02.05.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Gesellschaftliches Verhalten im Wandel

01.05.1989
Die "Traumfamilie" von heute ­- Eltern, Sohn und Tochter - wohnt in einem modernen Appartement.
Die chinesische Großfamilie, Jahrhunderte als Basis der chinesischen Gesellschaft unangetastet, erfährt gegenwärtig in Taiwan gewaltige Veränderungen, besonders in Hinblick auf neue kulturelle Einflüsse innerhalb der Gesellschaft und die industrielle und kommerzielle Entwicklung der großen urbanen Zentren. Aus diesem Umfeld ist ein neuer Familientyp hervorgegangen, welcher mit dem in den 50iger Jahren noch üblichen in vieler Hinsicht in scharfem Kontrast steht.

Im folgenden Artikel konzentriert sich Dr. Hsieh Kao-chiao(謝高橋), Professor für Soziologie der Staatlichen Chengchi Universität in Taipei, auf jene Veränderungen, die das Ausmaß der seit kurzem stattfindenden Veränderungen innerhalb der Familien am klarsten zum Ausdruck bringen. Diese Veränderungen haben eine verehrte Tradition herausgefordert, gewandelt und - in einigen Fällen - abgeschafft.

Die Einstellungen zu Liebe und Heirat, Kindern und Sozialisierung, Frauen und Arbeit, Altenversorgung und Verehrung der Ahnen unterliegen alle massiven Anpassungsvorgängen. Dr. Hsieh gibt einen Einblick in diese sich fortsetzenden Veränderungen und zeigt einige der daraus resultierenden Herausforderungen für Taiwans soziale Stabilität und Wohlbefinden auf.

Die traditionelle chinesische Familie war bekannt als eine ausgedehnte Familie, welche in der Regel drei Generationen umfaßte. Eine typische Großfamilie setzte sich aus einem Mann, seiner Frau, den Kindern, seinen Eltern, Onkeln, Brüdern, deren Frauen und Kindern und allen unverheirateten Mädchen zusammen. Auf diese Weise umfaßte ein einzelner Haushalt etliche Kleinfamilien. Die wichtigsten Bande innerhalb einer chinesischen Familie waren eher blutsverwandter denn von ehelicher Natur. Der Mann blieb, selbst nachdem er verheiratet war, im Haus seiner Eltern wohnen, doch die Frau mußte nach der Heirat ihre eigene Familie verlassen und wurde ein Mitglied der Familie ihres Ehemannes.

Tatsächlich gibt es in der chinesischen Gesellschaft verschiedene Familienformen wie beispielsweise die Ehe- oder Kleinfamilie, die Stammfamilie (drei Generationen: Kinder, Eltern, Großeltern) oder die sich aus vielen Kleinfamilien zusammensetzende Großfamilie. Während die Chinesen aus kulturellen Gründen eine Großfamilie als erstrebenswert erachteten, wurden sie regelmäßig durch Armut, Sterblichkeit und Mobilität daran gehindert.

Im zeitgenössischen Taiwan trifft man nur noch verhältnismäßig selten auf eine dieser Großfamilien, was auf den anhaltenden Modernisierungsprozeß zurückzuführen ist. Der Einfluß dieser Entwicklung auf die örtlichen Familien wurde von Jahr zu Jahr größer und schuf enorme Probleme, als die Bevölkerung versuchte, sich den neuen Realitäten anzupassen. Da die Großfamilie einzelnen Kleinfamilien Platz machte, konnte nicht ausbleiben, daß es zu gewaltigen Veränderungen bezüglich der Funktionsweise einer Familie als Einheit kam - die Tradition scheint hierbei fast vergessen.

Liebe und Heirat
In der konfuzianischen Doktrin ist Heirat die Vereinigung von zwei verschiedenen Nachnamen, ein Anlaß zu dem den Vorfahren im Tempel gehuldigt wird und der den Fortbestand der Familie gewährleistet. Traditionell ist Heirat nicht nur die bloße Vereinigung von Mann und Frau, sondern eine Grundvoraussetzung für das ausgedehnte Familiensystem. Aufgrunddessen war die Wahl der Ehepartnerin entscheidend für sämtliche Familienmitglieder, da die ausgewählte Partnerin die Macht hatte, entweder zum Wohlergehen der Familie beizutragen oder innerhalb der Familie Uneinigkeit zu schaffen. Die Heirat konnte daher nicht nur dem voraussichtlichen Paar überlassen werden, sondern war für den gesamten Haushalt von größter Wichtigkeit.

Nach diesem Denkmuster war Heirat nicht als eine Beziehung zur persönlichen Freude des Paares gedacht, sondern als ein Vertrag an dem auch Vor- und Nachfahren beteiligt waren. Es ist klar, daß die Gefühle der Liebe schnell zum tödlichen Feind der kindlichen Pietät werden konnten. Romantische Liebe war für das Familienleben im höchsten Grade destruktiv. Um die Stabilität der Familie nicht durch Emotionen zu gefährden, wurden Jungen und Mädchen in der Ausbildung und auf anderen Gebieten von den Pubertät bis zur Heirat getrennt aufgezogen. Heirat und die darin eingeschlossene Brautwerbung wurde von den Eltern arrangiert. Wenn sich in vergangenen Zeiten ein Paar allein in der Öffentlichkeit zeigte, wurde dies als Zeichen gewertet, daß es sich entweder um ein verlobtes oder ein schon verheiratetes Paar handelte.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten als die elterliche Macht nachließ und sich die Stellung der jungen Leute innerhalb der Familie verbesserte, wurden die westlichen Ideen von der Gleichheit der Geschlechter und romantischer Liebe in die Gesellschaft eingeführt. Die Zeichen der Veränderung sind seit mehr als zwei Jahrzehnten klar zu sehen. Beispielsweise zeigt eine 1961 gemachte Studie über die Haltung der Studenten hinsichtlich Heirat und Familie, daß 92 Prozent der Studenten eine Heirat aus Liebe bevorzugten und bei 87 Prozent gemischte gesellschaftliche Treffen Anklang fanden - eine beträchtliche Änderung der Standpunkte von nur einer Generation zur nächsten. Heute wird eine arrangierte Heirat nur noch von einer kleinen Gruppe bevorzugt.

Obgleich eine Liebesheirat den Platz der arrangierten Heirat als dominierende Praxis in Taiwan eingenommen hat, stößt dieser Trend noch immer auf die Opposition von mehr traditionsgebundenen Eltern. Die Sehnsucht der Jugend nach Romantik übt einen ernsthaft störenden Einfluß auf die Großfamilie aus. Auch das Heiratsalter hat sich verändert. Traditionsgemäß heirateten Chinesen recht jung, um auf diese Weise der Familie einen Sohn zu sichern. Heute jedoch wird Heirat in Taiwan auf ein viel späteres Datum aufgeschoben. In dieser sich verändernden Situation wird von den jungen Leuten oft erwartet, mit Konflikten umzugehen, in denen es zwei oft nicht zu vereinbarende Erwartungshaltungen gibt: zum einen die romantische Heirat und zum anderen die vorgeschriebene kindliche Pietät.

Das Familienleben wurde gezwungen, sich den charakteristischen Merkmalen des Umfelds anzupassen. Zwei der gebräuchlichsten Alternativen zur traditionellen Hochzeit sind: (1) Eine Heirat, vom Sohn, der Tochter oder den Eltern in die Wege geleitet, der sowohl Kinder als auch Eltern zustimmen sollten. Die Mehrheit der Familien auf Taiwan bevorzugt dieses Schema. Da sich die Jugendlichen eher an neuen Ideen und der Modernisierung der Gesellschaft orientieren und die Eltern dazu tendieren, auf den traditionellen Regeln zu bestehen, kommt es zwischen den beiden Generationen häufig zu Konflikten. Gewöhnlich ist es für Kinder und Eltern schwer, hinsichtlich des erstrebenswerten Partners völlig einer Meinung zu sein, doch lenken die Eltern häufiger als die Kinder ein. (2) "Chi-ti" (集體, Gruppenheirat etlicher Paare zur selben Zeit) und "Kung-chen" (公證, notarisch-öffentliche Hochzeit) sind die am häufigsten gewählten Formen von Paaren einer Liebesheirat. Die eigentliche Hochzeitszeremonie bedarf nur einer einfachen gerichtlichen Handlung. Paare, die sich für diese Hochzeitsfeier entscheiden, tun dies meist, um die Kosten gering zu halten und nicht durch die horrenden Summen, die eine traditionelle Hochzeit verschlingt, der finanziellen Kontrolle der Eltern ausgesetzt zu sein, welche die Kosten zu tragen hätten.

Doch der Wandel in der Sozialstruktur reicht gegenwärtig weit über die Brautwerbung und sonstige Hochzeitsangelegenheiten des Paares hinaus. Radikale Veränderungen in der Beziehung zwischen Mann und Frau sind ebenfalls in der gegenwärtigen Gesellschaft ein Zeichen der Zeit. Traditionell existierte keine genaue legale Definition über den Status einer ehelichen Beziehung in der chinesischen Gesellschaft. Doch war es Brauch, daß die Frau unter der Aufsicht ihres Mannes stand und während beider Lebzeiten konnte sie, obgleich sie den Rang und die Ehren ihres Mannes teilte, wenig ohne seine Einwilligung unternehmen. Von ihr wurde stets Gehorsam verlangt.

Kürzliche Untersuchungen ergaben, daß heute die Beziehung zwischen Ehemann und Frau nicht länger vom Mann beherrscht wird. Die Frauen nehmen beim Fällen von Entscheidungen Anteil. Doch die Entscheidungsgewalten von Mann und Frau teilen sich auf die unterschiedlichen Familienangelegenheiten auf. In Taiwan gemachte Studien ergaben, daß der Mann bei der Berufswahl mehr Entscheidungsgewalt besitzt, die Frau jedoch im Haushalt und bei der Hausarbeit eher das Sagen hat; Entscheidungen jedoch welche die Familie betreffen, werden heute gemeinsam gefällt. Dies gilt besonders für das Haus oder die Wohnung betreffende Probleme und die Frage, zu welchem Zeitpunkt und wieviele Kinder gewünscht sind, ferner für deren Erziehung relevante Entscheidungen. Im Ganzen ist ein Trend hin zu mehr Gleichberechtigung im Familienleben zu verzeichnen.

Eine von sechs Ehen wird heute geschieden; eine steigende Scheidungsrate und eine veränderte Einstellung zur Scheidung an sich, deuten auf einen weiteren entscheidenden Trend. Es ist noch nicht lange her, als kein institutionalisierter Prozeß existierte, durch den eine Frau eine Scheidung erreichen konnte. Solch eine Entscheidung blieb das Vorrecht des Mannes und eine geschiedene Frau wurde in der Gesellschaft als entehrt betrachtet. Die ehemals sieben Rechtfertigungsgründe für eine Scheidung beschränkten sich ohne Ausnahme auf die Sichtweise des Mannes. Heute können Frauen die Scheidung einreichen, welche bei gegenseitigem Einverständnis anerkannt wird.

Vor dem Gesetz rechtfertigen heute folgende Gründe eine Scheidung: Bigamie, Ehebruch - gleich um welchen Ehepartner es sich handelt, Grausamkeit seitens der Eltern des Ehemanns gegenüber der Frau, Grausamkeit seitens des Ehemannes gegenüber der Frau, böswilliges Verlassen, die Absicht eines Ehepartners den anderen zu töten, unheilbare Krankheit, Geisteskrankheit, Kontaktverlust gleich welchen Ehepartners seit mehr als drei Jahren, Gefängnisstrafen von drei oder mehr Jahren, und Verurteilung aufgrund von üblen Vergehen. Die den Frauen durch das Gesetz gegebenen Rechte schränken die Dominanz der Männer ein und sorgen für wesentliche Veränderungen in der Beziehung zwischen Frau und Mann.

Eine steigende Scheidungsrate dürfte zum Teil auf die jetzt gleichen Rechte der Frau, die Scheidung einzureichen, zurückzuführen sein. Zusätzlich ließ sich eine erhöhte Scheidungsquote, nach den vom Autor 1985 gemachten Untersuchungen über den Zusammenhang von Scheidungsrate und berufstätigen Frauen, vor allem bei im Handel, in den ersten Ehejahren oder bei jüngeren in der Stadt arbeitenden Frauen nachweisen. In Kürze, die eheliche Beziehung mußte mit Anpassungsschwierigkeiten hinsichtlich der Veränderung der Familienstruktur, wie auch Taiwans genereller sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung fertig werden.

Kinder und Sozialisierung
Was die Fortpflanzung anbetrifft, so wird seit langem angenommen, daß "ein chinesischer Mann eine Frau nimmt, um Kinder zu haben." Daher war es einem Mann zu jeder Zeit erlaubt, viele Frauen zu haben, um auf diese Weise die Gefahr ohne Sohn zu sein zu verringern. Da die traditionelle chinesische Kultur von einer die Großfamilie ermutigenden Ethik dominiert wurde, schufen die Grundsätze von Sitte und Moral eine feste Verpflichtung, den Fortbestand der Familie aufrechtzuerhalten. Dies nährte den mächtigen Anreiz, Kinder in die Welt zu setzen.

Doch wurden die traditionellen auf Fortpflanzung ausgerichteten Werte in den letzten Jahrzehnten durch sozioökonomische Entwicklungen und durch die Familienplanungspolitik der Regierung beeinflußt. Die Regierung setzte Slogans wie: "Zwei Kinder sind genau richtig - aber eines auch" und "Eine Tochter ist so gut wie ein Sohn" in Umlauf. Durch diese wurde die seit Jahrtausenden geehrte Vorstellung von "Je mehr Söhne, desto mehr Glück" ersetzt. Um sich der neuen durch Urbanisierung und Industrialisierung ausgezeichneten Umwelt anzupassen, reagierte die Bevölkerung sehr sensibel auf die Kampagne der Familienplanung und änderte ihr Fortpflanzungsverhalten.

Beispielsweise ist die Zahl der Kinder pro Mutter in Taiwan stetig gefallen. Vor mehr als dreißig Jahren hatte jede gebärende Frau im Schnitt fünf Kinder, heute sind es durchschnittlich weniger als zwei. Die Folge ist, daß heute Kleinfamilien an die Stelle der ehemals vorherrschenden Großfamilie getreten sind.

Im Verlauf der immer kleiner werdenden Familien hat sich auch die Erziehung der Kinder entscheidend verändert. In der Vergangenheit war Betreuung und Erziehung der Kinder im wesentlichen Aufgabe der Familie. Doch diese Funktion wurde durch die in der Großfamilie auftretenden Veränderungen unterbrochen. Beispielsweise leben Großeltern und andere Familienmitglieder nicht länger mit Eltern und Kindern zusammen, die Ehepaare haben weniger Kinder und gewöhnlich arbeiten sowohl der Mann als auch die Frau außer Haus. Die Großfamilie war bezüglich der Sozialisierung der Kinder "arbeitsintensiv", doch kleine Familiengrößen haben die traditionelle Kindererziehung praktisch unmöglich gemacht.

Auch die Freizeitgestaltung spielt sich zunehmend im Rahmen der Kleinfamilie ab.

Zu den sich heute am häufigsten bietenden Alternativen Kinder aufzuziehen zählt, daß die Frau ihren Job aufgibt und sich Kindern und Haushalt widmet, oder daß die alten Eltern (für eine Zeitlang) bei der Familie leben, um für die Kinder zu sorgen. Weitere Möglichkeiten bieten Kinderhorte, Kindergärten und Vorschulen oder die zeitweise Unterbringung der Kinder bei einer anderen Familie. Die beiden letztgenannten Punkte zeichnen sich als die am häufigsten genutzten Alternativen ab. Diese neuen Strukturen änderten den Sozialisierungsprozeß der Familien auf Taiwan insofern, als daß die Aufgaben der Kindererziehung in zunehmenden Maße darauf spezialisierten Einrichtungen überlassen wird.

Der Wandel der Sozialstrukturen hat beträchtlichen Einfluß auf die traditionelle Eltern-Kind Beziehung. In früheren Zeiten fiel den Eltern bei der Erziehung der Kinder eine wichtige Rolle zu, und unter der machtvollen elterlichen Autorität war die Beziehung zwischen Vater und Kindern nicht durch Liebe sondern durch Respekt, Ehrfurcht und Angst charakterisiert. In dieser Familienstruktur verhielten sich Kinder eher gehorsam als unabhängig. Aufgrund der in der Großfamilie stattgefundenen Veränderungen ist die elterliche Autorität bei der Erziehung der Kinder heute weniger streng. Eine 1986 gemachte Studie sagt aus, daß die Mehrheit der befragten Eltern zwar eine beträchtliche Kontrolle über die Erziehung ihrer Kinder bevorzugt, diese jedoch sehr rational ausüben; die meisten von ihnen stimmen also weder mit einem freien noch einem streng disziplinierten Ansatz zur Sozialisierung der Kinder überein. .

Frauen und Arbeit
Traditionell hatte die Frau einen wesentlich niedrigeren Status als der Mann; ihre Position wurde in einem Familiensprichwort wie folgt definiert: "In ihrem Elternhaus gehorcht sie ihrem Vater, nach der Heirat ihrem Mann, nach dessem Tod, ihrem Sohn." Die Lebensaufgabe einer Frau bestand darin, ihren Eltern oder Schwiegereltern zu dienen, ihrem Mann zu gefallen und den Kindern eine aufopfernde Mutter zu sein. Junge Mädchen wurde gelehrt, ihrer Mutter bei der Hausarbeit zu helfen und sie wurden angewiesen, eine gehorsame Ehefrau und untergebene Schwiegertochter zu sein. Die hauptsächliche Beschäftigung der Frau war die Hausarbeit, eingeschlossen Kinderbetreuung, Näharbeit und Zubereitung des Opfers für verschiedene religiöse Handlungen. Eine schulische Ausbildung war für ein Mädchen unnötig, da solch eine Erziehung in China darauf ausgerichtet war, Männer für den öffentlichen Dienst vorzubereiten, und solche Positionen Frauen nicht zur Verfügung standen.

Der hauptsächliche Grund für den geringeren Status einer Frau lag an deren finanziellen Entbehrungen. Da die Welt der Frau der häusliche Besitz war, gehörte ihr Leben völlig dem Haushalt und der Kinderbetreuung. Nur selten verdienten Frauen Geld, und wenn sie durch Hausarbeit über etwas Einkommen verfugten, wanderte dies gewöhnlich in die Taschen des Mannes oder des Schwiegervaters, welche es ganz nach ihrem Willen veräußern konnten.

Dank der Möglichkeiten, die die Modernisierung brachte, änderte sich der Status der Frau in Taiwan. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die neuen, für Frauen geöffneten schulischen und beruflichen Möglichkeiten. Seit den letzten Jahrzehnten genießen Männer und Frauen im wesentlichen die gleichen schulischen Möglichkeiten. Die Statistik zeigt, daß während der letzten Jahrzehnte der Anteil der Frauen auf den verschiedenen Erziehungsniveaus schneller gestiegen ist als der der Männer. Dies gilt besonders für den Universitätsanteil der Frauen, was verdeutlicht, daß Männer und Frauen nicht nur die gleiche Erziehung genießen, sondern daß auch in der Berufswelt ein Wandel stattgefunden hat und den Frauen Positionen in der Gesellschaft geöffnet wurden.

Das Alter
Vielleicht geht eine der besorgniserregensten Veränderungen innerhalb der Familie bei der Versorgung der Älteren vor sich. Seit Jahrtausenden wurden Status und Autorität in der chinesischen Familie durch Verehrung des Alters gestärkt, wodurch der Respekt und Gehorsam der jüngeren gegenüber den älteren Familienmitgliedern geweckt wurde. Alter wurde mit Weisheit assoziiert und die Älteren hatten gegenüber ihrer Familie und der Gesellschaft einen bedeutenden Beitrag zu leisten. In einer Agrargesellschaft steuert die persönliche Erfahrung viel zu der Quelle des persönlichen Wissens und dem Prestige bei. Daher bildete die den Alten dargebrachte Wertschätzung die Grundlage ihres Status und ihrer Autorität und verpflichtete die jüngeren Mitglieder dazu, deren Status und deren damit verbundene Verantwortlichkeit gegenüber der Familie zu akzeptieren. Auf diese Weise trugen die auf das Alter zurückzuführenden Unterschiede zur Stabilisierung des traditionellen Familiensystems bei.

Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, besonders die zwischen Vater und Sohn war eine typische durch Alter und Autorität geprägte Beziehung. Die Verpflichtung der Kinder den Eltern gegenüber war größer als die der Eltern den Kindern gegenüber. Von Kindern wurde erwartet, daß sie die Anordnungen der Eltern befolgten. Der Vater als der Kopf der Familie hatte das Recht, die Besitztümer der Familie zu verwalten und die Verpflichtung Kinder aufzuziehen und zu erziehen. Ein entscheidendes Merkmal jeder chinesischen Familie war, daß die Kinder ihren Eltern respektvoll und gehorsam gegenübertreten mußten.

Die Zeiten haben die Einstellung gegenüber den Älteren gewandelt. Beispielsweise ändert sich die Natur der elterlichen Kontrolle, wahrscheinlich verlagert sie sich von einer dominierenden Beziehung hin zu einer eher gemäßigten Kraftausübung. Während Kinder gewöhnlich die Bestimmungen der Eltern befolgen, beugen sie sich wohl weniger blindlinks der elterlichen Autorität. Tatsächlich haben die Eltern im großen und ganzen ihre zwingende Macht verloren und stehen ihren Kindern, wenn von diesen herausgefordert, machtlos gegenüber, besonders wenn die Kinder bereits erwachsen sind.

Nichtsdestotrotz belegt eine 1988 gemachte Studie über die in Taipei Stadt und Land lebenden älteren Bewohner, daß 50 Prozent der Senioren zusammen mit ihren Kindern und Enkelkindern leben, 24 Prozent mit Ehepartner und Kindern, 11 Prozent mit Ehepartner und 9 Prozent allein leben. Mit anderen Worten leben Dreiviertel der über 65jährigen in Taipei mit ihren Kindern zusammen, nur ein Zehntel lebt allein. Im Verhältnis zu den drei Zehnteln, die in modernen Industrienationen mit ihren Kindern zusammenleben, scheinen die betagten Eltern in Taiwan unter glücklicheren Umständen zu leben, obwohl diese durch den Verlust ihrer traditionellen elterlichen Macht getrübt sein dürften.

Moderne Erziehung scheint in vielem die Ursache für den Rückgang der parentalen Autorität zu sein. Eine formale Schulausbildung hat den Status der Jugendlichen gehoben und zunehmend mehr Bedeutung bei der Sozialisierung der Kinder gewonnen. Durch den Erwerb neuen Wissens, Fertigkeiten und Ideen ist die Jugend selbstständiger geworden, hat ein besseres Urteilsvermögen und stellt viele Dinge zunehmend mehr in Frage - Qualitäten welche ursprünglich nur durch Erfahrung und Alter angeeignet werden konnten. Als ein Ergebnis der modernen Erziehung ist die junge Generation besser als die Älteren darauf vorbereitet, sich der modernen Gesellschaft anzupassen. Insbesondere haben ältere Männer nach und nach ihren Status in der Welt außerhalb ihrer Familie verloren, da ihr Wissen und ihre Fähigkeiten überholt sind. Sie sind nicht länger für den beruflichen Werdegang der Familienmitglieder verantwortlich. Moderne Erziehung und Arbeitsmöglichkeiten haben ein wichtiges Prinzip des chinesischen Familienlebens erschüttert: die Überlegenheit der älteren Generation über die Jugend. Dies läßt sich auch in bezug auf die Vorfahren anwenden.

Ahnenverehrung
Ahnenverehrung war ein hervorstechendes Merkmal des traditionellen chinesischen Familiensystems. Sie wurde in China nicht aus abergläubischen oder religiösen Gründen aufrecht erhalten, sondern vielmehr aus Respekt und Gehorsam gegenüber den verstorbenen Eltern und in geringerem Maß wegen nicht so nahestehenden Verwandten. Diese Einrichtung liegt im Herzen des traditionellen Familienlebens. Der Mangel solcher Ahnenverehrung beeinflußt den Zusammenhalt der Generationen und die Geschlossenheit einer Großfamilie.

Ein besorgniserregender Trend - Ahnenverehrung und der Schrein für die Vorfahren verlieren ihre traditionelle Bedeutung.

Die Chinesen haben lange daran geglaubt, daß ein Mensch nicht sterben würde, wenn er einen guten Namen und einen guten Eindruck in der Erinnerung seiner lebenden Kinder hinterließe. Dieser Glaube nährte den Wunsch nach vielen Kindern und trug zu einer hohen Geburtenrate bei. Kinder dienten als Medium, durch welches man nach dem Tod in Erinnerung blieb. Besondere Bedeutung wurde dem männlichen Nachwuchs beigemessen, da die Ahnenverehrung der väterlichen Linie folgte. Hatte eine Familie keinen männlichen Nachkommen, staute sich Unsicherheit und Angst. Kindern wurde früh von Eltern und Älteren gelehrt, daß sie verantwortlich seien, den Vorfahren zu dienen und das Familiengeschlecht fortzusetzen. Es wurde vorausgesetzt, daß das Kind auf diese Art und Weise erzogen würde, um so die elterliche Macht zu stärken.

Der während der Ahnenverehrung erwiesene Respekt war dazu bestimmt, Schutz und Wohlstand zu erlangen und dem Übel vorzubeugen, was eine Vernachlässigung der Riten heraufbeschwören könnte. Wer die Ahnenverehrung dennoch vernachlässigte und den Ruf der Familie schädigte, beleidigte nicht nur die Vorfahren, sondern würde seinerseits nach dem Tod auch nicht verehrt werden. Zu Lebzeiten der Vorfahren angesammelte Verdienste beeinflussen das Schicksal der Nachkommen und die Erfolge der Nachkommen bezeugen die Tugend der Vorfahren.

Die Riten der Ahnenverehrung dienen den Bedürfnissen der Vorfahren wie auch der Sicherheit und dem Wohlstand der Lebenden. Aufgrund der Auflösung der Familie in einzelne Kleinfamilien wird von den Brüdern im allgemeinen im Haus des ältesten Bruders eine "Ahnenhalle" zur Verehrung eingerichtet, welche ein bleibendes Andenken darstellt, daß die Familienmitglieder einen gemeinsamen Vorfahren haben und zur Geschlossenheit der Familie beiträgt.

Die Funktionen der Ahnenverehrung wurden herausgefordert, als sich die Kleinfamilie in Taiwan durchsetzte. Eine 1977 in Taiwan gemachte Studie über die Funktionen von Heirat und Familie an einem Beispiel von 1 048 Personen zeigt, daß sich die Prioritäten bereits entscheidend verlagert hatten: 49 Prozent der Befragten gaben als Zweck und Ziel einer Ehe persönliches Glück an, 28 Prozent die Gründung einer Familie, 18 Prozent den Fortbestand der Familie durch Zeugen eines männlichen Erben und 3 Prozent beabsichtigten durch Söhne ihre Altersversorgung zu sichern. Ferner belegte diese Studie, daß unter Befragten mit höherer Bildung persönliches Glück an erster Stelle stand. Dieser Trend hat sich fortgesetzt.

Es sollte hinzugefügt werden, daß die modernen Häuser und Städte nicht so entworfen sind, daß sie den Bedürfnissen der Ahnenverehrung und der Riten gerecht werden würden. Kleine Appartements erzwangen die Zersplitterung der Familie über verschiedene Stadtteile und oft ist es nicht praktisch, für einen Ahnenaltar extra Platz zu schaffen. Daher haben sowohl Wandel in der Familienstruktur als auch im Wohnumfeld die Funktionen der Ahnenverehrung, als Mittel der sozialen Kontrolle über die Jugend, beschnitten.

Schlußfolgerung
Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels wich man auf Taiwan im Familienleben von der traditionell blutsverwandten Großfamilie ab. Der Anteil der Kleinfamilien auf Taiwan ist groß, ein Viertel davon sind Stammfamilien und die Großfamilie hat im Wesentlichen ihre Bedeutung eingebüßt. Die für diesen Wandel zuständigen Faktoren können nicht nur mit Urbanisierung und Industrialisierung erklärt werden, sondern müssen auch unter Berücksichtigung der kulturellen Ideologie - neuem Verhalten bezüglich Egalitarismus, Individualismus, Demokratie und persönlicher Leistung gesehen werden. Durch schnelle Verbreitung des Wissens ist die Bevölkerung Taiwan nicht länger mit dem Status quo einverstanden und sucht nach neuen Sozialstrukturen, um sich auf die Veränderungen einzustellen.

So wie die Großfamilie der anpassungsfähigeren Kleinfamilie Platz machte, folgten weitere Veränderungen vom Übergang einer agrarwirtschaftlich-ländlichen in eine industrialisierte-städtische Gesellschaft. Die Familie im städtischen Taiwan ist, im Gegensatz zu ihrem traditionellen Vorgänger, in ihren grundlegenden sozialen Aufgaben mehr beschränkt. Während viele der älteren Familienfunktionen weiterhin existieren, so änderte sich ihr Umfang und ihre Relevanz.

Die Familie in Taiwan ist nicht länger eine autarke Wirtschafts- und Produktionsgemeinschaft, sondern gewann als Konsumenteneinheit zunehmend an Bedeutung. Diese Veränderung ist es, die in der Großfamilie für die meiste Unruhe sorgte. Nicht nur, daß Arbeitsplatz und berufliches Tätigungsfeld jetzt außer Haus liegen, die Familie überläßt auch andere Funktionen spezialisierten Gesellschaftseinrichtungen und gibt dabei ihre hauptsächliche Verantwortung für Erziehung und religiöse Angelegenheiten auf.

Während die Familie in Taiwan bereits viele ihrer traditionellen chinesischen Merkmale verloren hat und in vielem Gesichtszüge einer westlichen Familie aufweist, bleibt die weitere Entwicklung des Wandlungsprozesses abzuwarten. Was auch immer geschieht, es ist zu erwarten, daß die örtlichen Familien durch einen ausgewählten Integrationsprozeß gehen müssen, der alle Resourcen - gleich ob neu oder alt, national oder ausländisch, Ost oder West - mit einbezieht, um mit gleichem Schwung land Ausmaß die Modernisierung fortzusetzen.

(Deutsch von Gesine Arnemann)

Meistgelesen

Aktuell