom chinesischen Festland, die sich zur Zeit im Ausland aufhalten und unter den gegenwärtigen Umständen nicht in ihre Heimat zurückzukehren gedenken oder aber nicht zurückkehren können, wird ein Paß der Republik China auf Taiwan und finanzielle Unterstützung in Form von Stipendien gewährt; über das Rote Kreuz und andere private Organisationen soll den Verwundeten des Massakers vom 4. Juni Hilfe in Form von Medikamenten, medizinischem Pflegepersonal, Geld sowie Lebensmitteln geleistet werden; zur Überwindung der von Peking verhängten absoluten Nachrichtensperre werden mit dem 10. Juni bisher gesperrte Direkt-Telephonverbindungen zum chinesischen Festland der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, zudem wird Informationsmaterial aller Art mit Heißluftballons in Richtung Festland geschickt; die Rundfunkgesellschaften der Republik China strahlen verstärkt aufklärende Programme aus, die auch auf dem Festland empfangen werden können. Am 14. Juni wird auf Anordnung der Regierung landesweit zur Trauer um die Opfer des Tienanmen-Massakers auf halbmast geflaggt. Stimmen, die nach hartem Konfrontationskurs bis hin zu militärischem Eingreifen rufen, finden weder bei der Regierung noch bei der breiten Bevölkerung starken Widerhall. Nach jahrzehntelanger vollständiger Isolation zwischen den beiden Seiten der Taiwanstraße erscheinen den meisten Leuten hier die ersten Früchte der zaghaften inoffiziellen Annäherung zu kostbar als das man sie ersatzlos wieder fortwerfen sollte. Besonnenheit und pragmatisches Denken sind heutzutage an die Stelle des kalten Krieges getreten und bestimmen die Einstellung hierzulande.

Während man sich im Ausland noch den Kopf über angemessene Formen der Reaktion zerbricht und bemüht ist, den internationalen Frieden nicht in Gefahr zu bringen, gehen in Peking und anderen Städten auf dem Festland die Massenverhaftungen von sogenannten "Volksaufwieglern" weiter als seien die chinesischen Kommunisten bemüht, sich, nachdem das Volk sich gerade von der Kulturrevolution zu erholen schien, nun ein zweites Mal der gesamten intellektuellen Elite des Landes zu entledigen. Die internationalen Reaktionen sind nur ein Teil im Räderwerk der Entwicklung auf dem chinesischen Festland. Natürlich sind Erwägungen wie die von EG und Weltbank, Kredite und finanzielle Unterstützung für die chinesischen Kommunisten vorübergehend auszusetzen, ein nicht zu unterschätzendes Druckmittel. Schließlich mußte die Wirtschaft auf dem chinesischen Festland nach eigenen Angaben allein in den ersten zwei Monaten der Studentenbewegung einen Verlust von mehr als 270 Mill. US$ hinnehmen.

Hilfe für die Opfer - in ganz Taiwan wird Geld für die ärztliche Unterstützung der Tienanmen-Opfer zusammengetragen.

Auch die Tatsache, daß die sich auf der Flucht befindende Pekinger Studentenführerin Chai Ling von norwegischen Parlamentsabgeordneten für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, ist eine starke symbolische Geste.

Doch das letzte Wort werden die über eine Milliarde Chinesen haben, die auf dem chinesischen Festland die Konsequenzen einer jeden Politik der chinesischen Kommunisten zu tragen haben. Nun ist es an ihnen, wie Präsident Lee treffend formulierte, aus ihrem Traum zu erwachen, daß "Freiheit, Demokratie und Menschenwürde im Rahmen der 'Vier Prinzipien' der chinesischen Kommunisten zu erlangen" seien. Dem Hoffen darauf ist auf dem Tienanmen mit dem Blut friedlicher Bürger endgültig ein Ende bereitet worden.


Chronologie des Protests

18. April - Etliche Tausend Studenten marschieren vor der Morgendämmerung, demokratische Slogans rufend und Revolutionslieder singend durch die Hauptstadt und trauern um den abgesetzten, am 15. April verstorbenen Führer der Kommunistischen Partei, Hu Yaobang.
22. April - Sich dem Verbot des öffentlichen Protests widersetzend, versammeln sich mehr als 100 000 auf dem Tienanmen, um der Forderung nach mehr Demokratie verstärkt Ausdruck zu verleihen. Zig Tausend Studenten beginnen auf dem Platz zu campieren und durchkreuzen so die Pläne der Regierung, das Gebiet abzusperren.
24. April - Pekinger Studenten beginnen den Unterrichtsstreik.
29. April - Demonstranten marschieren, zum Gedenken an eine ähnliche Demonstration vor 70 Jahren, Banner schwingend durch die Straßen der Hauptstadt und fordern mehr Pressefreiheit und Demokratie. Dem Marsch folgt die Ablehnung der Regierung, die von den Studenten zur Lösung der Schwierigkeiten geforderten Gespräche zu führen. In Shanghai, Nanking und anderen Städten kommt es gleichfalls zu Demonstrationen.
2. Mai - Führer der inoffiziellen illegalen Studentengewerkschaft fahren mit dem Rad zu Regierungs- und Parteisitzen und fordern die Regierenden auf, mit ihnen zu sprechen oder Demonstrationen am 4. Mai in Kauf zu nehmen.
4. Mai - 70. Geburtstag der chinesisch-patriotischen Bewegung. Studenten marschieren zum Tienanmen. Die Menge wächst auf 100 000 an.
13. Mai - Erst 1 000, später 3 000 Studenten beginnen einen Hungerstreik auf dem Tienanmen.
14. Mai - Auf einem unangekündigten Treffen der Politbüromitglieder wird laut Berichten der gemäßtigte Kurs des kommunistischen Parteiführers Zhao Ziyang, der für Diskussionen mit den Studenten und begrenzte Schritte hin zu mehr Demokratie eintritt, gebilligt.
15. Mai - Michail S. Gorbatschow besucht Peking, um die Wiederversöhnung der beiden kommunistischen Staaten zu besiegeln. Die Begrüßungszeremonie muß vom Tienanmen zum Flughafen verlegt werden, da die Proteste auf dem Platz andauern.
19. Mai - Premierminister Li Peng warnt, daß sich das Chaos von Peking über das ganze Land verbreitet. Die Regierung kapituliert vor einer der Schlüsselforderungen der Studenten und arrangiert eine landesweit ausgestrahlte Fernsehdiskussion zwischen Li Peng und Führern der Protestbewegung.
20. Mai - Truppen marschieren in Peking ein, und über einen Teil der Stadt wird das Kriegsrecht verhängt.
Zehntausende verlassen ihre Häuser und blockieren die Straßen, um die Truppen daran zu hindern, die Studenten auf dem Tienanmen zu erreichen, die dort immer noch zu Zehntausenden lagern. Im Verlauf des selben Tages ziehen etwa eine Million Menschen durch die Straßen, um sich dem Kriegsrecht zu widersetzen.
Berichte zirkulieren, daß Zhao Ziyang sämtliche Macht genommen wurde und er nur seinen Titel als Generalsekretär der Partei behält.
21. Mai - Eine Million Menschen demonstrieren in Hongkong.
25. Mai - Li Peng erscheint zum ersten Mal nach der Einsetzung des Kriegsrechts in der Öffentlichkeit und erklärt, daß die Regierung die Situation unter Kontrolle habe. Die offiziellen Medien bezeichnen die Studenten als Konterrevolutionäre.
26. Mai - Westliche Diplomaten sagen, das Politbüro habe die Partei von Zhao und drei weiteren Reformern gesäubert.
27. Mai - Einige Studentenführer stimmen für die Beendigung ihrer Besetzung des Tienanmen, sagen jedoch, daß sie weiterhin Massendemonstrationen abhalten werden, um ihre Forderung nach mehr Demokratie und der Abdankung von Li Peng zu unterstützen. Sie rufen zur Demonstration am 28. Mai auf.
28. Mai - Erwartete Menge bleibt aus. Nur 50 000 erscheinen in Peking, 100 000 in Shanghai. In Hongkong nehmen zwischen 500 000 und 1,5 Mill. an einer Demonstration teil. Die Studenten stimmen dafür, die Proteste auf dem Tienanmen fortzusetzen, bis das Stehende Komitee der Kommunistischen Partei am 20. Juni zusammentrifft.
30. Mai - Studenten enthüllen die zehn Meter hohe Kopie der New Yorker Freiheitsstatue auf dem Tienanmen als "Göttin der Demokratie."
2. Juni - Unbewaffnete Truppen versuchen, auf den Platz zu marschieren, werden jedoch von etlichen Tausend Einwohnern daran gehindert.
3. Juni - Unbewaffnete Truppen marschieren wiederholt auf den Platz. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen wenige Meter vom Tienanmen entfernt, wo die Soldaten Tränengas einsetzen und dutzende Demonstranten zusammenschlagen, bevor sie sich zurückziehen.
4. Juni - Truppen und Panzer durchbrechen die Barrikaden und eröffnen das Feuer auf die Menschenmenge.
5. Juni - Der Tienanmen wird vom Militär geräumt. Die ersten Reaktionen ausländischer Regierungen werden veröffentlicht, der Präsident der Republik China, Lee, verurteilt in einer Pressekonferenz die "wahnsinnige Handlung".
6. Juni - Die ausländischen Botschaften in Peking bereiten sich auf die Massenevakuierung ihrer Landsleute vor. Die USA geben Sanktionen gegen das Kommunistische China bekannt.
7. Juni - Das staatliche kommunistische Fernsehen auf dem Festland zeigt Propagandamaterial über die Wiederherstellung von "Ruhe und Ordnung" auf dem Tienanmen sowie die "positiven Reaktionen der Bevölkerung" gegenüber der "Volksbefreiungs-Armee". Gleichzeitig werden von der Geheimpolizei Verhaftungen durchgeführt.
9. Juni - Das Rote Kreuz in Peking lehnt die Hilfsangebote des Roten Kreuzes der Republik China ab.
11. Juni - 400 Personen, überwiegend Studentenführer und Arbeiter, werden vor laufenden Kameras unter dem Vorwurf des Vandalismus verhaftet.
12. Juni - 189 neue Verhaftungen werden gemeldet. Die Regierung erläßt Haftbefehl gegen den Dissidenten Fang Lizhi, der als Aufrührer bezeichnet wird.
13. Juni - Fang Lizhi und seine Frau haben sich in die US-Botschaft in Peking geflüchtet, die Spannungen zwischen den chinesischen Kommunisten und der amerikanischen Regierung nehmen zu, da die Botschaft die Herausgabe Fangs verweigert.
14. Juni - Das festlandchinesische Fernsehen veröffentlicht eine Liste von 21 gesuchten Studentenführern mit deren Photographien und persönlichen Daten. Zwei US-Reporter werden wegen Verletzung des Kriegsrechts des Landes verwiesen.
15. Juni - Zwei der Studentenführer werden verhaftet. Festlands-Chinesen in aller Welt, Studenten wie Botschafts- und Konsulatsangestellte, bitten vor Ort um politisches Asyl.
16. Juni - In Peking werden die ersten drei Todesurteile im Zusammenhang mit der Demokratiebewegung verkündet.
17. Juni - Peking verweist zwei britische Reporter des Landes.
20. Juni - Mehr als 1 300 Verhaftungen seit dem militärischen Massaker an der Demokratiebewegung. Es wird befürchtet, daß der am 5. Juni von der Geheimpolizei verhaftete Studentenführer Wang Wei-lin heimlich hingerichtet worden ist, um ihn nicht durch einen öffentlichen Prozeß zum Märtyrer werden zu lassen.

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